Titel
Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce


Autor(en)
Schieder, Wolfgang
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerulf Hirt, Institut für Geschichte, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Nach einem bereits vielversprechenden Sammelbandbeitrag zum Audienzsystem Benito Mussolinis aus dem Jahre 20101, legt Wolfgang Schieder als ausgewiesener Kenner der deutschen Beziehungen zum italienischen Faschismus2 nun eine umfangreiche Studie vor, in der er dieses so zentrale wie in der Geschichtswissenschaft bisher unbeachtet gebliebene Instrument faschistischer Herrschaftspraxis akribisch analysiert. Damit wird ein unberücksichtigtes Element des ansonsten gut erforschten Duce-Kultes erstmals ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt.

Auf der Quellengrundlage der nahezu vollständigen Audienzlisten von 1923 bis 1943 und basierend auf insgesamt 86 überlieferten Audienzberichten von 52 verschiedenen Verfassern (etwa ein Viertel aller deutschen Audienzbesucher insgesamt), konzentriert sich die Untersuchung auf eine Vielzahl von Einzelaudienzen deutscher Besucher beim Duce. Diese Privataudienzen fanden am Schreibtisch Mussolinis im ansonsten weitgehend leeren Sala del Mappamondo statt, der sich im ersten Stock des römischen Palazzo Venezia befand. Von diesem Saal aus öffnete sich auch ein Balkon zur Piazza Venezia hin, von dem aus Mussolini regelmäßig zu den Massen sprach. Der großräumige Saal, mit seinen Renaissancefresken und seinem glatten Marmorboden, kam in doppelter Hinsicht einem räumlichen Machtzentrum der charismatischen Führerherrschaft des Duce gleich, verschränkten sich doch an diesem Ort die privaten und öffentlichen Sphären des in Privataudienzen und mittels Massenkundgebungen inszenierten mussolinismo miteinander.

Schieders zentrale These lautet, dass das „[…] von Mussolini entwickelte Audienzsystem […] als herrschaftspolitisch instrumentelles Handeln in ritualisierter Form […]“ (S. 13), als eine Form charismatischer Politik zur gezielten Selbstinszenierung des „Duce del fascismo“ im In- und Ausland verstanden werden müsse. Zur Überprüfung dieser These wird erstmals danach gefragt, wie das Audienzsystem Mussolinis konkret funktionierte: Wie, warum, wann und wie lange erhielten welche Deutsche wie viele Privataudienzen beim Duce? Wie war der genaue Ablauf dieser Audienzen im Einzelfall organisiert? Was versprach sich Mussolini von den Vier-Augen-Gesprächen und welche Intentionen verfolgten die heterogenen Audienzbesucher ihrerseits? Zu welchen Ergebnissen führte schließlich Mussolinis Audienzstrategie?

Der Beantwortung dieser Fragen widmet sich die Studie in zwei inhaltlichen Teilen. Der erste Teil analysiert detailliert das Audienzsystem Mussolinis, das Schieder zunächst in die Tradition frühneuzeitlicher Herrschaftsrituale einordnet. Dennoch lag Mussolinis Audienzen – konträr zu Hofzeremonien – keine für beide Seiten vorgeschriebene Ordnung zugrunde: Mussolini lenkte den kommunikativen Ablauf der Gespräche. Dass Mussolini die Abläufe der Audienzen ritualisierte, die Begrüßungs- und Verabschiedungsformen gegenüber den unterschiedlichen Besuchern hierarchisierte und sich auf jeden Besucher einstellte (bzw. dies zumindest suggerierte), mag für sich genommen wenig überraschend erscheinen. Allerdings ist hervorzuheben, dass über diese Abläufe bis zu dieser grundlegenden Studie praktisch nichts gesichert bekannt gewesen ist. Dies gilt ebenso für die überlieferten „Gunstbeweise“ des Duce – etwa die Überreichung eines signierten Fotos, die Verfassung eines Vorwortes für eine philofaschistische deutsche Publikation oder die Gewährung weiterer Audienzen für Besucher. Schließlich wollte Mussolini die Audienzbesucher für sich bzw. den italienischen Faschismus einnehmen. In dieser Hinsicht stellte die Audienz nicht nur ein wichtiges Instrument zur Selbstinszenierung des Duce dar, sondern zugleich ein durchaus wirksames Mittel der faschistischen Auslandspropaganda.

Anschließend untersucht Schieder die Besuche von deutschen (auch mit jüdischer Herkunft) Intellektuellen, Journalisten, Künstlern und Sportlern bei Mussolini, wobei die mit Abstand häufigsten deutschen Audienzbesucher, die Journalisten Emil Ludwig und Louise Diel, gesondert hervorgehoben werden. Ein eigenes Kapitel ist den vergleichsweise wenigen Audienzen von Weimarer Politikern (insbesondere der nationalkonservativen Rechten) und den stetig – einzig durch die Dollfuß-Affäre kurzfristig gehemmten, aber nach der Gründung der „Achse Berlin-Rom“ umso häufigeren – Besuchen von NS-Führungskadern gewidmet. Bekanntlich hatten einige Mitglieder der NS-Führung noch vor 1933 Distanz zum Duce gewahrt. Nur Hermann Göring teilte Hitlers Bewunderung für Mussolini von Beginn an. Doch nach 1933 wandelten sich – bis auf wenige Ausnahmen wie Albert Speer – die ursprünglichen Mussolini-Skeptiker zu audienzbegeisterten Romreisenden.

Während vor 1933 sowohl Anhänger als auch Gegner des Nationalsozialismus (letztere hofften nicht selten, Mussolini gegen Hitler ausspielen zu können) und deutsche Philofaschisten nach Rom reisten, stieg nach 1933 der Zustrom „politischer Rompilger“ (Wolfgang Schieder) aus dem „Dritten Reich“ stark an. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Mussolini bis zum Beginn der 1940er-Jahre bewusst auch verdeckten Gegnern des NS-Regimes Privataudienzen gewährte und diese nicht etwa denunzierte. Der Duce versuchte sogar ihm wichtig erscheinende Audienzbesucher, die im „Dritten Reich“ in Gefahr geraten waren, zu schützen – etwa den Politiker und Journalisten Ernst Niekisch, den Schriftsteller und Journalisten Werner von der Schulenburg oder den Bildhauer Hans Wimmer. Gleichwohl wird ebenso deutlich, dass Gegner des „Dritten Reiches“ die vermeintliche Friedfertigkeit des Duce in teilweise geradezu grotesker Weise überschätzten, während NS-Führungskader die Stärke Mussolinis oftmals überbewerteten. In jedem Fall verstärkten Mussolinis Selbstinszenierungen als zwar strenger, doch zugleich fürsorglicher Duce die irreführende Vorstellung, dass er im Vergleich mit Hitler und Stalin ein „milder Diktator“ (S. 197) gewesen sei.

Der zweite Abschnitt der Studie dokumentiert ausgewählte Audienzberichte von 32 deutschen Besuchern (von Bildhauern und Fotografen über Historiker verschiedener Fachrichtungen, Journalisten und Politiker unterschiedlicher Couleur bis hin zu Schriftstellern), wobei die Gewichtung der Auswahl deutlich zugunsten der Journalisten, Politiker und Schriftsteller ausfällt. Einem jeden Bericht ist eine prägnante biographische Einordnung des jeweiligen Verfassers mit den entsprechenden Quellen vorangestellt, was die Berichte zu einer höchst aufschlussreichen Quellensammlung macht. Schließlich listet ein umfangreicher Anhang die nachgewiesenen 86 Audienzberichte zwischen 1927 und 1942 sowie in chronologischer Reihenfolge die deutschen Einzelaudienzbesuche von Oktober 1923 bis Mai 1943 auf.

Es gelingt Wolfgang Schieder zweifellos einen weiteren Mosaikstein zur Erklärung der „Duce-Religion“ (Denis Mack Smith), die den Wesenskern des italienischen Faschismus ausmachte, hinzuzufügen. Die Audienzen, in denen Mussolini seine gewalttätige Seite zu verbergen suchte, waren ein wichtiger Bestandteil im faschistischen „System von checks and balances“ (Jens Petersen). Diesbezüglich wären transnationale Vergleiche mit anderen Audienzsystemen charismatischer Führerkulte wie zum Beispiel mit Hitlers und Stalins Audienzen sowie – als eine Art Kontrastfolie – mit den Empfängen demokratisch gewählter Regierungschefs zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wolfgang Schieder, Audienz bei Mussolini. Zur symbolischen Politik faschistischer Diktaturherrschaft 1923–1943, in: Petra Terhoeven (Hrsg.), Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2010, S. 107–132, und Moritz Buchner, Rezension zu: Terhoeven, Petra (Hrsg.): Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2010, in: H-Soz-u-Kult, 29.03.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-235> (19.06.2013).
2 Vgl. Wolfgang Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008.

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