C. Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937

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Titel
Ausgewählte Briefe 1884–1937, hrsg. v. Jürgen Stenzel u. Irene Aue-Ben-David.


Autor(en)
Brunner, Constantin
Erschienen
Göttingen 2012: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
639 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carolin Kosuch, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig

„Ich weiß nur so lange nicht, was ich will, als ich nicht weis [sic], was ich soll“ (S. 54), schreibt der junge Leo Wertheimer (das ist Constantin Brunner) 1884 über seine lange währende Suche nach seinem Platz in der Welt. Geboren 1862 in Altona, wuchs Brunner in einem prominenten, jüdisch-orthodoxen Umfeld auf und besuchte zunächst das Jüdische Lehrerseminar in Köln. Nach und nach distanzierte er sich jedoch von seinem eingeschlagenen Lebensweg, studierte Geschichte und Philosophie und befasste sich eingehend mit Spinoza, Kant und Hegel. Im Anschluss arbeitete er an einem Modell zur differenzierten Beschreibung des Denkens und der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten („Die Lehre von den Geistigen und vom Volk“, 1908) und publizierte zu jüdischen Fragen. Zunächst wirkte Brunner noch als Literaturkritiker, konnte sich aber bald durch die Unterstützung wohlhabender Mäzene auf sein geistiges Schaffen und die Pflege seiner Freundschaften konzentrieren. Niederschlag fand sein solchermaßen zurückgezogenes Leben in einem umfänglichen Briefwechsel, der jetzt mit der vorliegenden Publikation erstmals und zudem in einer parallelen Digitalausgabe1 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

Die Edition der Briefe stellte das Herausgeber-Duo insofern vor eine große Aufgabe, als Brunner selbst mehrfach ganze Konvolute vernichtete bzw. vernichten ließ, und weiter dadurch, dass seine gesammelte Korrespondenz ebenso wie die seiner Briefpartner in der NS-Zeit stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Außerdem moniert der einleitende, Überlieferung und Forschungsstand umreißende Teil der Edition das Fehlen grundlegender biografischer und systematisierender Forschungsarbeiten (S. 14). Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David begegnen diesen Umständen in ihren Annotationen zur chronologisch am Leben Brunners ausgerichteten Briefselektion mit viel Sachverstand und Spürsinn, können aber die bestehenden Lücken trotz der ausführlichen, besonders auf Brunners philosophische Arbeiten, das Tagebuch seiner Stieftochter Lotte Brunner und auf Antwortschreiben seiner Gesprächspartner zurückgreifende Fußnoten nicht immer überbrücken. Nicht zuletzt der erhabenen Sprache Brunners geschuldet, fällt es daher an einigen Stellen schwer, die Briefinhalte stringent nachzuvollziehen. Doch jenseits dieser Schwierigkeiten des Zugangs zu den edierten Quellen gelingt es den Herausgebern, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, Brunner in seinen zahlreichen Kontakten und Beziehungen abzubilden, auf die Themenvielfalt der Briefe hinzuweisen und zugleich seinen biografischen und „geistigen“ Werdegang nachzuzeichnen (S. 13f.). Eine kompakte Einführung in Leben und Werk Brunners und eine detaillierte Zeittafel im Anhang der Edition erleichtern den Zugang zu den edierten Quellen.

Die Briefedition präsentiert einen sich bewusst von der Welt abgrenzenden Philosophen, der mit Einzelnen, etwa Gustav Landauer, Lou Andreas-Salomé, Friedrich Kettner oder Otto Ernst, innige Freundschaften schloss, zu ihnen häufig aber und meist aufgrund inhaltlicher, ins Persönliche hineinragender Differenzen wieder auf Abstand ging. Diese Auseinandersetzungen nahm Brunner sehr ernst, wie beispielsweise ein mehr als fünfzigseitiger Brief an Landauer aus dem Jahr 1911 nahelegt. Stellenweise wäre ein stärkeres Eingehen auf diese interpersonellen Beziehungen – auch wenn diese häufig nur schwer zu rekonstruieren sein mögen – wünschenswert gewesen, da die persönlichen Bindungen in Brunners Leben nicht weniger wichtig waren als seine Philosophie, die wiederum durchweg fundiert in den Fußnoten expliziert wird. Etwas befremdet aber deren Zählung, die für jeden Brief von Neuem beginnt. Hin und wieder und gerade im ersten Teil fallen im Anmerkungsapparat zudem sich wiederholende Hinweise oder aber Erklärungen auf, die unmittelbar folgenden Briefen entnommen sind.

Die der Edition gewinnbringend beigegebenen Abbildungen der Korrespondenzpartner Brunners verweisen auf sein weit gespanntes Beziehungs- und damit Themennetz. Zusätzlich wird es durch ein im Anhang eingefügtes Namens-, Orts- und Sachregister weiter erschlossen. Frühe Briefe an Leo Berg, Paul Geisler und Frida Mond, seine Gönnerin, zeugen von Brunners intellektuellem Reifungsprozess und seiner beruflichen Ausrichtung, lassen aber auch den Mensch hinter dem Text sichtbar werden, der es etwa nur schwer ertragen konnte, fotografiert zu werden (S. 72f.). Weitere Schreiben bis 1908 kommentieren gleichsam die Entstehungsgeschichte der „Lehre von den Geistigen und vom Volk“, mit der Brunner sich selbst von vorgegebenen Denksystemen emanzipierte und sich über die gesellschaftliche Masse erhob. Die Verehrung, die ihm durch seine Familie – Lotte und Leonie Brunner – entgegengebracht wurde, fand ihre Entsprechung auch jenseits dieses intimen Kreises: Ganze Jünger-Zirkel gruppierten sich um den Philosophen, der selbst diese Tendenz nährte, z.B. wenn er in Briefen an Max Nordau sein Erweckungserlebnis hin zur inneren Einkehr schildert und sich als Mystiker begreift, von dem eine Wirkung ausgehe, die andere auf ihn aufmerksam mache (S. 162–166). In ausgewählten Meister-Schüler-Verhältnissen nahm Brunner sich die Zeit, mit seinen Anhängern zu korrespondieren und sie anzuleiten. Hier liegt auch ein besonderer Reiz der Briefedition, die die Weltschau des Philosophen als weitere Alternative auf dem sich aus der Säkularisierung heraus etablierenden Markt der Meinungen und Systeme zwischen Anarchismus, Darwinismus, Monismus und Zionismus ausweist. „Von [Rudolf] Steiner weiß ich nichts, als daß manche seiner Anhänger zu mir kamen, weil sie seinen Spiritismus nicht ertrugen“ (S. 386), kommentierte Brunner selbst seine Rolle.

Bei Kriegsausbruch reagierte der Philosoph offen patriotisch. Ab 1914 nehmen in den Briefen zudem die Themen Antisemitismus, Judentum, Emanzipation und Assimilation einen immer größeren Raum ein, wie besonders der kontroverse Austausch mit Martin Buber, Emil Grünfeld, Rose Ausländer und Walter Rathenau deutlich macht, mehr noch aber die Schreiben an führende Mitglieder des C.V. (Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens). Brunner lehnte den Zionismus als „Bastard aus völkischem Ideal und Ghetto“ (S. 434) rigoros ab, plädierte stattdessen in seinen Arbeiten, die im Schriftenverzeichnis des Briefwechsels aufgelistet sind, für eine unbedingte Emanzipation. Ablehnung und Vereinnahmung seines Denkens blieben aufgrund dieser Haltung nicht aus. 1933 schließlich ging Brunner, der Kommunismus und Faschismus als identische Phänomene kritisierte (S. 475), ins Exil nach Den Haag. Auch diese Zeit bilden die Briefe eindrücklich ab. Unterstützt von Freunden und Anhängern (besonders Walter Bernhard) fühlte er sich offenbar auch deshalb „rausgeschmissen aus der Gesellschaft“ (S. 517), weil Lotte Brunner, die bisher eine der wichtigsten Stützen ihres Stiefvaters gewesen war, den Haushalt der Eltern verließ. Ihr Wegzug wog im Exil umso schwerer. Trost fand Brunner in der Musik, in seiner Arbeit, die ihm allerdings aufgrund verschiedener Leiden zusehends schwerer wurde, am nachhaltigsten aber bei seinen ihn verehrenden Schülern, die sein Werk über den Tod ihres Lehrers 1937 hinwegretteten. Es bleibt zu hoffen, dass künftige Forschung die Bemühungen seiner Schüler weiterführen und die bestehenden Desiderate in Brunners Leben und Werk angehen wird. Die Briefedition hat hier Pionierarbeit geleistet.

Anmerkung:
1 <http://brunner.uni-goettingen.de/Start.html> (26.07.2013).

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