T. Nanz u.a. (Hrsg.): Politiken des Ereignisses

Cover
Titel
Politiken des Ereignisses. Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft


Herausgeber
Nanz, Tobias; Pause, Johannes
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inge Marszolek, FB9 Kulturwissenschaften, Universität Bremen

Der vorliegende Sammelband ist im Kontext der Tagung „Politiken des Medienereignisses“ entstanden, die 2010 im Rahmen des Gießener Graduiertenkollegs „Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ stattgefunden hat. Entsprechend der interdisziplinären Ausrichtung des Kollegs umfasst er Beiträge unterschiedlicher Disziplinen, vor allem der Medien- und Literaturwissenschaften. Historikerinnen und Historiker sind in der Unterzahl, was insofern bedauerlich ist, als dass – wie auch die Herausgeber in ihrem einleitenden Text betonen – das Spannungsverhältnis zwischen „Ereignis“ und „Struktur“ ein zentrales Moment der Historiografie nicht erst seit der Schule der Annales ist. Unter Bezug auf Reinhard Koselleck sprechen die Herausgeber von einem relationalem Verhältnis beider Kategorien zueinander, und führen zudem den Begriff der Erfahrung ein. Erst durch Erfahrung kann das Ereignis mit dem „Nicht-Wissen“ in Verbindung gebracht werden – es wird zum ‚Störfall’ (Alain Badiou). Es eröffnet damit den Raum für politisches Handeln und somit für Veränderungen, kann aber zugleich stabilisierende Wirkungen haben, wie Daniel Dayan und Elihu Katz für „Media Events“ herausgearbeitet haben.1 Auffällig ist, dass die Herausgeber sich zwar um die Bestimmung dessen, was ein politisches Ereignis ausmacht, bemühen, aber die Bedeutung der Medien, wie diese aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht von Nick Couldry und Andreas Hepp oder aus historischer Sicht von Frank Bösch herausgearbeitet worden sind, nicht weiter berücksichtigen.2 Genau das aber steht im Zentrum der Beiträge, worauf der Untertitel des Bandes verweist. Die Herausgeber haben hierzu drei Großüberschriften gefunden: „Formationen“, „Aushandlungen“ und „Prognosen“. Obgleich hierdurch eine gewisse Orientierung für den Leser geboten wird, bleibt der Eindruck großer Diversität der Forschungsfelder bestehen.

Der erste Teil „Formationen“ enthält vier Beiträge, die sich mit unterschiedlichen Medien – einem populären Roman (Alessandro Barberi), medialen Diskursen (Raphael Hörmann), Serialität von fotografischen Darstellungen (Jörg Probst) und einem NS-Kriegsfilm (Daniel Gethmann) – beschäftigen. Die Beispiele erstrecken sich auf unterschiedliche Themen und Räume: das Ereignis als Gegenstand der Recherche in „Pompeji“ von Robert Harris, das Weiterleben der kolonialistischen Narrative in der Berichterstattung über das Erdbeben von Haiti 2010, das Verschwinden des Ereignisses in den seriellen Fotografien des ‚Neuen Deutschlands’, und der Akteursstatus des Mediums Film. Letzterer wird am Beispiel des NS-Films „Im Kampf gegen den Weltfeind“, von Karl Ritter (1939) behandelt, der ex post die nationalsozialistische Beteiligung im Spanischen Bürgerkrieg als ästhetisches Medienereignis inszenierte und damit wiederum das Feld des Politischen veränderte.

Der zweite Teil „Aushandlungen“ vereinigt ebenfalls sehr unterschiedliche Beiträge: Ellinor Schweighöfer ist in der Wissensgeschichte, hier der Paläoanthropologie, zu verorten. Irina Gradinari beschreibt, wie 50 Jahre nach dem Geschehen – der Hungersnot in der Ukraine 1932/33 – dieses zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer „Medienereignisspirale“ (S. 162) wurde. Die Suche nach dem „einen“ ikonischen Bild für 9/11 wiederum bedinge, dass andere Fotografien, die das Hereinbrechen des Alltags fotografisch festhielten, als Provokation wahrgenommen wurden (Wim Peeters). Der vierte Beitrag von Zoran Tersić sticht deswegen hervor, weil er ein eher theoretischer Text zur Phänomenologie des Eklats ist. Terzić betont, dass das Ereignis vom Eklat her, der einen Bruch darstelle, durch den etwas anderes sichtbar werde, zu denken sei. Den drei erstgenannten Beispielen gemeinsam ist, dass diese auf komplexe Beziehungs- und Akteursbezüge verweisen. Schweighöfer diskutiert, inwiefern ein Ereignis, hier die Entdeckung des Piltdown-Schädels als vermeintlicher missing link in der Entwicklung des Affen zum Menschen, erst möglich wurde, weil nicht nur die Medien, sondern vor allem die Wissenschaftler es herbeigeschrieben hatten. Zu fragen ist, ob es nicht gerade die Entdeckung der Fälschung war, die es zu einem Medienereignis machte. Im Fall der Ukraine scheint die sprachliche Ähnlichkeit zwischen dem Begriff des „Holocaust“ und dem ukrainischen Wort für Hungersnot „Holodomor“ eine mediale Spirale hervorgebracht zu haben, die gedächtnispolitisch die Übertragung der Narrative und Bilder des Judenmordes auf das massenhafte Sterben in der Ukraine ermöglicht hat. Wim Peeters analysiert, welche Bilder aus dem Bilddiskurs zu 9/11 herausgefiltert wurden, und zwar durch die Fotografen selber, und wie andere zu Ikonen wurden, die in das Heldennarrativ der USA eingebettet werden konnten.

Die drei Beiträge des letzten Abschnitts befassen sich in unterschiedlicher Weise mit der Unvorhersehbarkeit des Möglichen. Shintaro Miyazaki argumentiert am Beispiel des AT&T-Crash von 1990 und des Flash Crash, bei dem 2010 aufgrund von computergesteuerten Transaktionen der amerikanische Finanzmarkt fast zusammenbrach, wie die Medien bzw. deren Algorithmen zu Akteuren und zu Medienereignisse selber wurden. Er zeigt aber auch, wie sehr die medientechnisch induzierten Ereignisse nicht vorhersehbar sind, was sie umso unheimlicher werden lässt. Ähnlich irritierend ist der Beitrag von Marian Kaiser, der am Beispiel von „Terminator 2“ argumentiert, dass der Atomkrieg im Film in der computerbasierten Animation zum darstellbaren Ereignis wird. Damit wird jede lineare Zeitlogik zugunsten einer zirkulären aufgehoben, ein wirkliches wird mit einem möglichen Ereignis verschmolzen. Leider hat Kaiser eine zentrale Frage in die Fußnote verbannt, nämlich inwiefern eine Politik der Simulation von Kriegen als avancierte Regierungstechnik nutzbar ist bzw. genutzt wird. Ulrike Heine untersucht anhand von zwei Beispielen, dem filmischen Essay "One Planet, One Chance“ und der Ausstellung „London Futures“ (hier insbesondere der fotografischen Inszenierung „London as Venice“), welche Rolle der „Tipping Point“ in der gegenwärtigen Klimadiskussion spielt. Sie sieht in den apokalyptischen Szenarien eine Form der Ermächtigung, die sowohl zu Hoffnung als auch zur depressiven Hoffnungslosigkeit führen kann.

Der Band bietet zweifellos einen anregenden Beitrag zu der Frage, in welcher Relation Medien und andere Akteure zur Inszenierung von Medienereignissen stehen und wie sich letztere durch ihre Bedeutungssysteme Vergangenheit und Zukunft erschließen. Positiv wie negativ zu bewerten ist das diverse Feld, das die Beiträge abdecken; nicht immer ist die Aufteilung zwischen den Abschnitten einsichtig, zugleich aber zeigt sich, wie erkenntnisbringend dieses Feld ist. Kritisch anzumerken bleibt zweierlei: Zum einen, dass, auch wenn in vielen der Beiträge deutlich wird, dass die Cross-Medialität das Ereignis zum Medienereignis werden lässt, dies nicht explizit gemacht wird. Zum anderen, dass ein bestimmter „kulturwissenschaftlicher Jargon“ die Lesefreude manchmal mindert.

Anmerkungen:
1 Daniel Dayan / Elihu Katz, Media Events. The Live Broadcasting of History, Cambridge 1992.
2 Vgl. Nick Couldry / Andreas Hepp, Introduction, in: Nick Couldry u.a. (Hrsg.), Media Events in a Global Age, New York 2009; Frank Bösch, Europäische Medienereignisse, Mainz 2010, in: Europäische Geschichte Online (EGO), <http://www.ieg-ego.eu/boeschf-2010-de> (26.7.2015).

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