C. Henrich-Franke: Gescheiterte Integration im Vergleich

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Titel
Gescheiterte Integration im Vergleich. Der Verkehr – ein Problemsektor gemeinsamer Rechtsetzung im Deutschen Reich (1871–1879) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958–1972)


Autor(en)
Henrich-Franke, Christian
Reihe
Studien zur Geschichte der Europäischen Integration 14
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Reinfeldt, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Um die Geschichte der europäischen Integration in ihrem allgemeingeschichtlichen Kontext angemessen erfassen zu können, ist es unerlässlich, sich mit der historischen Tiefendimension des Integrationsprozesses auseinanderzusetzen. Hierauf wurde in der historischen Forschung zuletzt mehrfach hingewiesen.1 Idealtypisch lassen sich verschiedene Ansätze einer solchen historischen Kontextualisierung des europäischen Integrationsprozesses insgesamt bzw. einzelner Aspekte der europäischen Integration bestimmen: zum einen die vor die vermeintliche Zäsur des Jahres 1945 zurückreichende Betrachtung europäischer Integrationstendenzen, die sich auch jenseits rein ideengeschichtlicher Kontinuitäten und Traditionsbestände zumindest bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen und vor deren Hintergrund der supranationale europäische Integrationsprozess im 20. Jahrhundert zu verstehen ist, ohne dass damit eine lineare Entwicklung hin zur EG/EU postuliert wäre2; zum anderen ein diachroner Vergleich von Integrationsphänomenen, der die Geschichte der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg in Beziehung setzt zur internationalen Geschichte früherer Epochen und damit zugleich die These von der Inkomparabilität der EG/EU als einer Ordnung sui generis mit anderen internationalen oder auch nationalen politischen Systemen methodisch-konzeptionell wie inhaltlich infrage stellt.

Diesen letzteren Ansatz verfolgt Christian Henrich-Franke in seiner vergleichenden Untersuchung der Verkehrspolitiken im Deutschen Reich und in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zwischen 1871 und 1879 bzw. 1955 und 1972, die Henrich-Franke als „geschlossene verkehrspolitische Epochen“ (S. 33) zwischen der jeweiligen Errichtung gemeinsamer politischer Strukturen und dem jeweiligen Scheitern der Bemühungen um die Formulierung gemeinsamer Verkehrspolitiken bezeichnet. Henrich-Franke erhebt mit seiner Untersuchung den Anspruch, einen Beitrag zu drei Forschungsfeldern zu leisten: zur politikwissenschaftlichen vergleichenden EU-Forschung, zur historischen Integrationsforschung sowie zur historischen Forschung zum Bismarckreich. Die Quellengrundlage der Untersuchung ist umfassend und reicht von unveröffentlichten staatlichen Quellen aus deutschen, niederländischen und britischen Archiven bzw. den Archiven der EG/EU über Schriften beteiligter Politiker bzw. Funktionäre bis hin zu einschlägigen zeitgenössischen Veröffentlichungen. In seinen grundlegenden Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Deutschem Reich und EWG betont Henrich-Franke insbesondere im Bereich des Verkehrs eine große Ähnlichkeit der beiden politischen Systeme – bis hin zum Scheitern gemeinsamer Verkehrspolitiken in der Gründungsphase des Deutschen Reiches und der EWG. Henrich-Frankes Erkenntnisinteresse liegt darin, die strukturellen, prozessualen und inhaltlichen Ursachen herauszuarbeiten, aus denen sowohl im Deutschen Reich als auch in der EWG die Formulierung gemeinsamer Verkehrspolitiken misslang, und die Frage zu beantworten, ob sich dieses Scheitern in beiden Fällen auf vergleichbare oder aber unterschiedliche Ursachen zurückführen lässt. Dabei ist sich Henrich-Franke dem besonderen Problem diachroner Vergleiche, „analoge Strukturen angemessen zu erfassen, ohne dabei die Spezifika zu stark zu reduzieren“ (S. 39), vollauf bewusst und wendet sich ausdrücklich gegen eine kontextunabhängige Verabsolutierung historischer Kausalitäten.

Zunächst entwickelt Henrich-Franke in Anlehnung an politikwissenschaftliche Mehrebenenansätze und unter Aneignung des Indikatorenmodells von Edgar Grande das analytische Instrumentarium für seinen Vergleich der politischen Strukturen, insbesondere der verkehrspolitischen Strukturen im Deutschen Reich und in der EWG hinsichtlich der jeweiligen Kompetenzverteilung und Entscheidungsprozesse. Insbesondere in der nicht-hierarchischen Ordnung der Handlungsebenen und in der Herausbildung eines spezifischen Verhandlungssystems zwischen den verflochtenen Ebenen und Organen der Reichs- bzw. Gemeinschaftsebene und der teil- bzw. mitgliedstaatlichen Ebene erkennt Henrich-Franke ähnliche politische bzw. verkehrspolitische Strukturen der Mehrebenensysteme Deutsches Reich und EWG. Darauf aufbauend erörtert Henrich-Franke die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Entwicklung gemeinsamer Verkehrspolitiken im Deutschen Reich und in der EWG, bevor er im eigentlichen Hauptteil der Untersuchung am Beispiel der Ordnungspolitiken (hier Tarifpolitiken und Koordinations-/Kapazitätspolitiken) die verkehrspolitischen Entwicklungen im Deutschen Reich bzw. in der EWG und die Entscheidungsprozesse im Hinblick auf das letztendliche Scheitern der gemeinsamen Verkehrspolitiken eingehend analysiert.

Henrich-Franke untersucht für das Deutsche Reich neben der Reichsebene insbesondere die Königreiche Preußen und Bayern, punktuell auch Württemberg und Sachsen; für die EWG neben der Gemeinschaftsebene insbesondere die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande. Neben der inhaltlichen Relevanz benennt Henrich-Franke als Auswahlkriterium vor allem die Gegensätzlichkeit der verkehrspolitischen Konzeptionen in diesen Staaten. Das kann an sich überzeugen. Gleichwohl erscheint es gerade angesichts des staatenübergreifenden Charakters der europäischen Integration lohnenswert, die Befunde des von Henrich-Franke angestellten Vergleiches der Bemühungen um gemeinsame Verkehrspolitiken mit nationalen Regelungsbemühungen in weiteren europäischen Staaten, beispielsweise in Italien, während des 19. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen. Hier bietet sich ein Anknüpfungspunkt für weitere vergleichend angelegte Untersuchungen im Sinne einer von Henrich-Franke postulierten zukünftigen „historisch vergleichenden Integrationsforschung“ (S. 400).

Im Ergebnis findet Henrich-Franke zahlreiche gemeinsame Ursachen – vor allem in struktureller und prozessualer Hinsicht – für das Scheitern der gemeinsamen Verkehrspolitiken: das (faktische) Vetorecht der Bundes- bzw. Mitgliedstaaten im Bundes- bzw. Ministerrat; die Trennung von Initiativ- und Entscheidungsorganen, wobei insbesondere im Falle der EWG die beim Gemeinschaftsorgan Kommission liegende Initiativverantwortung nach Ansicht Henrich-Frankes zu einer Überbetonung von Gemeinschaftsinteressen gegenüber den Positionen der Mitgliedstaaten geführt hat, welche letztlich aber Träger der Entscheidungsgewalt blieben; die Verflechtung der Entscheidungsebenen in Verbindung mit der Vielzahl beteiligter Akteure und widerstreitender Interessen; das einstweilige Fortbestehen (national-)staatlich-intergouvernemental geprägter Entscheidungsstrukturen und Interaktionsmuster in den Teil- bzw. Mitgliedstaaten; die weitgehende Isolation des Politikbereichs Verkehr und damit verbunden die eingeschränkte Möglichkeit und auch Bereitschaft der beteiligten Akteure, Paketlösungen zu finden; vage Vorgaben in der Reichsverfassung bzw. im EWG-Vertrag, die entsprechend Raum für unterschiedliche verkehrspolitische Interpretationen ließen. Damit einhergehend traten auch immer wieder Kompetenzkonflikte zwischen den beteiligten Organen und Akteuren zutage, die den Rechtsetzungsprozess nachhaltig behinderten. Die Bemühungen der Reichsregierung bzw. der Gemeinschaftsorgane, ihren jeweiligen Machtbereich auszuweiten, waren es auch, die maßgeblich zum Scheitern einer gemeinsamen Verkehrspolitik beigetragen haben.

Henrich-Franke benennt auch die festzustellenden Unterschiede zwischen den Vergleichsfällen Deutsches Reich und EWG. Die meisten Unterschiede finden sich demnach auf der inhaltlichen Ebene, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, dass – wie Henrich-Franke an anderer Stelle seiner Analyse treffend bemerkt – „politische Inhalte sich im 19. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht anders gestalteten als im 20. Jahrhundert“ (S. 401). Letztlich ergibt der Vergleich der Verkehrspolitiken im Deutschen Reich und in der EWG, dass sich das Scheitern der Bemühungen um gemeinsame Verkehrspolitiken, vor allem im Fall der EWG, nur multikausal erklären lässt. Während Henrich-Franke das Scheitern gemeinsamer Verkehrspolitiken im Deutschen Reich und in der EWG somit insgesamt plausibel zu erklären vermag, bleibt letztlich doch die Frage, warum Vergemeinschaftungsprozesse in anderen Politikbereichen gelingen – wo doch insbesondere die strukturellen und prozessualen Bedingungen ähnlich sind. Henrich-Franke deutet diesbezüglich – seinem eigentlichen Erkenntnisinteresse entsprechend – eine mögliche Erklärung nur an, indem er auf die „inhaltlichen Spezifika des Verkehrs“ und die „gemeinsamen Eigenarten der Strukturen im Politikfeld Verkehr sowie der sich innerhalb dieser Strukturen vollziehenden Politikprozesse“ (S. 400) verweist und damit eben nur das Scheitern der Bemühungen um gemeinsame Verkehrspolitiken erklärt.

Diesem Einwand zum Trotz erschließt Henrich-Franke mit seiner überzeugenden Analyse, die durch die in der Reihe „Studien zur Geschichte der Europäischen Integration“ üblichen ausführlichen Zusammenfassungen in englischer und französischer Sprache sowie durch ein Glossar einschlägiger Fachbegriffe aus dem Politikfeld Verkehr ergänzt wird, der Integrationsgeschichtsschreibung sowohl in methodischer Hinsicht als auch inhaltlich neue Wege.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Peter Krüger, Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart 2006.
2 Siehe für Beispiele einer solchen historischen Kontextualisierung des europäischen Integrationsprozesses insgesamt etwa Hartmut Kaelble, Europäische Vielfalt und der Weg zu einer europäischen Gesellschaft, in: Stefan Hradil/Stefan Immerfall (Hrsg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 27–68, oder auch Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen, Köln/Weimar/Wien 2010; für einzelne Aspekte des Integrationsprozesses, etwa zur Originalität des Konzeptes der Supranationalität in der internationalen Geschichte, zuletzt Guido Thiemeyer/Isabel Tölle, Supranationalität im 19. Jahrhundert? Die Beispiele der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt und des Octroivertrages 1804–1832, in: Journal of European Integration History 17/2 (2011), S. 177–196.

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