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Titel
Die regionale Staatsmacht. Der Rat des Bezirkes Chemnitz/Karl-Marx-Stadt 1952–1990


Autor(en)
Scheller, Veit
Reihe
Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs: Reihe A 12
Erschienen
Anzahl Seiten
628 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Werner, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), Erkner

Eine moderne Verwaltungsgeschichte der DDR, die sich nicht auf den Nachweis des kommunistischen Machtanspruchs beschränkt, sondern die administrative Praxis in der DDR als Ergebnis sozial eingebetteter Aushandlungsprozesse begreift, ist auch über zwei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution noch immer ein Desiderat der Forschung. Entsprechend beiläufig wurden bisher die 1952 gebildeten Bezirke als regionale Mittelinstanzen der DDR behandelt. Weshalb – so könnte man fragen – sollte man sich mit den nachgeordneten Verwaltungsinstanzen eines Staates beschäftigen, dessen zentralistischer Herrschafts- und Gestaltungsanspruch so umfassend wie wissenschaftlich unstrittig ist?

Verschiedene Studien versuchen diese Frage zu beantworten, indem sie Handlungsspielräume auf der regionalen Ebene vermuten oder die praktische Verwirklichung des Herrschaftsanspruchs der SED mittels Kaderpolitik rekonstruieren.1 Dabei stehen zumeist die Bezirksparteiorganisationen der SED und deren Einfluss auf die staatliche Verwaltung im Mittelpunkt.2 Auch aus regionalgeschichtlicher Perspektive lassen sich die Bezirke in ihrer Dynamik und in ihrer Stellung innerhalb des Herrschafts- und Planungssystems der DDR analysieren.3 Die wenigen Arbeiten, die explizit die Staatsorgane der Bezirksebene in den Blick nehmen, stammen zumeist von Archivaren.4

Auch Veit Scheller ist Archivar. Er konzentriert sich in seiner 2008 an der Technischen Universität Chemnitz angenommenen Dissertation auf die Leitungsebene der staatlichen Verwaltung im Bezirk Chemnitz/Karl-Marx-Stadt zwischen 1952 und 1990. Mit einer streckenweise schwer lesbaren Akribie beschreibt Scheller die Entwicklung des Rates des Bezirkes. Er nutzt dabei vor allem Stellen- und Strukturpläne, die er häufig vollständig zitiert, um Personalwechsel und Änderungen der Zuständigkeiten zu illustrieren.

Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf der unmittelbaren Leitungsebene, die neben dem Vorsitzenden des Rates auch dessen verschiedene Stellvertreter sowie den Sekretär des Rates umfasste. Nach einer Darstellung der Bildung des Bezirkes Chemnitz/Karl-Marx-Stadt 1952 zeichnet Scheller die Entwicklung des Rates des Bezirkes bis 1958 ausführlich nach. Der Zeitraum zwischen 1958 und 1989/90 wird deutlich knapper abgehandelt. Ausführungen über die Personalpolitik und die Kadernomenklatur sowie ein umfangreicher Anhang mit Übersichten über die Sitzungen des Rates schließen den Band ab. Weshalb allerdings auch die Ergebnisse der Bezirkstagswahlen aufgeführt werden, bei denen ab 1958 die Zustimmung zum ‚Wahlvorschlag‘ nie unter 99,8 Prozent lag (S. 570), bleibt unklar.

Die Arbeit beschreibt sehr detailliert personelle und strukturelle Veränderungen, ohne dass die hinter diesen Entwicklungen wirksame Dynamik immer sichtbar wird. Manchmal ist nicht einmal die Relevanz der geschilderten Sachverhalte erkennbar. Beispielsweise wird mehrfach ausgeführt, dass der Schrottbeauftragte des Bezirkes Chemnitz/Karl-Marx-Stadt nicht – wie vorgesehen – dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes direkt unterstellt wurde, sondern in den 1950er- und 1960er-Jahren durchgängig der Abteilung Industrie und Handwerk zugeordnet blieb (S. 104, S. 131, S. 183 und S. 206). Ob dies der administrativen Nähe zu potenziellen Verwertungsbetrieben geschuldet war, Nachlässigkeit des Ratsvorsitzenden ausdrückte oder einfach nur die Bedeutungslosigkeit der Funktion des Schrottbeauftragten unterstrich, wird nicht problematisiert.

So genau sich Scheller den feinen administrativen Verästelungen der Bezirksverwaltung Chemnitz/Karl-Marx-Stadt zuwendet, so wenig werden in seiner Darstellung indes erkenntnisleitende Fragestellungen deutlich, mit der die Fülle des Materials strukturiert und gewichtet werden könnte. Dieser grundsätzliche Mangel der Arbeit wird vor allem spürbar, wenn Scheller die Herrschaftsprinzipien der DDR erläutert und auf die regionale Ebene anwendet. So begreift er die von der SED immer wieder ins Feld geführte ‚demokratische Initiative der Werktätigen‘ als „basisdemokratische Staatslenkung“, die einer „Herrschaft von oben“ (S. 82) entgegengestanden habe. Dieses fundamentale Missverständnis vermengt nicht nur die grundverschiedenen Demokratie-Begriffe. Scheller verkennt damit auch, dass die Partei- und Staatsführung der DDR auf der regionalen Ebene eine Mobilisierung materieller und personeller Ressourcen gerade erreichen wollte, indem sie die Beteiligung der Bevölkerung systematisch instrumentalisierte. Wenn Scheller feststellt, dass die SED-Führung „an Stelle der selbständig handelnden Länder mit ihren Eigeninteressen gut funktionierende und leicht zu überwachende Erfüllungsorgane ohne grundlegende Gestaltungsmacht errichten“ (S. 56) wollte, ist immerhin die Frage interessant, ob diese Absicht bis 1989 unverändert durchgehalten werden konnte oder ob sich – etwa im Kontext der Verwaltungsreformen 1957/58 oder des ‚Neuen Ökonomischen Systems‘ in den 1960er-Jahren – nicht doch auch das Verständnis und die Akzeptanz regionaler Eigeninteressen verändert haben.

Scheller spart solche Fragen aus, was umso bedauerlicher ist, da seine Studie mit der Konzentration auf die staatliche Ebene interessante Aspekte der DDR-Verwaltungsgeschichte berührt, die in der Forschung bislang nicht berücksichtigt worden sind. So wurde die Aufgabenstellung des Sekretärs des Rates des Bezirkes 1952 von der DDR-Führung offenbar nur vage definiert. In dieser Funktion, die mit der ‚Org.-Instrukteur-Abteilung‘ über einen eigenen Stab verfügte, kreuzte sich der politische Führungsanspruch der SED mit der bürokratischen Eigendynamik einer immer wieder kampagnenhaft umstrukturierten Regionalverwaltung. Scheller hebt hervor, dass der Sekretär zwar „aufgrund seiner politischen Implementierung den größten Einfluss auf die Tätigkeit des Rates des Bezirkes besaß“ (S. 105), seine Abteilung zugleich aber auch für die „ausbleibenden Erfolge“ (S. 264) der Ratsarbeit verantwortlich gemacht wurde. Hier ließe sich mit einer Längsschnittperspektive tatsächlich nachzeichnen, welche Folgen die sich überschneidenden Kontrollansprüche auf regionaler Ebene haben konnten.

Zum Funktionswandel des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes legt Scheller ebenfalls aussagekräftiges Material vor. Der Ratsvorsitzende war nicht nur durch die ‚doppelte Unterstellung‘ seiner Verwaltung unter den Bezirkstag und den Ministerrat der DDR formal gebunden, sondern wurde darüber hinaus als Mitglied der SED-Bezirksleitung politisch angeleitet. Sowohl in der Phase der Bezirksbildung 1952 als auch in den Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen bis 1970 erhielt der Ratsvorsitzende immer wieder Entscheidungskompetenzen zugesprochen, die ihm in der administrativen Praxis dann streitig gemacht wurden oder mit Verantwortlichkeiten kombiniert waren, die eigenständige Entscheidungen riskant werden ließen. Welche faktischen Handlungsoptionen sich aus dieser Konstellation ergaben und in welchem Maße institutionelle Faktoren bzw. persönliche Eigenschaften des Ratsvorsitzenden für das praktische Verwaltungshandeln in der DDR wirksam waren, gehört weiterhin zu den Forschungsdesideraten der Zeitgeschichte.

Schellers Studie analysiert das präsentierte Material zur Arbeit des Rates des Bezirkes Chemnitz/Karl-Marx-Stadt nur ansatzweise, schlägt aber immerhin eine erste Schneise in die überwältigende Aktenfülle der staatlichen Bezirksverwaltungen der DDR.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Beiträge in Michael Richter / Thomas Schaarschmidt / Mike Schmeitzner (Hrsg.), Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Halle (Saale) 2007.
2 Vgl. Mario Niemann, Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989, Paderborn 2007; vgl. Andreas Malycha: Rezension zu: Niemann, Mario: Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952-1989. Paderborn 2007, in: H-Soz-u-Kult, 12.02.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-124> (22.11.2012.).
3 Vgl. Detlef Kotsch, Das Land Brandenburg zwischen Auflösung und Wiederbegründung. Politik, Wirtschaft und soziale Verhältnisse in den Bezirken Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus in der DDR (1952 bis 1990), Berlin 2001.
4 Vgl. etwa Eva Rickmers, Aufgaben und Struktur der Bezirkstage und Räte der Bezirke in der DDR 1952–1990/91 am Beispiel des Bezirkes Cottbus (Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 22), Frankfurt am Main 2007.

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