Th. Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik

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Titel
Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag


Autor(en)
Mergel, Thomas
Erschienen
Düsseldorf 2002: Droste Verlag
Anzahl Seiten
530 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Graf, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Der ächte Historiker muss die Kraft haben, das Allbekannte zum Niegehörten umzuprägen und das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, dass man die Einfachheit über der Tiefe und die Tiefe über der Einfachheit übersieht“, schrieb Friedrich Nietzsche 1874 in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung.1 Dies könnte durchaus als Motto über Thomas Mergels in Bochum entstandener Habilitationsschrift stehen, die sich mit dem Reichstag in der Weimarer Republik einer Institution widmet, die eine zentrale Rolle in der vielleicht am besten erforschten Epoche der deutschen Geschichte spielte, und über die man gemeinhin bereits alles zu wissen glaubt. In der Tat gelingt es Mergel aus der Perspektive einer neuen, kommunikationstheoretisch und mikrosoziologisch reflektierten Kulturgeschichte, den Reichstag in neuem Licht erscheinen zu lassen und damit zugleich allgemeine Prozesse und Prinzipien parlamentarischer Praxis herauszuarbeiten.

Trotz der stark ausdifferenzierten Forschungslandschaft zum politischen System der Weimarer Republik bemerkt Mergel zu Beginn seiner Arbeit zutreffend, dass der Reichstag selbst häufig ausgeblendet bleibt, weil man sich entweder auf die Exekutive oder auf die Parteien und Verbände konzentriert. Insofern schließt seine Arbeit, der eine Auswertung der stenographischen Berichte der Verhandlungen des Reichstags, der Ausschussprotokolle, soweit sie vorhanden sind, der Ego-Dokumente der Abgeordneten sowie diverser Zeitungen zugrunde liegt, eine wichtige Forschungslücke. Darüber hinaus zeichnet sich Mergels Arbeit dadurch aus, dass sie gegen den Finalismus der klassischen Weimar-Forschung den Fokus nicht auf das Scheitern und das Ende Weimarer Republik legt, sondern als eine „Normalgeschichte“ der Weimarer Republik von der „Offenheit der Optionen“ ausgeht (S. 17).2 Mergel stellt also zunächst nicht die altbekannte Frage, warum Weimar scheiterte, sondern er fragt vielmehr, warum die Republik so lange existierte und wie die Institution des Reichstags vor dem Hintergrund einer äußerst fragmentierten Gesellschaft und politischen Kultur überhaupt das Maß an Stabilität und Produktivität entwickeln konnte, das sie in den Jahren bis 1928 auszeichnete.

Inspiriert durch die Methoden der Ethnologie und des symbolischen Interaktionismus untersucht Mergel daher, wie die Interaktions- und Kommunikationsweisen in der politischen Praxis im Reichstag ritualisiert und institutionalisiert wurden, i.e. wie aus Handlungen Strukturen wurden, womit er en passant den unproduktiven methodischen Gegensatz von Struktur und Handlung auflöst. Zur weiteren Operationalisierung seiner mikrosoziologischen Untersuchung unterscheidet Mergel zwischen einem Zugang über Symbole und Rituale einerseits und einem über sprachliche Interaktion andererseits, wobei er sich der Methoden der Sprechakttheorie und der Diskursanalyse bedient.

Derart methodisch gerüstet beschäftigt sich Mergel zunächst mit der Weimarer Nationalversammlung, die er als eine „Schule der Politiker“ – und wohl auch der Politikerinnen – versteht, da sie eine hohe personelle Kontinuität zum späteren Reichstag aufwies und in der Abgeschiedenheit des Tagungsortes in Weimar Regeln parlamentarischer Arbeit unter „Quarantänebedingungen“ eingeübt werden konnten. Zusammen mit dem Schlusskapitel über den Wandel der Kommunikationsverhältnisse nach 1928 bildet dieses Kapitel den Rahmen für den Hauptteil der Arbeit, der in vier Kapiteln die Gestalt des sozialen Raumes, die Praxis der parlamentarischen Arbeit, die Kommunikation im Plenum und die öffentlichen Diskurse über den Reichstag in der Zeit von 1920 bis 1928 untersucht.

Die Beschreibung des Reichstags als „sozialer Raum“, der Handeln zugleich „begrenzt und ermöglicht“ (S. 83) erschöpft sich keineswegs in Äußerlichkeiten wie der Beschreibung des Reichstagsgebäudes und der wichtigen Feststellung der mangelnden symbolischen Besetzung des Raumes durch die neue republikanische Ordnung. Vielmehr analysiert Mergel minutiös und detailliert die Lebenswelt der Abgeordneten dieses „Arbeitsparlaments“ und lässt diese mit Baderaum, Fitnessstudio und Restaurant plastisch wieder erstehen. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf die interfraktionellen Formen der Vergesellschaftung, die zumeist auf der Basis gemeinsamer Charakteristika wie Alter, Geschlecht oder Herkunft erfolgten und u.a. in den parlamentarischen Bierabenden ihren sichtbaren Ausdruck fanden. Indem er enge persönliche Verbindungen von der DNVP bis zur SPD nachweist, konterkariert er bereits hier das etablierte Bild der Weimarer Republik als einer politischen Kultur, in der sich weltanschaulich streng getrennte Lager in erbitterter Feindschaft gegenüber standen.

Über diese soziale Integration durch die gleichartige Lebensweise hinaus, argumentiert Mergel weiter, seien es vor allem die Prozesse der alltäglichen Arbeit gewesen, die zu einer stärkeren Integration des Reichstags geführt haben. Insbesondere von der Arbeit in den Subgremien mit ihren formellen und informellen Regeln und Verfahrensweisen sei eine Integrationsdynamik und ein Anpassungsdruck ausgegangen, dem sich auch die republikkritischen Abgeordneten der DNVP nicht hätten entziehen können. Ausgeschlossen von diesem Konsens der parlamentarischen Ordnung seien die Kommunisten gewesen, die ein „dramatisches Ideal von Politik“ vertreten und die Geschäftsordnung immer wieder als Repressionsinstrument ausgelegt hätten. Ähnliches gelte für die Abgeordneten rechts der DNVP, die jedoch bis 1930 kaum ins Gewicht gefallen seien.

Den „pragmatischen Republikanismus der Republikgegner“ vermag Mergel auch in seiner Untersuchung der Plenardebatten herauszuarbeiten, deren konflikthafter Charakter zunächst in eklatantem Widerspruch zur These von der pragmatischen Integration des Parlaments zu stehen scheint. Zunächst betont Mergel, dass die Debatten im Plenum öffentliche Präsentationen der verschiedenen Parteistandpunkte darstellten, während man sich in den Ausschüssen wesentlich kooperationsbereiter gezeigt habe. Darüber hinaus gelingt es ihm aber auch, durch eine genaue Analyse der formellen und informellen Regeln parlamentarischer Rhetorik nachzuweisen, dass auch in den Plenumsdebatten eine Integrationsdynamik wirkte. Häufig seien die Reden im „Zwar-Aber“-Muster gehalten worden, und man habe sich deutlicher Höflichkeitsformen bedient, um die spätere Zusammenarbeit zu ermöglichen. Daneben habe es mit den Begriffen Sachlichkeit/Ordnung, Würde/Ehre und Volk/“Großes Ganzes“ gemeinsame Bezugsgrößen gegeben, auf die man sich habe einigen können, wenn es zu massiveren Konflikten und Ausfällen gekommen sei, die zumeist spontan durch die Empfindung von Ehrverletzungen ausgelöst worden seien. Auf der Basis einer Unterscheidung von vier politischen Sprachstilen erläutert Mergel, von der SPD bis zur DNVP habe die Sprache der Exekutive bzw. des Staatsmannes vorgeherrscht, die keinen Platz für radikale Systemopposition ließ, während sich die extremen Parteien eher eines moralischen oder existentiellen Sprachcodes bedient hätten.

In seiner Untersuchung des öffentlichen Diskurses über den Reichstag kann Mergel überzeugend darlegen, dass die intensive Kritik am Parlamentarismus wesentlich durch die zu hohen Erwartungen motiviert war, die man dem Parlament gegenüber hatte und die von den Abgeordneten noch unterstützt wurden. Diesen Erwartungen zufolge sollte das Parlament ein genaues Abbild der Gesellschaft sein, aber auch zugleich hervorragende Führer produzieren und ein moralisches Vorbild bieten. Die Krise des Parlamentarismus sei letztlich auch auf einen utopischen Erwartungsüberschuss der Öffentlichkeit gegenüber dem Parlament zurückzuführen.

Für die Phase ab 1928 registriert Mergel eine Auflösung der gemeinsamen Basis, die er zum einen zurückführt auf die Ansprüche der Anhängerschaft der Parteien, die Grundsätze der Partei im Parlament ohne Abstriche durchzusetzen, und zum anderen auf die Obstruktionstaktik der extremen Parteien. Insbesondere die Nationalsozialisten hätten immer wieder gerade die informellen Regeln der parlamentarischen Arbeit und Kommunikation in Frage gestellt und damit die Arbeitsfähigkeit des Parlaments untergraben. NSDAP und KPD unterschieden sich somit von den anderen nicht nur durch besonders radikale Positionen, sondern vor allem durch die Aufkündigung des verständigungsorientierten Grundkonsenses parlamentarischer Arbeit; eine These, die nochmals die Relevanz von Mergels Analyse der impliziten Regeln politischer Praxis unterstreicht.

Neben den oben bereits hervorgehobenen Punkten zeichnet sich Thomas Mergels Habilitationsschrift insbesondere dadurch aus, dass in ihr immer wieder gegen die klassischen Forschungspositionen gefragt wird und durch diese Umkehrung der Perspektive interessante neue Einsichten in die Funktionsweise des Weimarer Parlamentarismus gewonnen werden: Mergel fragt nicht, warum Weimar scheiterte, sondern warum die Republik überhaupt so lange aushielt. Jenseits der offensichtlichen und allseits bekannten politischen Konflikte arbeitet er die gemeinsame Kommunikationsbasis weiter Teile des Reichstags heraus, die er plausibel auf die Integrationsdynamik parlamentarischer Praxis zurückführt. Anstatt die Funktionsprobleme des Parlamentarismus zu beklagen, zeigt er, dass angesichts der hypertrophen Erwartungen der Zeitgenossen das Parlament nur versagen konnte. Vor allem das Herausarbeiten der gemeinsamen Kommunikationsbasis durch das Aufdecken der impliziten und expliziten Regeln sprachlicher Interaktion geschieht in vorbildlicher Weise und könnte als Muster einer Diskursanalyse dienen, die nicht vergisst, dass Konflikte überhaupt erst vor dem Hintergrund weitgehender Gemeinsamkeit entstehen können.

Nichtsdestoweniger müssen auch einige Kritikpunkte angefügt werden. Zunächst ist zu fragen, inwiefern die Integrationsdynamik des Parlamentes ein Spezifikum für die Weimarer Republik darstellt, bzw. was das Faktum der interfraktionellen Gemeinsamkeiten über die Republik aussagt. Sind gute persönliche Beziehungen zwischen Abgeordneten verschiedener Fraktionen, die sich öffentlich bekämpfen müssen, nicht ein Faktum, das sich in jedem Parlament als sozialem Raum finden lässt und wenig über die tatsächlichen politischen Konflikte aussagt? Sicherlich ist es jedoch gerechtfertigt, dieses Faktum für die Weimarer Republik besonders herauszustreichen, weil man durch die ständige Wiederholung der These von der fragmentierten politischen Öffentlichkeit dazu neigt, die Gemeinsamkeiten zu vergessen.

Des Weiteren bleibt dann und wann unklar, was durch die mikrosoziologischen Erklärungsmuster und den Blick des Ethnologen gewonnen ist, wo die Erklärungsmuster des symbolischen Interaktionismus über die Anwendung des gesunden Menschenverstandes hinausgehen. Wenn beispielsweise die Beschreibung der Sitzordnung mit dem Titel „Die Ordnung der Körper“ überschrieben wird, obwohl dann die physische Körperlichkeit der Abgeordneten im Kapitel kaum beleuchtet und der soziale Raum des Reichstags als „heiliger Ort“ bezeichnet wird, so fragt man sich, was diese Begriffe der vorher von Mergel geleisteten, vorzüglichen Analyse der impliziten und expliziten parlamentarischen Praktiken hinzufügen. Sicherlich ist es richtig, die Inspirationsquelle für das eigene methodische Vorgehen anzugeben, aber man sollte tunlichst vermeiden, neue, schillernde Begriffe einzuführen, wenn in der konkreten Analyse bereits alles gesagt wurde. Darüber hinaus bleiben im Theoriekapitel einige Fragen offen. So wird die strenge Scheidung zwischen Symbolen und Sprache, die bei einem weiten Sprachbegriff nicht notwendig wäre, nicht ausreichend motiviert und lässt den Symbolbegriff unklar werden. Daneben bleibt ebenso undeutlich, warum Mergel eine strikte Trennung von Sprechaktheorie und Diskursanalyse vornimmt, anstatt erstere als eine Unterform der letzteren zu betrachten, wie das gemeinhin geschieht. Diese Mängel sollen den Wert des Theorieansatzes nicht mindern, weil dieser schließlich zu einer produktiven Arbeit geführt hat, aber sie hätten dennoch durch genauere Ausführungen vermieden werden können.

Schließlich bleiben noch zwei kleinere Kritikpunkte: Für die Zeit der Präsidialkabinette, die Mergel in seinem letzten Kapitel untersucht, hätte dem eklatanten Funktionsverlust des Reichstags eine größere Bedeutung für die Veränderung der parlamentarischen Interaktionsformen zugemessen werden müssen, als dies in der Arbeit geschieht. Darüber hinaus scheint Mergel streckenweise zu übersehen, dass die Begriffe „Volk“, „Ordnung“ und „Sachlichkeit“, die er als Beleg für zugrunde liegende Gemeinsamkeiten anführt, so unterschiedlich konnotiert gewesen sein könnten, dass man es bei der Berufung auf sie eher mit fundamentalen Differenzen zu tun hätte. Schließlich kann die beidseitige Berufung auf das Volk nicht nur als Abschwächung, sondern auch als Verstärkung der Konflikte gedeutet werden, weil diese dadurch ins Grundsätzliche erhoben wurden.

Nichtsdestoweniger hat Thomas Mergel eine hervorragende Arbeit innerhalb eines verkrusteten Forschungsfeldes vorgelegt, die mit noch ungewohnten Fragen der Politikgeschichte neue Perspektiven eröffnet.

Anmerkungen:
1 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Leipzig 1874 (Nietzsche Werke, 3. Abt., 1. Bd., Berlin 1972, S. 239-330), hier S. 290.
2 Diese Perspektive wird in jüngerer Zeit immer häufiger eingenommen. Vgl. z.B.: Peter Fritzsche: Did Weimar Fail?, in: The Journal of Modern History 68 (1996), S. 626-659.

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