I. Dingel u.a. (Hrsg.): Calvin und Calvinismus

Cover
Titel
Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven


Herausgeber
Dingel, Irene; Herman J. Selderhuis
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Beiheft 84
Erschienen
Göttingen 2011: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
XIII, 526 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Reinhardt, Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit, Universität Fribourg

Nicht nur Bücher, sondern auch Tagungen haben bekanntlich ihre Schicksale, die sich dann wiederum in den Büchern zur Tagung niederschlagen. Konkret heißt das meist, dass Tagungs-Programme nicht allein nach wissenschaftlicher Logik oder gar nach dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit der behandelten Thematik, sondern nach dem Chaosprinzip der Abrufbarkeit von Beiträgen und Beiträgern zustande kommen. Das muss ein um Ausgewogenheit bemühter Rezensent fairerweise in Rechnung stellen, wenn er Inkohärenzen und Lücken bemängelt. Dass man jedoch einen Sammelband zu den europäischen Perspektiven des Calvinismus publiziert, in dem die Ausbreitung und Erscheinungsform dieser Konfession in den Niederlanden, England und Schottland so gut wie überhaupt nicht vorkommen, erstaunt schon. Mehr denn je drängt sich angesichts der 26 Einzelaufsätze dieser Publikation der Eindruck eines nach unerfindlichen Gesichtspunkten zusammengesetzten Puzzles auf. Von der Mikro- oder besser: Nanoperspektive der „Religionssupplikationen der Französisch-Reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main“ (Irene Dingel) bis zu einem welthistorisch so bedeutsamen Riesenthemenfeld wie „The Appeal of Calvinism in France“ (Raymond A. Mentzer) ist offenbar alles aufgenommen, was irgendwie zur übergeordneten Fragestellung zu passen schien.

Eine solche Mischung der Gegenstände und Blickrichtungen hätte eine differenzierte Vorstellung der Einzelthemen und als Ausleitung eine Zusammenfassung der Hauptergebnisse zwingend erforderlich gemacht. Stattdessen steht am Anfang ein knapp zweiseitiges Vorwort, das im Wesentlichen die Titel der Sektionen wiederholt und darauf verweist, dass vieles nicht ausgeschöpft werden konnte. Noch unergiebiger ist der Einleitungs-Aufsatz von Herman J. Selderhuis, der den Genfer Reformator als „Calvinus non otiosus. Der unbewegte Beweger und seine Kinder“ und somit als erhabene Schöpfer-Figur, von allen irdischen Erschütterungen unberührt, und sein Genf als multikulturellen Friedensraum präsentiert. Auf diese Weise werden die jahrzehntelangen Konflikte zwischen den französischen Pastoren unter Führung Calvins mit einem großen Teil der einheimischen Führungsschicht, die Zielkonflikte zwischen den Geistlichen und ihren eigenen Anhängern, die immer neue Kompromisse erforderlich machten, die pausenlosen Kämpfe im Alltag und nicht zuletzt die Gewaltanwendungen auf beiden Seiten ausgeblendet. Die Durchsetzung des Calvinismus an der Rhone erscheint so durch die Überlegenheit der Lehre, das Charisma des Reformators, die höherwertige Moral seiner Anhänger und die Uneinsichtigkeit seiner Gegner vorherbestimmt. Jahrzehnte der sozialhistorischen Untersuchungen und der städtischen Konfliktforschung perlen an dieser Apologie spurlos ab.

Glücklicherweise ist damit nicht die Perspektive der Tagung vorgegeben. Eine Reihe solider, meist chronologisch-prosopographisch aufgebauter Aufsätze zeichnet sachkundig und überschaubar Ausbreitung und Stellenwert des Calvinismus im Reich (Eike Wolgast), in der Schweiz (Amy Nelson Burnett), in Siebenbürgen (Ulrich A. Wien) sowie in Litauen (Kestutis Daugirdas) nach, ergänzt um eine interessante Fallstudie zum mitteldeutschen Fürstentum Anhalt (Heiner Lück). Im Vergleich damit bleibt der bereits erwähnte Beitrag zum Calvinismus in Frankreich allzu summarisch. Dass die Lehre des Genfer Reformators dort vor allem auf gebildete städtische Eliten anziehend wirkte, ist nicht neu. Vor allem zur Attraktivität des Calvinismus für den Hochadel, speziell für seine „starken Frauen“, die nicht selten als Protektorinnen der neuen Lehre auftraten, hätte man sich nähere Ausführungen gewünscht. Gut hätten sich in diesem Zusammenhang auch Überlegungen zu Calvins Monarchiekritik, seinen aristodemokratischen Theorien und damit zum politischen Sprengpotential der Reformation an der Rhone gemacht. Immerhin ist in diesem Zusammenhang der erhellende Beitrag von Volker Leppin „Die vindiciae contra tyrannos. Calvinistische Relecture mittelalterlicher Politiktheorie“ zu erwähnen, der durch sorgfältigen Textvergleich herausarbeitet, wie stark die calvinistische Publizistik nach der Bartholomäusnacht mit ihren Forderungen nach Absetzbarkeit pflichtvergessener Könige und ihrer Betonung der Zwischengewalten älteren Vorbildern verpflichtet ist.

Über die gängigen Standard-Perspektiven hinaus werden in einigen Beiträgen neue, bislang wenig erforschte Themenfelder angesprochen. Das gilt zum Beispiel für die Wahrnehmung des Calvinismus durch das Papsttum am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die Matthias Schnettger anhand der für die päpstlichen Nuntien ausgearbeiteten Handlungsanweisungen untersucht („Römische Perspektiven auf den Calvinismus und die Calvinisten an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Die Hauptinstruktionen Clemens’ VIII., Pauls V. und Gregors XV.“). Dabei zeigt sich, dass die Kurie die Lehre und ihren Ideengeber zwar als erzketzerisch perhorreszierte, beiden die Auflösung aller kirchlichen und staatlichen Ordnung unterstellte, doch diesem plakativen Feindbild keine differenzierten Merkmale zuordnete. Einem ebenso relevanten wie wenig erschlossenen und zugleich mythenbesetzten Themenfeld wendet sich Stefan Ehrenpreis mit seinem Beitrag über „Bildungsprogramme und Bildungspraxis der Reformierten“ zu. Gerade hier haben die Calvinisten – man denke etwa an die Ausstrahlungskraft der von Calvin selbst gegründeten Akademie – eine Führungsstellung beansprucht, die sich zumindest ab dem 17. Jahrhundert stark relativierte oder sogar umkehrte.

Unter dem Strich bietet die umfangreiche Publikation bei allen monierten Mängeln und Einseitigkeiten eine Fülle von Informationen, die der Leser allerdings nicht nur kritisch überprüfen, sondern auch zu einem geschlossenen Ganzen zusammensetzen muss.

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