C. Mückenberger u.a. (Hrsg.): Das Prinzip Neugier

Cover
Titel
Das Prinzip Neugier. DEFA-Dokumentarfilmer erzählen


Herausgeber
Mückenberger, Christiane; Poss, Ingrid; Richter, Anne; Filmmuseum Potsdam
Reihe
Schriftenreihe der DEFA-Stiftung
Anzahl Seiten
XVI, 639 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Kötzing, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

„Das war ein Stück Heimat – das zweite Zuhause. Es gab Leute, die sind ins Studio, in die Kantine gekommen, wenn sie Arbeitsurlaub hatten, dort sahen sie die Kollegen, die Freunde. Es war für mich ein sehr verbundener Haufen.“ (S. 190) So ähnlich wie der Autor und Regisseur Kurt Tetzlaff erinnern sich viele ehemalige Mitarbeiter an ihre Zeit im Dokumentarfilmstudio der Deutschen Film AG (DEFA). Der Begriff „Heimat“ zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die insgesamt 21 Interviews, die in diesem Band versammelt sind. Zu Wort kommen ehemalige und zum Teil noch aktive Regisseure, darunter unter anderem die großen „Leuchttürme“ des DEFA-Dokumentarfilms – Jürgen Böttcher, Volker Koepp und Winfried Junge –, aber auch heute weniger bekannte Filmemacher wie Ulrich Kling, Konrad Weiß oder Roland Steiner. Wenngleich die Auswahl der Gesprächspartner insgesamt sehr subjektiv wirkt und viele wichtige Vertreter des DEFA-Dokumentarfilms fehlen (zum Beispiel Karlheinz Mund, Helke Misselwitz, Jochen Kraußer oder Sibylle Schönemann), bieten die Gespräche gleichwohl einen spannenden, persönlich gefärbten Einblick in das Dokumentarfilmstudio der DEFA und die dort entstandenen Filme.1

Die Herausgeberinnen des Bandes, Ingrid Poss, Christiane Mückenberger und Anne Richter – alle drei selbst langjährige DEFA-Mitarbeiter –, haben den Großteil der Interviews selbst geführt, redaktionell bearbeitet und in eine angenehm lesbare Form gebracht. Herausgekommen ist ein voluminöses Kompendium, das mit Sicherheit zu einer Grundlage für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des DEFA-Dokumentarfilms werden wird. Die Interviews ergänzen die erhalten gebliebenen Produktionen des Studios – insgesamt annähernd 10.000 Dokumentarfilme und Wochenschauen – und die überlieferten schriftlichen Quellen um eine zentrale Perspektive: die subjektive Sicht der im Dokumentarfilmstudio engagierten Künstler. Dabei erweist sich als besonders wertvoll, dass die Herausgeberinnen die Gespräche insgesamt sehr breit angelegt haben. Sie bieten den Befragten viel Raum für eigene Überlegungen und persönliche Ansichten – manche der Interviews erstrecken sich auf mehr als 40 Seiten. Die Länge hemmt den Lesefluss keineswegs, im Gegenteil: Erst durch ihre Ausführlichkeit heben sich die Gespräche von „klassischen“ Interviews ab. So berichten die Regisseure zum Beispiel nicht nur detailliert über ihre Arbeit und die künstlerischen Schwerpunkte ihrer Filme, auch ihr individueller Werdegang sowie prägende Kindheits- und Jugenderlebnisse spielen eine wichtige Rolle in den Gesprächen. Einen großen Stellenwert nehmen darüber hinaus die Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche und die Filmhochschule in Babelsberg ein – beides prägende Orte für die „filmische Sozialisation“ vieler Mitarbeiter des Dokumentarfilmstudios, da es sowohl im Rahmen des Leipziger Festivals als auch im Kontext der Filmhochschule die Möglichkeit gab, Filme zu sehen, die sonst in der DDR nicht zugänglich waren. Nicht zuletzt geht es in den Gesprächen auch um die Zusammenarbeit mit anderen Kollegen, insbesondere mit den durchweg hochgelobten Kameramännern des Dokumentarfilmstudios. Dass in der Erinnerung manche Details verschwimmen, Widersprüche hier und da glattgebügelt werden und mitunter auch einige Legenden entstehen, lässt sich bei dieser Form der Oral History sicher kaum vermeiden – es bleibt daher in jedem Fall eine spannende Aufgabe für Historiker und Filmwissenschaftler, die Interviews mit anderen Quellen abzugleichen und Detailinformationen kritisch zu hinterfragen.

Ein besonders spannender Aspekt, der den hohen Wert der Interviews unterstreicht, sind die Erinnerungen an das politische Spannungsverhältnis, das die Arbeit im DEFA-Dokumentarfilmstudio von Beginn an prägte: die Ambivalenz von gesellschaftlichem Auftrag und künstlerischem Anspruch. Fast alle Befragten berichten über politische Eingriffe in ihre Arbeit, die oftmals demütigenden und zermürbenden Abnahmeprozesse oder umstrittene Filmprojekte, die schlussendlich verboten oder gar nicht erst bewilligt wurden. Bemerkenswert ist, dass sich innerhalb des Studios dennoch nie ein gemeinsamer Protest gegen die politische Einflussnahme formierte. Hierzu hätte man sich mitunter noch mehr Nachfragen gewünscht. Gab es keine größere Solidarität unter den Regisseuren? Oder überwog die Angst vor persönlichen Konsequenzen? Welche Bedeutung spielten die innere Selbstzensur oder Privilegien, die manche Regisseure innerhalb des Studios genossen? Mit Richard Cohn-Vossen und Jürgen Böttcher kamen zum Beispiel nur zwei Unterzeichner der Biermann-Petition aus den Reihen des Dokumentarfilmstudios – im Gegensatz zu zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen aus dem Spielfilmbereich. Welche Gründe gab es dafür? Fragen wie diese werden häufig nur angeschnitten, ebenso wie manche Tabuthemen, mit denen sich die Dokumentarfilmer der DEFA aus politischen Gründen nicht beschäftigen konnten.

Ein anderer wichtiger Aspekt, der in den Gesprächen eine zentrale Rolle spielt, ist die künstlerisch weitestgehend eigenständige Form des Dokumentarfilms, die sich trotz (oder gerade wegen?) der politischen Einflussnahme bei der DEFA etablieren konnte. Kennzeichnend für den Stil, der inzwischen sogar unter dem Begriff der „Babelsberger Schule“ diskutiert wird2, war der Versuch, den Alltag der Menschen in der DDR und ihre Arbeitswelt möglichst einfühlsam und lebensnah zu dokumentieren. Die Fokussierung auf den Alltag ermöglichte den Filmemachern bemerkenswerte künstlerische Freiheiten, zumindest solange politisch umstrittene Themenfelder nur indirekt oder auf einer metaphorischen Ebene aufgegriffen wurden. Hierzu zählen neben den renommierten Langzeitstudien von Winfried Junge über die „Kinder von Golzow“ oder Volker Koepps „Wittstock“-Zyklus beispielsweise auch die zahlreichen Porträtfilme, die im Dokumentarfilmstudio der DEFA entstanden sind. Aber auch Filme, in denen bestimmte Landschaften und die Menschen, die dort leben, im Mittelpunkt stehen, wie zum Beispiel die zwischen 1987 und 1990 entstandene Lausitz-Filmtrilogie von Peter Rocha („Hochwaldmärchen“; „Leben am Fließ“; „Die Schmerzen der Lausitz“) gehören in diesen Kontext. Insgesamt wird man wohl viele der hier interviewten Regisseure zum Kreis der „Babelsberger Schule“ zählen können. Manche von ihnen, wie zum Beispiel Andreas Voigt oder Dieter Schumann, „pflegen“ diesen Stil in ihren Filmen bis heute. Der Interviewband deckt damit gleichwohl nur einen Teil des DEFA-Dokumentarfilms ab. Spannend wäre es gewesen, wenn daneben zum Beispiel auch mehr Regisseure zu Wort gekommen wären, die sich eher als Agitatoren im Sinne der Partei verstanden, zum Beispiel Joachim Hellwig, Joachim Hadaschik oder Harry Hornig. Die zahlreichen politischen Auftragsarbeiten des DEFA-Dokumentarfilmstudios, unter anderem für das DDR-Fernsehen, bleiben daher hier weitgehend ausgespart.

Jenseits der filmhistorischen Bedeutung, die die Interviews zweifelsohne besitzen, gewinnt der Band zusätzlich an Eigenwert, weil sich die Filmemacher eben nicht nur zu ihrem filmischen Werk äußern, sondern vielmehr ihren gesamten Werdegang schildern. Die Gespräche bieten daher immer auch einen allgemeinen, biografisch geprägten Einblick in das Leben einer gesamten Künstlergeneration in der DDR. Ein Großteil der hier interviewten Regisseure hat zum Beispiel noch die Zeit des Nationalsozialismus oder zumindest das Ende des Krieges aktiv miterlebt. Viele blieben bewusst in der DDR – in der Hoffnung, dort am Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung mitwirken zu können. Der Verlust dieser Utopie wird in vielen Gesprächen als schmerzliche Erfahrung spürbar. „Ich habe zwar die große Aufbauphase nach 1945 enthusiastisch miterlebt und mitgestaltet“, erzählt beispielsweise Günter Lippmann, „bin dann aber mehr und mehr in Zweifel geraten und habe mich von dieser visionären Gutgläubigkeit innerlich abgesetzt. Ganz aus war es nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR. Insofern bin ich der Meinung – im Gegensatz zu Thomas Mann, der gesagt hat, der Antikommunismus sei die Grundtorheit des Jahrhunderts –, dass man heute sagen könnte: Kommunismus war der Grundirrtum des Jahrhunderts. Und wir alle sind Bestandteil dieses Irrtums. Und leben nun in einem Staat, der sich Bundesrepublik nennt.“ (S. 319) Nicht immer fällt der Rückblick so kritisch aus, wie in diesem Fall. Häufig schwingen auch melancholische und nostalgische Gedanken mit, beispielsweise an die einstige Kantine in der Otto-Nuschke-Straße, die in fast jedem Gespräch als eine Art „kreatives Zentrum“ des Dokumentarfilmstudios gewürdigt wird. Auch Enttäuschungen und Frustrationen sind spürbar, gerade mit Blick auf die Zäsur von 1989/90, die schlussendlich die Privatisierung des Studios durch die Treuhand zur Folge hatte. Während einige Regisseure auch nach der Wiedervereinigung eigenständig weiter Filme drehen konnten, war es für andere Filmemacher kaum möglich, sich auf die veränderten Produktionsbedingungen einzustellen. Bedenkt man, dass manche Karieren buchstäblich über Nacht zu Ende gingen, dann wirkt die wehmütige Haltung mancher Gesprächspartner durchaus nachvollziehbar. Für sie war die Auflösung des DEFA-Dokumentarfilmstudios nicht bloß das Ende einer Arbeitsstelle, sondern tatsächlich so etwas wie der Verlust ihrer „Heimat“.

Anmerkungen:
1 Der Band knüpft konzeptionell an ein anderes Buch mit Zeitzeugengesprächen an, das zum Spielfilm der DEFA entstanden ist, vgl. Ingrid Poss / Peter Warnecke (Hrsg.), Der ungeteilte Himmel. Schauspieler aus der DDR erzählen, hrsg. vom Filmmuseum Potsdam, Berlin 2009.
2 Vgl. Klaus Stanjek (Hrsg.), Die Babelsberger Schule des Dokumentarfilms, Berlin 2012.

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