K. Weinhauer u.a. (Hrsg): Gewalt ohne Ausweg?

Titel
Gewalt ohne Ausweg?. Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert


Herausgeber
Weinhauer, Klaus; Requate, Jörg
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Elter, Studiengang Journalistik, Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation Köln

Gewalt ohne Ausweg? Das Fragezeichen am Ende des Werktitels impliziert, dass es diesen Ausweg – zumindest theoretisch – geben könnte. Und so nimmt es kaum Wunder, dass Wege aus dem Terrorismus und hin zu einer Deeskalationsstrategie in dem Sammelband immer wieder anklingen bzw. an konkreten Beispielen aufgezeigt werden. Der Band ist aus einer Tagung an der Akademie Loccum entstanden und vereinigt die dortigen Vorträge sowie weitere ergänzende Aufsätze. Bei einem Tagungsband liegt es in der Natur der Dinge, dass er heterogene Aufsätze zusammenbindet und unter ein Motto, einen Topos stellt. Dieser Topos ist hier die Kommunikation. In den meisten Fällen wird dieser rote Faden durchgehalten, was angesichts der mit 13 Artikeln großen Zahl der Beiträge, vor allem aber wegen der großen historischen Spanne vom Anarchismus des 18. und 19. Jahrhunderts bis zum Dschihadismus des 21. Jahrhunderts, die sie abdecken, eine große Leistung ist. Insofern müssen kritische Anmerkungen auch immer unter dieser Prämisse gesehen bzw. in dieser Hinsicht relativiert werden.

Der Band gliedert sich denn auch folgerichtig entlang der Zeitläufte. Nach der Einleitung, in der das Forschungsfeld umrissen, Defizite der Forschung aufgezeigt und das Konzept des Bandes vorgestellt werden, folgen die Kapitel „Anarchistischer und nationalistischer Terrorismus“, „Rechter und nationalistischer Terrorismus“, „Antikolonialer Terrorismus“, „Sozialrevolutionärer Terrorismus der Neuen Linken“ sowie „Religiös motivierter Terrorismus“. Ein Wort zur Gliederung: Wenn nahezu alle Klassifizierungen zum Terrorismus diskutabel sind bzw. bereits durch die Nomenklatur (un-)gewollte politische Implikation den neutralen wissenschaftlichen Blick verschleiern mögen, sind sich die Herausgeber und Autoren des Bandes dieses Problems bewusst und thematisieren es. So schreibt Klaus Weinhauer in Bezug auf das Phänomen des Dschihadismus völlig zu Recht: „Wie hier schon anklingt, ist der Begriff religiös motivierter Terrorismus analytisch noch unschärfer, als es der Terminus Terrorismus ohnehin ist“ (S. 302). Insofern wären hinsichtlich der Konzeption des Bandes die Fragen zu stellen, ob mit dem Oberbegriff des „antikolonialen Terrorismus“ die Gruppierungen ETA und IRA präziser erfasst sind als mit dem gängigen Terminus „separatistischer Terrorismus“ und wo beim „antikolonialen Terrorismus“ dann die Differenzierung zum Terrorismus in Afrika und Lateinamerika zu ziehen wäre.

Ergänzenswert wäre noch ein abschließendes Fazit gewesen, welches die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Epochen in Hinblick auf den Kommunikationsaspekt zusammenbindet. Dass die Herausgeber Klaus Weinhauer und Jörg Requate darauf verzichten, mag aber auch daran liegen, dass bereits in der Einleitung und im anschließenden Beitrag von Peter Waldmann mit seinen Thesen zum Zusammenhang von Terrorismus und Kommunikation systematische Einteilungen vorgenommen werden. Das bekannte Diktum Waldmanns, dass Terrorismus primär eine Kommunikationsstrategie ist, zieht sich ohnehin durch den gesamten Band und wird von den Autoren nicht in Frage gestellt bzw. bildet sogar die Ausgangslage der verschiedenen Analysen. Wie Klaus Weinhauer und Jörg Requate im Vorwort zutreffend herausarbeiten, enthalten „die tragenden Elemente der beiden wichtigsten kommunikationsorientierten Terrorismusdefinitionen, […] folgende Merkmale: Beim Terrorismus handelt es sich um eine spezifische Form politischer Gewalt nicht-staatlicher Akteure, die gekennzeichnet ist durch ‚planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund. Sie sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen‘“ (S. 15) Doch wenn dies so ist, wäre dann nicht umgekehrt die Frage, ob eine Gruppe, die eben anders kommuniziert als oben definiert, noch als terroristische Gruppierung einzustufen ist?

Insgesamt gewinnt der Leser bei der Lektüre der Einzelbeiträge den Eindruck, dass nahezu alle Artikel von guter Sachkenntnis und präziser Quellenarbeit geprägt sind und dem aktuellen Forschungsstand entsprechen. Beispielsweise erfährt der historisch Interessierte mannigfaltige Details über „Russland als Geburtsland des modernen Terrorismus“, so der Titel des Beitrags von Lutz Häfner, oder erhält durch Klaus Weinhauer intime Einblicke in den Nordirland-Konflikt. Weinhauer kommt das Verdienst zu, dass er dort die bisherige Debatte um den wichtigen Faktor des „Raumes“ erweitert und die lokale Komponente betont. In Joost Augusteijns Beitrag mit dem Titel „Getting the IRA to the Table“ wird zudem dem Aspekt der Deeskalation durch Kommunikation Rechnung getragen. Allerdings erscheint dabei die Entwicklung auf der kommunikativen Ebene eher wie eine Auseinandersetzung zwischen zwei Bürgerkriegsparteien. Insofern stellt sich die Frage, ob die Kommunikation verschiedener Konfliktparteien nicht auch generell viel mehr über den jeweiligen Konflikt als solchen verrät bzw. bei der Abgrenzung der Termini Bürgerkrieg, Guerillakampf, Terrorismus mehr helfen kann, als bislang in Betracht gezogen wurde.

Schaut man nun aus kommunikationswissenschaftlicher – und nicht primär historischer Perspektive, obwohl die meisten Autorinnen und Autoren Historiker sind – auf den Erkenntniswert des Bandes, löst er auch hier durch viele Beiträge seinen selbst gesetzten Anspruch ein. So arbeitet beispielsweise Beatrice de Graaf kristallklar heraus, wie Strafprozesse einerseits von Terroristen als „Show“ missbraucht werden können, andererseits aber auch der Deeskalation und der Reintegration von politisch motivierten Gewalttätern in die Gesellschaft dienen können. Alexandra Locher setzt sich detailliert mit den Kommunikationsstrategien der Roten Brigaden auseinander und setzt diese in Bezug zu deren Geschichte, und Jacco Pekelder betont in seinem Beitrag unter anderem, wie sich die RAF kommunikativ an ihrer eigenen Unterstützer- und Sympathisantenszene „abarbeitete“. Insgesamt bemühen sich alle Beiträge, das „magische Dreieck“ der Kommunikationsstrategien von Terroristen zwischen den Eckpunkten „breite Öffentlichkeit/Bürger“, „Staat/Regierung“ und „Unterstützerszene“ bei ihren Analysen nicht aus dem Blick zu verlieren. Dies ist angemessen, Peter Waldmann ergänzt in seiner Definition der Zielgruppen noch die „rivalisierenden Gruppierungen“ (S. 51). In Bezug auf die jüngsten Entwicklungen und dem Terrorismus in der Post-9/11-Ära bietet es sich an, wie es Klaus Weinhauer in seinem letzten Beitrag des Bandes bereits andeutet, bei der terroristischen Kommunikation auch noch das Element des „recruting“ zu beleuchten. Denn die kommunikative Stimulation von „Nachahmern“ in autonomen, nicht organisierten und nur vage ideologisch zusammengehaltenen Terrorzellen, kann zunächst als Charakteristikum des (neuen?) transnationalen Dschihadismus angenommen werden. Hier wäre aus medienhistorischer Sicht die Analyse neuer technischer Kommunikationsmittel, etwa die Verwendung von Social Media in terroristischen Kontexten, noch ein lohnenswerter Forschungsgegenstand. Grundsätzlich ist überlegenswert, inwieweit technische Medieninnovationen – etwa der Rotationsdruck zu Zeiten des Anarchismus, das Polaroid und die Videotechnik in den 1970er-Jahren und nicht zuletzt die Social Media in Bezug auf den Terrorismus des 21. Jahrhunderts – terroristische Kommunikation bedingen bzw. neue Formen des Terrorismus überhaupt erst entstehen lassen. Dass die Gründe und Motive für Terrorismus – unabhängig von der zeitlichen Periode – aber zunächst stets in historischen, politischen und ökonomischen Ursachen zu suchen sind, zeigt der Sammelband eindrucksvoll und umfassend auf. Damit leistet er einen an der Erkenntnis orientierten Beitrag zur Forschungsdebatte und liefert – sowohl aus historischer als auch aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive – einen Anstoß zur weiteren Beschäftigung mit diesem komplexen und bisweilen noch unterforschtem Themengebiet.

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