Th. Schnalke; Cl. Wiesemann (Hgg.): Die Grenzen des Anderen

Titel
Die Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive


Herausgeber
Schnalke, Thomas; Wiesemann, Claudia
Erschienen
Köln 1998: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gradmann, Institut fuer Geschichte der Medizin, Universitaet Heidelberg

Der vorliegende Band enthaelt sechs Beitraege, die aus einem 1993 in Erlangen zum Thema abgehaltenen Symposion hervorgingen und wer ihn in die Hand nimmt, ist gut beraten, den Titel genau zu lesen. Der im Titel gewaehlte Begriff der Perspektive verweist auf eine gewichtige Einschraenkung. Nicht um die Medizingeschichte der Postmoderne, sondern um den postmodernen Blick auf die Medizingeschichte geht es. In der Sache beziehen sich die Beitraege fast saemtlich auf historische Phaenomene der Jahre 1700 - 1850.

In ihrer Einleitung bezeichnet Claudia Wiesemann das postmoderne Denken als eine Herausforderung, dem Historiker Einiges abgewinnen koennen, auch wenn Geschichte - als tatsachenfeststellende und legitimierende Erzaehlungen produzierende Wissenschaft - sich nicht radikal darauf einlassen kann. Wiesemann plaediert stattdessen fuer einen instrumentellen Gebrauch, der gerade der Medizingeschichte enorme Moeglichkeiten bietet. Die postmoderne Infragestellung des Gegensatzes von Natur und Kultur eroeffnet faszinierende Moeglichkeiten vormals als natuerliche Objekte begriffene Gegenstaende, wie etwa Koerper oder Krankheiten, nun als historische zu begreifen.

Im Weiteren werden knapp methodische Ansaetze referiert und fuer den mit der Diskussion vertrauten wird naturgemaess wenig Neues geboten: Kurz umrissen werden Diskursanalyse (Foucault), Dekonstruktion (Derrida) und 'Metahistory' (White). Etwas detaillierter ist die Einfuehrung nur bei Foucault. Die Verfasserin nimmt diesen gegen eine allzu enge Assoziation mit der Medikalisierungshistorie in Schutz, die sich weit eher aus traditionellen Sozialdisziplinierungstheorien speisste. In Richtung auf die deutsche Medizinhistorie, in der der Band vornehmlich seine Leser finden wird, sicher eine notwendige Klarstellung. Insgesamt ist die Einleitung erkennbar nicht als Aufriss des Gesamtkomplexes 'Medizin und Postmoderne' konzipiert. Stattdessen entwickelt sie die Aufgabe, die sich Herausgeber und Autoren selbst gestellt haben: Die im einzelnen recht unterschiedlichen Beitraege werden auf die Frage nach "'dem Anderen' und nach der legitimierenden Kraft historischer Diskurse" (S.21) verpflichtet. In ihrer Summe sollen sie "das kreative Potential verdeutlichen, das die von der Postmoderne konstatierte Legitimationskrise auch in der Medizingeschichte freigesetzt hat." (S.21).

Francisca Loetz zeigt in ihrem Text ueber "Faktoren aerztlicher Inanspruchnahme in Deutschland 1780-1830" wie unangemessen moderne Vorstellungen ueber Arzt-Patient Beziehungen zur Analyse historischer Zusammenhaenge sind. Hatte sich die Medizingeschichte bislang ganz ueberwiegend auf die kleine Gruppe akademisch gebildeter Aerzte konzentriert, die sie auf eine recht exklusive Kundschaft bezogen und im Gegensatz zur den uebrigen Heilkundigen sah, so stellen die Ergebnisse von Loetz Studie dieses Bild gleich mehrfach in Frage: Die Inanspruchnahme akademisch gebildeter Aerzte durch Unterschichtklientel war finanziell erschwinglich und auch ueblich, die soziale Distanz der Aerzte zu solchen Patienten weit weniger bedeutend als angenommen und schliesslich beruht der vermeintliche Gegensatz von akademischer und Volksmedizin auf einer Ueberschaetzung normativer Quellen einerseits sowie auf der romantischen Verklaerung dieser Volksmedizin durch die juengere Sozialgeschichte andererseits. Geleitet von kulturell gepraegten Effizienzkriterien suchten die Patienten diesen oder jenen Heilkundigen auf. Loetz - und darin wird sie dem Anspruch des Bandes in besonderer Weise gerecht - begreift das medikale System der Zeit als seine eigene Norm. Teil dieses Systems war die akademische Medizin der Zeit, deren Status als Vorlaeuferin der modernen Medizin damit in Frage gestellt wird. Erklaerungsbeduerfig ist fuer Loetz weniger die stabile Eigengesetzlichkeit des Systems als der spaeter eingetretene Wandel. Dass dieser mit dem diskursanalytisch gepraegten Instrumentarium weitaus schwerer zu fassen ist, merkt die Verfasserin selbst kritisch an.

Michael Stollberg nimmt sich in seinem Beitrag ueber "Probleme und Perspektiven eine Geschichte der 'Volksmedizin'" der Geschichte dieses Gegenstandes an und begreift ihn als einen von Medizin und Medizingeschichte konstruierten. Er geht in zwei Schritten vor und zeigt zunaechst, dass sich der Gegensatz von Volks- und Schulmedizin im Zeitraum seiner Entstehung im fruehen 19. Jahrhundert als professionspolitisch motiviertes Konstrukt der akademischen Medizin und ihrer Klientel erweist: Es "gibt keine ueberzeugenden Belege dafuer, dass die breite, ueberwiegend laendlich angesiedelte Bevoelkerung in dem Bewusstsein lebte, einer besonderen 'Volksmedizin' anzuhaengen." (S.51) Auch der therapeutische Alltag des Zeitalters liefert wenig Anhaltspunkte fuer substantielle Unterscheidungen. Im weiteren laesst Stollberg dann die Forschungsgeschichte Revue passieren. In dieser erschien die Volksmedizin zunehmend heterogen und insbesondere in den Grenzen zur akademischen Medizin immer fragwuerdiger. Mit der umfassenden Kritik des Gegenstandes waere nun auch sein Begriff eigentlich hinfaellig. Ueberraschenderweise aber auch ueberzeugend plaediert Stollberg dennoch fuer die Beibehaltung des Begriffes, der "Perspektiven von grundsaetzlicher Bedeutung fuer die Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin insgesamt" (S.66) eroeffnet, da sich von ihm aus zukuenftig die vielfaeltigen Wirklichkeiten medikaler Praxis in den Blick nehmen lassen.

Sabine Sander untersucht in ihrem Text das Frauenbild im populaermedizinischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Sehr materialreich belegt die Verfasserin die Ambivalenz aufklaererischer Ideale im Hinblick auf Geschlechterrollen und die fortschreitende Marginalisierung der Frau als Folge der Akademisierung der Wissenschaften der Epoche. Deutlich wird der Widerspruch aufklaererischer Ideale zur Festlegung der Frau auf einen kindlichen Charakter und die Rolle als Hausfrau und Mutter. So erhellend Sanders Ausfuehrungen ueber die (latente) Misogynie der medizinischen Aufklaerung sind, wird der Text dem in der Einleitung formulierten Programm doch nicht gerecht. Zu sehr werden Rollenvorbilder und Idealvorstellungen in eine von der Gegenwart der Verfasserin her konstruierte Emanzipationshistorie eingeordnet. Die Feststellung etwa, dass "die Medizin instrumentalisiert wurde, um [...] Ansaetze einer Emanzipation der Frau im Keim zu ersticken" (S.94) ist um einiges vor einem diskursanalytischen Ansatz entfernt. Trotz grosser Staerken, die vor allem im Reichtum von Quellen und Literatur liegen, stellt sich der Beitrag nicht wirklich dem Thema des Sammelbandes.

Nelly Tsouyopoulos naehert sich in ihrem Beitrag einer der schillerndsten Figuren der Medizingeschichte der Epoche, dem schottischen Arzt John Brown und seiner Lebens- und Krankheitstheorie, die Reize als fundamental ansah und Krankheiten auf ein Uebermass oder einen Mangel an denselben zurueckfuehrte. Brown gilt als einer der wichtigsten medizinischen Aussenseiter um die Wende zum 19. Jahrhundert und Tsouyopoulos verwendet den konstruktivistischen Ansatz des Sprachspiels, um - auf Basis des bekannten Wissens - den Aussenseiterbegriff zu problematisieren. Nicht weil Brown 'unrecht hatte' bzw. widerlegt wurde, scheiterte er, sondern weil er ein neues Sprachspiel mit neuen Handlungskonsequenzen einfuehrte, dass die bestehenden in entscheidender Weise herausforderte. Nicht die 'Natur' als Referent entschied ueber die Triftigkeit von Argumenten, sondern deren Stimmigkeit im System des bestehenden Wissens. Es war also der Grad "seiner Gefaehrlichkeit fuer die Stabilitaet des Systems" (S.130), die Brown zum Aussenseiter werden liess, nicht das Wissen selbst. Je mehr sich ein Mitspieler vom Konsens der uebrigen entfernt, umso leichter kann er vom Spiel ausgeschlossen werden.

Thomas Schnalkes Beitrag "Zwischen den Zeilen. Medizinische Briefwechsel im 18. Jahrhundert" faellt vor allem durch den genauen Blick auf die Quellen seiner Untersuchung auf. Aus der Analyse eines Arztbriefwechsels vermag der Verfasser die scheinbar so selbstverstandliche Authentizitaet der Quellengattung Brief durch eine differenzierende und distanzierende Heuristik zu ersetzen, die die Arztbriefe des 18. Jahrhundert irrtuemlicher Selbstverstaendlichkeiten und Vorverstaendnisse entkleidet. Nicht nur im Eingehen auf die Frage, "was das Andere in diesen Zeilen ist" (S.144), laesst sich Schnalke auf die in der Einleitung formulierten methodischen Herausforderungen ein. Auch stilistisch ist der Text recht markant und versucht jenseits der ueblichen Wissenschaftssprache neue Wege zu gehen. Der herausgearbeiteten Fremdartigkeit der Briefschreiber des 18. Jahrhunderts tritt ein sehr persoenlicher moderner Autor gegenueber. Die Ich-Form und die in der Argumentation verwendete raeumliche Metaphorik spielen dabei eine grosse Rolle. Der Autor "moechte einige theoretische Gedankengaenge abschreiten" und "betritt (...) die Gegenwart des Historikers" (S.144). Solche Rhetorik ist sicher nicht jedermanns Sache. Dem Rezensenten hat es gefallen, nicht zuletzt, weil es der Sache dienlich ist: Die postulierte Fremdheit und Distanz des historischen Zusammenhangs zur Gegenwart des Verfassers (und des Lesers) wird durch die stilistische Praesenz des Autors rhetorisch kontrastiert.

In der Summe bemuehen sich die Beitraege im wesentlichen erfolgreich, ihre jeweiligen Gegenstaende unter Zuhilfenahme der methodischen Komplexe, die in der Einleitung entwickelt sind, abzuklopfen. Die im einzelnen sehr unterschiedlichen Texte, sie reichen von Fallstudien, wie bei Tsouyopoulos bis zu auf grosse Zusammenhaenge zielenden Interpretationen wie bei Loetz, zeichnen sich durch ein Methodenbewusstsein aus, dass in der Medizingeschichte bislang selten anzutreffen ist. Der formulierte Anspruch, Perspektiven aufzuzeigen, die die postmoderne Philosopie fuer die Medizingeschichte bietet, wird insofern eingeloest.

Auffaellig ist allerdings, dass mit Ausnahme vielleicht des Stollbergschen Beitrags, doch eher die Akteure der Medizingeschichte, also Aerzte, Heiler und Patienten im Mittelpunkt des Interesses stehen. Objekte (Koerper, Krankheiten, etc.) und deren Konstruktion etwa durch darstellende Technologien finden weniger Beachtung. Dabei haette sich auch im Rahmen der Epoche hier viel Interessantes finden lassen, angefangen beispielsweise bei der Veraenderung des Organismusbildes durch Einfuehrung des Stethoskops.1

Es ist somit eher eine postmodern revidierte Sozialgeschichte der Medizin, der im Band nachgespuert wird. Neue wissenschaftgeschichliche Arbeiten, die sich mit der Geschichte von Apparaturen (Wellenschreiber, Fiebertherometer) und der von ihnen geschaffenen Objekte (Blutdruck, messbares Fieber) befasst haben, spielen kaum kaum eine Rolle.2

Das ist nicht als grundsaetzliche Kritik an einem insgesamt gelungenen Baendchen aufzufassen, sondern als Hinweis darauf, dass die Reichweite der Anregungen, die Medizingeschichte von postmoderner Philosopie erlangen kann, ueber die in dem Band diskutierten Perspektiven noch um einiges hinausgeht.

Anmerkungen:

1 Jens Lachmund, Die Erfindung des aerztlichen Gehoers. Zur historischen Soziologie der stethoskopischen Untersuchung, Zeitschrift fuer Soziologie, 21 (1992), 235-251.

2 Einfuehrend: Volker Hess, Gegenstaendliche Geschichte? Objekte medizinischer Praxis - die Praktik medizinischer Objekte, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (eds.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt/M. 1998, 130-152.

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