P. Kennedy: Die Casablanca-Strategie

Cover
Titel
Die Casablanca-Strategie. Wie die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen. Januar 1943 bis Juni 1944


Autor(en)
Kennedy, Paul
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
24,95 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Querengässer, Leipzig

Wohl zu keinem anderen Ereignis wurde von der Geschichtswissenschaft so viel und intensiv publiziert wie zum Zweiten Weltkrieg. Das globale militärische Großereignis stellt immer noch ein zentrales Problem der amerikanischen, englischen, deutschen und russischen Forschung dar. Nachdem Jahr für Jahr Hunderte neuer Bücher auf allen Märkten erscheinen, die bedeutenden Zeitzeugen aber langsam sterben, womit diese Quellengruppe versiegt, stellt sich die Frage, ob die Wissenschaft wirklich noch neue Erkenntnisse gewinnen kann oder lediglich bestehendes Wissen durch neue Blickwinkel anders vermittelt.

Paul Kennedy nimmt für sich in Anspruch, nicht nur neue Perspektiven gewählt zu haben, sondern damit auch ein neues Forschungsobjekt ins Zentrum seiner Darstellung zu rücken: die „Problemlöser auf mittlerer Ebene“. Um wen es sich bei diesen handelt, macht der Autor in seinem Buch „Die Casablanca-Strategie“ (orig.: Engineers of Victory) aber nie so richtig klar. Der deutsche Titel ist nicht unbedingt schlecht gewählt, verweist er doch stärker als der englische Titel auf das, was im Buch verhandelt wird. Kennedy stellt einleitend die Frage, wie die Alliierten die Probleme, vor die sie sich nach der Casablanca-Konferenz gestellt sahen, lösen wollten. Es wäre allerdings hilfreich gewesen, den Ablauf dieser Konferenz etwas genauer zu schildern und den Plan der (West-)Alliierten genauer zu umreißen, als sich ausschließlich auf das Ziel der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und Japans zu kaprizieren. Eher indirekt leitet Kennedy aus diesem Hauptziel die Fragestellungen für seine eigenen Kapitel ab: 1. Wie schickt man Geleitzüge über den Atlantik?, 2. Wie erringt man die Luftherrschaft?, 3. Wie stoppt man einen Blitzkrieg?, 4. Wie erobert man eine feindliche Küste?, 5. Wie überwindet man die „Tyrannei der Distanz“ im Pazifik?

Die einzelnen Kapitel Kennedys orientieren sich an diesen Fragen und ignorieren die „Problemlöser auf mittlerer Ebene“ fast vollständig. Das Kapitel zum U-Bootkrieg ist eine Zusammenfassung der Atlantikschlacht, und zwar von Kriegsbeginn bis zum Kriegsende. Kennedy relativiert die Bedeutung entschlüsselter Enigma-Codes und hält dagegen, dass neue Geleitzugstaktiken viel mehr Bedeutung für den Sieg in dieser Schlacht besaßen. Diese Argumentation ist zwar durchaus schlüssig, es stellt sich allerdings die Frage, ob sie das Ergebnis erfolgreicher Problemlösung auf mittlerer Ebene war oder aber nicht einfach dem veränderten Denken in den zuständigen Kommandostäben entsprang. Auf die Entwicklung der Liberty-Schiffe geht Kennedy nicht ein. Zudem entsteht mitunter der Eindruck, als wolle er die Effizienz der U-Bootkriegsführung 1943 dramatisch überhöhen, um dann auch die Lösungsansätze der Alliierten in ein besseres Licht zu rücken. Dabei war Dönitz‘ Waffe für England nie so gefährlich wie die kaiserlichen U-Boote im Ersten Weltkrieg. Technische Lösungsmittel und ihre Entwicklung nehmen dabei gerade einmal fünf der über sechzig Seiten in diesem Kapitel ein.

Noch unwichtiger scheinen sie im Abschnitt über die Erringung alliierter Lufthoheit im Westen zu sein. Kennedy führt hier lediglich die Entwicklung des P 51 Mustang-Jägers an und diskutiert ansonsten die britische und amerikanische strategische Bombenkriegsführung, wobei er sich auch zu moralisierender Polemik hinreisen lässt. So schreibt er: „Man sollte sich aber erinnern, dass die ersten Terrorangriffe stattfanden, als japanische, italienische und vor allem deutsche Flugzeuge ihre Bomben auf die Zivilbevölkerung am Boden abwarfen. Wenn man ein Foto von Rotterdam nach dem Mai 1940 und Dresden nach dem Februar 1945 nebeneinander hält, wird man kaum einen Unterschied sehen - vielleicht ist in Rotterdam noch weniger stehen geblieben“. (S. 116).

War der Mustangjäger tatsächlich eine wichtige technische Innovation, so erstaunt es, dass Kennedy das Stoppen des Blitzkrieges anscheinend nur der Erfindung des Mienenräumgerätes zuzuschreiben scheint, denn dies ist die einzige Innovation, die er in seinem dritten Kapitel erläutert, das sich dann wiederum in strategische Debatten des Wüstenkrieges in Afrika und des Ostfeldzuges teilt. Auf russischer Seite behauptet der Autor, die Bedeutung des T 34-Panzers technisch zu relativieren, allerdings stellt sich die Frage, wo bei seinen Argumenten die technische Komponente zu finden ist („Es gab zu Beginn immer noch viel zu wenige T 34, sie wurden verstreut statt konzentriert eingesetzt, und die Besatzungen waren überwiegend unerfahren. [...] Häufig mussten sie schwierige Ziele angreifen und gerieten von allen Seiten in Hinterhalte“, S. 205) Was hat dies mit den Schwächen dieses Panzers zu tun? Diese werden nur durch einen amerikanischen (!) Testbericht von 1943 benannt, dem erstaunlicherweise mehr Bedeutung eingeräumt wird als den vielfältigen Erfahrungen deutscher Experten, die gegen dieses Modell kämpfen mussten.

Kennedys mangelhafte Zielfokussierung ändert sich auch im 4. Kapitel nicht, das eine Zusammenfassung alliierter Invasionsversuche in Afrika, Italien und Frankreich bietet. Wo bleiben die Problemlöser mittlerer Ebene? Es wäre hilfreich, wenn Kennedy aus den Reihen von Kompanie-, Regiments- oder Brigadeoffizieren, vielleicht auch den Planern aus verschiedenen Stäben, Spezialisten herausgearbeitet hätte, die bestimmte Aufgaben immer wieder übernahmen oder bestimmte taktische Modelle entwarfen und dadurch auf den Kriegsverlauf Einfluss nahmen. Eine Darstellung der hundertfach beschriebenen Ereignisse hat nicht wirklich einen wissenschaftlichen Mehrwert, auch wenn General Percy Hobarts „Scherzartikel (schwimmende Panzer, Minenräumpanzer e.t.c.) ihre Erwähnung finden.

„Es bleibt rätselhaft, warum den „Problemlösern“ des Zweiten Weltkriegs bisher relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde“ (S. 394-395), kritisiert Kennedy in seinen abschließenden Reflexionen. Viel rätselhafter bleibt, warum er selbst dies nicht tut. Das Buch skizziert stellenweise sehr oberflächlich, WAS diese Problemlöser entwickelt haben, aber erwähnt so gut wie nie, WER sie waren und WIE sie ihre Projekte oder Theorien entwickelten. Vielleicht war Kennedys Quellenbasis dafür zu dünn, stützt er sich doch bei vielen solchen Details eher auf Wikipedia-Artikel, die er deswegen auch für ihre Qualität lobt, anstatt auf die mehr als ausreichend vorhandene Literatur. Obskur bleibt auch seine Theorie, dass den „Problemlösern“ nur in der freiheitlich-demokratischen Welt die Chance gegeben war, ihre Ideen umzusetzen. Schließlich entwickelten sowohl die Achsenmächte ihre Militärtechnik (Tiger- und Pantherpanzer, Düsenjäger, Raketenwaffen) und Taktik weiter als auch die Sowjets. Auch der zeitliche Fokus, den Kennedy setzt und den der deutsche Untertitel unterstützt, bleibt eine unerfüllte Vorgabe, denn der Autor verwendet oft mehr Zeit auf die vorangehenden Ereignisse und gibt zudem einen ebenso ausführlichen Ausblick. Was bleibt, ist ein weiteres Buch, welches überblicksartig die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zusammenstellt, Verknüpfungen zwischen den einzelnen Schauplätzen herzustellen versucht und strategisch-politische Lösungen präsentiert; es kann aber den selbst gestellten Innovationsanspruch nicht einlösen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension