M. Brechtken (Hrsg.): Life Writing and Political Memoir

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Titel
Life Writing and Political Memoir – Lebenszeugnisse und Politische Memoiren.


Herausgeber
Brechtken, Magnus
Erschienen
Göttingen 2012: V&R unipress
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 43,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Depkat, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Regensburg

Autobiographische Texte erleben in der Geschichtswissenschaft gegenwärtig eine Konjunktur. Sie speist sich daraus, dass es sich bei derartigen Texten um einen klassischen Quellenbestand handelt, der durch die Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft als historische Kulturwissenschaft zusätzliche Bedeutung gewonnen hat. Deshalb verflechten sich in der aktuellen Autobiographieforschung seit langem etablierte Fragen auf komplexe Art mit einer bunten Vielfalt neuer kulturhistorischer Erkenntnisinteressen. Parallel dazu entfaltet sich etwa seit der Jahrtausendwende eine theoretisch-konzeptionelle Diskussion über den Quellenwert autobiographischer Texte, die insgesamt als ein höchst vielgestaltiges, hybrides Genre zwischen literarischem Werk und historischem Dokument zu klassifizieren sind. Vor diesem Hintergrund ist der hier angezeigte Band zu bewerten, der zehn Fallstudien zu Lebenszeugnissen aus dem 19. und 20. Jahrhundert vereinigt.

In seiner gerade einmal vierseitigen Einleitung verortet der Herausgeber Magnus Brechtken den Band im Feld der Erinnerungsforschung und betont, dass politische Memoiren ihre einstmals überragende Bedeutung für die Geschichtswissenschaft inzwischen eingebüßt hätten. Während Staatsmänner wie Otto von Bismarck oder Winston Churchill mit ihren Memoiren noch weitreichenden Einfluss auf die Geschichtsbilder und auch auf die Arbeit der akademischen Historiker hätten ausüben können, sei der unmittelbare Wert dieser Textgattung durch die Informationsvielfalt in der modernen Medienlandschaft stark reduziert worden. Auch habe die postmoderne Kritik die Autorität von Lebenszeugnissen als Lieferanten historischer Fakten erschüttert, ihnen zugleich aber einen neuen Stellenwert für Prozesse der Identitätskonstruktion zugewiesen. Vor diesem Hintergrund biete der Band eine Sammlung von Fallbeispielen, die den Nutzen postmoderner Ansätze für die Memoiren- und Lebenszeugnisforschung ausloten sollen.

Allerdings gewinnen die hier pauschal angerufenen „postmodernen Theorien“ weder in der Einleitung noch in den Aufsätzen an Profil. Weil eine systematische Auseinandersetzung mit den in der aktuellen Autobiographieforschung maßgeblichen diskurstheoretischen, narratologischen, text- und kommunikationspragmatischen Konzepten nicht geleistet wird, fehlt es diesem Band insgesamt an einem konzeptionell-theoretischen Bezugsrahmen, in den die versammelten Beiträge hätten eingeordnet werden können; sie stehen deshalb eher isoliert nebeneinander. Zudem wird das Konzept „Politische Memoiren“ nicht definiert – ungeklärt bleibt sowohl der Begriff „Memoiren“ (in Abgrenzung zu anderen Formen der Selbstthematisierung) als auch der Begriff des „Politischen“. So wird in dem Band eine breite Vielfalt von autobiographischem Material herangezogen, das sich zwar sicherlich als „Lebenszeugnisse“ klassifizieren lässt, aber nicht ohne Weiteres als „politische Memoiren“.

Celeste-Marie Bernier analysiert visuelle Repräsentationen des entlaufenen amerikanischen Sklaven und Abolitionisten Frederick Douglass in populären Drucken, künstlerischen Portraits und Daguerreotypien des 19. Jahrhunderts als Manifestationen afroamerikanischer Identitätspolitik im Spannungsfeld von Rassismus und Selbstbehauptung.

Magnus Brechtken untersucht in seinem 43-seitigen Aufsatz die erinnerungspolitischen Aktivitäten Albert Speers nach 1945 und kann zeigen, in welchem Maße es Speer gelang, Geschichtsbilder vom „Dritten Reich“ zu beeinflussen und die eigene Sicht auf seine Rolle als unpolitischer Technokrat im Nationalsozialismus hegemonial werden zu lassen. Allerdings bedurfte es dazu, wie Brechtken nachweist, der professionellen Historiker, Verleger, Publizisten und anderer Deutungseliten als „Mitkonstrukteure“ (S. 76).

Die frühe bundesrepublikanische Geschichts- und Erinnerungspolitik im Schatten des „Dritten Reiches“ ist auch das Thema des Beitrags von Kai Burkhardt. Am Beispiel von Adolf Grimme und der „Roten Kapelle“ rekonstruiert er die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Spannungsfeld von Mythenbildung und historischer Wahrheit zwischen 1945 und 1952.

Ralf Forsbach stellt Lebenslauf und Selbstwahrnehmungen von Erich Hoffmann, einem führenden Dermatologen im Deutschland der 1920er- und 1930er-Jahre, exemplarisch als „Typus eines im Kaiserreich erzogenen Mitglieds der medizinischen Funktionselite“ vor, dessen charakteristische Verbindung von wissenschaftlicher Exzellenz, Nationalismus und politischer Naivität zu den Ermöglichungsbedingungen des Nationalsozialismus gehörte (S. 125).

Dominik Gepperts Beitrag zu Margaret Thatchers Erinnerungen („The Downing Street Years“, 1993) beleuchtet diese Memoiren unter verschiedenen Blickwinkeln: als autobiographische Geschichtsdeutung und Blaupause einer Meistererzählung für spätere Historiker der britischen Geschichte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, als ein von kommerziellen Interessen getragenes Verlagsprodukt und Medienereignis, als ein Beispiel für die Tradition britischer Staatsmemoiren sowie schließlich als politisches Instrument, mit dem Thatcher ihre Politik über das Ende der Amtszeit hinaus festklopfen wollte.

Rafaela Hiemann nimmt in ihrem fast 60-seitigen Aufsatz über Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff die laufende Debatte über den militärischen Widerstand im Nationalsozialismus zum Anlass, den Umgang der Zeitgeschichte mit Gersdorffs 1977 erschienenem Erinnerungswerk „Soldat im Untergang“ kritisch zu beleuchten und „das insgesamt entstandene quellenkritische Defizit in der Zeitzeugenarbeit aufzufüllen“ (S. 150). Quellennah untersucht die Autorin Inhalt und Genese der Gersdorff’schen Erinnerungsproduktion nach 1945. Sie arbeitet heraus, dass sich das über die Jahre relativ konstante autobiographische Narrativ primär in der Auseinandersetzung mit den Vorwürfen formierte, die die Besatzungsmächte nach 1945 gegen den „Militarismus“ der ostelbischen Junker in Preußen artikulierten. Deshalb dürfe „Soldat im Untergang“ „nicht länger uneingeschränkt als zentrale Quelle“ für die Widerstandsforschung bewertet werden (S. 201).

Julia Hildt und Dittmar Dahlmann analysieren die Uminterpretation der Ereignisse des Jahres 1917 in autobiographischen Texten exilierter russischer Adliger, die vor der Oktoberrevolution eine oppositionelle Haltung gegen das bestehende zaristische System einnahmen, im Exil dann aber nach „rechts“ rückten. Hildt und Dahlmann fragen nach den wiederkehrenden Themen und Interpretationsmustern. Sie zeigen, dass sich die autobiographische Umdeutung vor allem in der Abgrenzung von Sprache, Benehmen und Symbolik der „revolutionären Massen“ manifestierte.

Ulrike Jureit argumentiert in ihrem theoriegeleiteten Beitrag, dass sich autobiographische Erzählungen im Lichte neuer Erfahrungen oder in neuen Erinnerungskontexten der jeweiligen Erzählsituation verändern können. Vergangenes Geschehen sei immer nur als Überformung und Umdeutung zugänglich, weshalb sich die Frage nach dem historischen Quellenwert von Lebenszeugnissen allgemein neu stelle. Jureit nähert sich Lebenszeugnissen als Quellen zur Erfahrungsgeschichte und präsentiert ein Auswertungsmodell, das es ermöglicht, die zeitliche Schichtung und diskursive Lagerung von Erfahrungen freizulegen. In ihrer Analyse von Lebenszeugnissen des KZ-Häftlings Hans Wassermann kann Jureit zeigen, dass solche subjektiven Quellen als aktuelle Form einer Erfahrungssynthese einen emotionalen und erfahrungsgeschichtlichen Wahrheitsgehalt jenseits der historischen Faktizität haben können.

Joanne Sayner betont in ihrer Analyse von Greta Kuckhoffs Lebensbericht „Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle“ (1972), dass die historische Erforschung politischer Memoiren sehr viel von der Diskussion im Feld der Gender Studies lernen könne. Dies betreffe sowohl Fragen der Konstitution von Texten und Prozesse der Ich-Konstruktion als auch den Begriff des Politischen. In ihrer sehr gedrängten Analyse der narrativen Dynamik von Kuckhoffs Lebensbericht kommt Sayner zu Erkenntnissen, die unser Wissen über Charakter, innere Dynamik und Wirkweisen des antifaschistischen Widerstands tatsächlich zu erweitern vermögen.

Der letzte Beitrag stammt von Petra Weber, die Genese, Stil, Form, Inhalt und textuelle Verfasstheit von Carlo Schmids „Erinnerungen“ (1979) präzise untersucht und den Text kenntnisreich in den biographischen Entstehungskontext einbettet. Dabei erörtert Weber systematisch die Diskrepanz zwischen autobiographischem Narrativ und biographischer Faktizität; mit sicherer Hand legt sie die Blindstellen im Schmid’schen Text frei. Wenngleich die „Erinnerungen“ als Quelle für historische Faktizität wertlos seien, so komme ihnen dennoch ein hoher Quellenwert zu – als „Dokument einer problematisch gewordenen Bildungsgeschichte, als verzweifelter Versuch, der eigenen Lebensgeschichte, die aufgrund der politischen Zeitläufte des 20. Jahrhunderts gleich mehrere Brüche erlebte, einen Sinn zu geben“ (S. 278).

Der Band enthält viele schöne Einzelleistungen, anregende Fragen und weiterführende Erkenntnisse, die insgesamt plausible und teils innovative Zugänge zu autobiographischem Material umreißen. Gleichzeitig hinterlässt der Band einen eher unausgewogenen Eindruck, was die Länge der Beiträge, deren thematisch-konzeptionellen Zuschnitt und deren Bezug zur aktuellen Theoriediskussion anbelangt. Nicht alle Beiträge widmen der diskursiven, narrativen und pragmatischen Verfasstheit autobiographischer Texte diejenige intellektuelle Aufmerksamkeit, die solche Texte im Lichte „postmoderner Theorien“ eigentlich verdienen. Gleichwohl ermuntert der Band dazu, diese Quellengattung gerade in ihrem Wert für die Neuere und Neueste Geschichte in interdisziplinärer Perspektive weiter zu erörtern.