Cover
Titel
Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie


Autor(en)
Schilling, Heinz
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
714 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Athina Lexutt, Institut für evangelische Theologie, Justus-Liebig-Universität Gießen

Heinz Schilling gehört zweifellos zu den renommiertesten Historikern des Landes. Seine vielfältigen Veröffentlichungen zur Reformationsgeschichte und insbesondere zur Konfessionalisierungsdebatte haben ihn in der Vergangenheit als jemanden ausgewiesen, der mit dem nötigen Scharfblick, der wichtigen inneren Distanz und also größtmöglichen Objektivität sowie auf der Höhe der aktuellen Forschung seinen Untersuchungsgegenstand behandelt. Von dort aus ist er stets in der Lage, einem Thema neue, weiterführende Aspekte beizubringen. Von daher darf man gespannt sein auf eine Lutherbiografie, die schon der Klappentext als „brillant“ etikettiert.

Blättert man durch bereits erschienene Rezensionen, so scheint dieses Etikett nur allzu berechtigt. Kaum ein Autor oder eine Autorin, die etwas zu kritisieren oder auch nur nachzufragen hätte. Überall wird die gute Lesbarkeit hervorgehoben sowie der Versuch, Luther stets und mit allem in seiner Zeit zu verorten. Dies ermögliche eine Perspektive, die ihn von heroisierenden und bestimmte Seiten stilisierenden Tendenzen ebenso befreit wie von den Verengungen und Verzerrungen eines einlinig theologischen Zugriffs. So neu, wie manche Autoren meinen, ist dieser Zugang allerdings keineswegs. Es ist auch in der Kirchengeschichtsschreibung längst angekommen und gehört dort zum selbstverständlichen Handwerk, Luther nicht mehr als einsamen Helden zu zeichnen, dagegen sehr wohl die Wittenberger Reformation als ein Modell verschiedener gleichzeitiger Reformbewegungen zu verstehen. Was Reformations- und Lutherjubiläen angerichtet haben, um Legenden zu historischen Fakten werden zu lassen und den Reformator zum Kämpfer für Recht und Wahrheit gegen Kaiser und Papst – das weiß man seit langem und setzt es in Veröffentlichungen um. Keine Lutherbiografie, keine Reformationsgeschichte ohne entsprechende Kapitel oder Abschnitte, kein Zugang zum Reformator, der nicht seine Verortung in bestimmten zeit- und geistesgeschichtlichen Kontexten berücksichtigte. Denkt man etwa an Volker Leppins ausführliche Darstellung oder an Thomas Kaufmanns kompaktes Taschenbuch1, dann ist das, was Schilling vorlegt, nicht ganz so sensationell, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Im Gegenteil gesellen sich gerade für den schon etwas kundigeren Leser einige Fragen und Beobachtungen dazu, die die Frage nahe legen, ob nicht Leppins Lutherbiografie und Kaufmanns umfangreiche Reformationsgeschichte2 womöglich bessere Lösungen darstellen. Einige wenige dieser Fragen und Beobachtungen sollen hier genannt sein.

Da wäre zunächst festzuhalten, dass sich Schilling entgegen dem vom Titel her zu Erwartenden nicht recht entscheiden kann, ob er eine Lutherbiografie oder eine Reformationsgeschichte schreiben soll. Freilich kann man das eine vom anderen nicht wirklich trennen, aber bisweilen hätte man sich etwas mehr Luther gewünscht. Das gilt vor allem für den alten Luther, der wie so häufig viel zu kurz kommt (circa 1/6 des Gesamtumfangs) und dabei doch so viel zu bieten hat. Allerdings wohl eher dem Theologen, der sich zum Beispiel für die Disputationen und ihre Pointen interessiert. Damit wäre ein nächster Punkt markiert, der befremdlich wirkt. Luthers Theologie hat Schilling sehr wohl im Blick, aber wenn etwa die Heidelberger Disputation inhaltlich gar nicht vorkommt und der Freiheitstraktat zwar als „der konsequenteste Basistext einer neuen evangelischen Kirche“ (S. 196) gekennzeichnet wird, die anthropologischen und christologischen Fundamente indes gänzlich vernachlässigt werden (und das sind nur zwei Beispiele von vielen), wird die Sicht auf Luther verkürzt. Dies ist ebenso als misslich einzuschätzen wie umgekehrt eine theologische Engführung. Gerade im Hinblick auf die Frage, was es denn 2017 eigentlich zu feiern gilt – und damit auf die Frage, worin die Prägekraft Luthers und der Reformation besteht und wie ein ökumenischer Dialog sinnvoll gestaltet werden kann –, bietet Schilling gleichsam nur einen halben Luther. Wichtige Elemente klingen zwar an, so etwa im Kontext der vergleichsweise ausführlich besprochenen Obrigkeitsschrift und ihrer Bedeutung für die neuzeitliche Trennung von Kirche und Staat und als Konglomerat seiner Untersuchung im Epilog, doch wird dies der Tiefe und Vielschichtigkeit des Lutherischen Denkens nicht umfassend gerecht.

Einige Äußerungen lassen überdies den Leser irritiert zurück. Um wiederum nur zwei zu nennen: Zu Beginn der Darstellung wird im Kontext von Luthers Geburt und Namensgebung auf den Heiligen Martin von Tours verwiesen und ein sehr knapper Überblick über die Entstehung des Martinsfestes gegeben – wozu dieser Überblick? Oder: Das berühmte Gelübde soll Luther einmal Maria (S. 29), ein anderes Mal Anna (S. 77ff.) gegenüber getan haben – es gibt gute Gründe anzunehmen, dass er tatsächlich Maria angerufen hat, Schilling löst den scheinbaren Widerspruch aber nicht für den Unkundigen nachvollziehbar auf.

Zweifellos bezieht das Buch seine unhinterfragten Stärken aus einer umfassenden Quellenkenntnis des Autors, und es ist sehr angenehm, dass und wie er mit wörtlichen Zitaten die Leserschaft immer wieder konfrontiert. Es entsteht ein bewegtes Bild jener Zeit, und es wird einmal mehr deutlich, welch einen Umbruch diese Epoche markiert und wie Luther in diesen Strom hineingehört. Gerne hätte man beispielsweise auch mehr über die innerrömischen Reformbewegungen gelesen und in diesem Zusammenhang Cajetan angemessen gewürdigt gesehen. Insofern ist das Werk allemal lesenswert und hilfreich, um diese Zeit und Luther als Kind dieser Zeit zu verstehen. Dient es aber auch dazu, Luther zu verstehen? Dass Luther eine vielschichtigere und eben darin auch viel schwierigere Persönlichkeit war, als viele Darstellungen namentlich der Vergangenheit Glauben machen, ist nicht erst seit Schillings Darstellung evident. Dass diese Persönlichkeit Nachdenkenswertes hinterlassen hat – und das meint: theologisch Nachdenkenswertes und Theologie bis heute aus guten Gründen Bestimmendes (vor allem, wenn Theologie und Kirche sich als Kultur und Gesellschaft deutende und gestaltende Größe verstehen, wenn theologische Urteils- und Sprachfähigkeit nicht allein binnenkirchlichen, sondern öffentlichen Anspruch vertreten!) –, erhält in dieser Darstellung allerdings nicht den gebührenden Raum. Zuletzt muss dann in diesem Zusammenhang auch gefragt werden, ob die Bezeichnung „Rebell“ wirklich geeignet und treffend ist.

Summa: Wer den langen Atem hat, sich durch gut 600 Textseiten zu lesen, wird dies insofern mit großem Gewinn tun, als eine lange zurückliegende Epoche lebendig vor seine Augen tritt. Zitate und Bilder sind gut ausgewählt und Schillings nüchterne Sicht in all dem, was vor allem in früheren Jahrzehnten zum Thema erschienen ist, durchaus wohltuend. Indes ist auch der Verlust groß, wenn man sieht, wie sehr der Theologe, der Seelsorger, der Prediger, der Exeget Luther in dieser Darstellung in den Hintergrund rückt. So kann das Buch Schillings nicht dasjenige sein, das alle anderen in den Schatten stellt. Es ist eines in einer langen (vielleicht bisweilen zu langen) Reihe, die angesichts des Reformationsjubiläums noch weiter anwachsen wird.

Anmerkungen:
1 Thomas Kaufmann, Martin Luther, München 2006; Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006, 2. Aufl. 2010.
2 Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main 2009.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension