Titel
Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen


Autor(en)
Wolf, Gerhard
Reihe
Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Johannes Frackowiak, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden

Die nationalsozialistische Volkstums- und Germanisierungspolitik in den besetzten Ländern Ostmitteleuropas während des Zweiten Weltkrieges stellt einen wichtigen Teilbereich der NS-Besatzungspolitik dar, der engsten Bezug zur Ideologie des Nationalsozialismus aufweist. Eine diesbezügliche Studie hat Gerhard Wolf vorgelegt, dessen Interesse sich auf das von Deutschland annektierte Westpolen richtet, das ab 1939 zum „‚Exerzierplatz‘ nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik“ (S. 9) mutierte.

Wolf geht von dem Befund aus, dass die „Deutsche Volksliste“, die „im Zentrum aller nationalsozialistischen Bemühungen [stand], die Bevölkerung in den annektierten westpolnischen Gebieten zu germanisieren und eine ‚deutsche Volksgemeinschaft‘ durchzusetzen“ (S. 14), bis zum Kriegsende fast drei Millionen Bewohner dieser Gebiete als „Deutsche“ registrierte. Er fragt, wieso „die praktizierte Selektionspraxis nicht den Vorgaben Hitlers gefolgt war und sich auf die ‚Germanisierung des Bodens‘ beschränkte, sondern offensichtlich auf die Assimilierung von Nichtdeutschen zielte, sodass sich Himmler zu einer nachträglichen Kurskorrektur genötigt sah und den Ausschluss ‚blutsmäßig unerwünschter Elemente‘ fordern musste“, und „welche Rolle […] ‚Rasse‘ als Selektionskriterium [spielte]“ (S. 13). Neben der Deutschen Volksliste wird auch die Tätigkeit der Umwandererzentralstellen untersucht, welche die Erfassung und Deportation der „Fremdvölkischen“ als einen weiteren wichtigen Aspekt der Germanisierungspolitik des Nationalsozialismus im annektierten Westpolen durchführten. Darüber, wer zu welchem Zeitpunkt deportiert wurde, entschieden entgegen Himmlers Bemühungen, „Rasse“ als zentrales Selektionskriterium durchzusetzen, „in der Regel nicht rassische, sondern eher pragmatische Kriterien“ (S. 15).

Nach Ansicht von Gerhard Wolf widerspricht dieser Befund „einem historiographischen Trend, […] der der nationalsozialistischen Ideologie und hier vor allem ihrem […] rassischen Kern eine neue (alte) Erklärungskraft zuschreibt“ (S. 15f.). Eine Vielzahl von Studien lasse das nationalsozialistische Deutschland „heute vor allem als […] ‚racial state‘ erscheinen“ (S. 16). Hingegen untersucht Wolf die nationalsozialistische Germanisierungspolitik „im Spannungsfeld von ideologischen Prämissen und herrschaftsrationalen Anforderungen“ (S. 21).

Wolf gibt zunächst einen Überblick über die geistigen Vorläufer der Umsiedlungs- und Germanisierungspolitik des Nationalsozialismus im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik. Im Zuge des Überfalls auf Polen 1939, der im Verständnis der NS-Führung „den Beginn einer Auseinandersetzung um die endgültige Sicherung der Lebensgrundlagen des deutschen ‚Volkes‘“ markierte, sei dann die „Projektion der ‚Lebensraum‘-Dystopien auf Polen“ erfolgt (S. 75). Der Absicherung der Besatzungsherrschaft in den ersten Monaten dienten Umsiedlungsaktionen wie die gescheiterte Nisko-Aktion zur Deportation von Juden aus den annektierten Gebieten und die anschließende Etablierung eines Umsiedlungskreislaufs in Form von Deportation der „unerwünschten“ einheimischen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch „Volksdeutsche“ aus Osteuropa, wobei die Selektionskriterien für Deportationen „einer herrschaftsfunktionalen Logik verpflichtet“ (S. 126) waren. „Das zentrale Ziel“ blieb aber auch hier „die Germanisierung der annektierten Gebiete“ (S. 191).

Anhand der Frage der Deportationen beschreibt Wolf die schnell einsetzenden Zielkonflikte vor allem zwischen den Planern des Reichssicherheitshauptamts, die auf die Abschiebung einer so großen Zahl von jüdischen Polen wie möglich hinarbeiteten und damit rassische Selektionskriterien präferierten, und NS-Funktionären, die im Interesse der Unterbringung der anzusiedelnden „Volksdeutschen“ die Abschiebung von christlichen Polen aus ländlichen Gebieten befürworteten. Zusätzlich sollten sich die Deportationen zunehmend an den Erfordernissen der deutschen Kriegswirtschaft ausrichten. Im Rahmen des zweiten Nahplans wurden als entscheidende Neuerung rassische Musterungen seitens der Umwandererzentralstelle Bestandteil des Deportationsvorgangs. Parallel dazu etablierte Heinrich Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ein sogenanntes Wiedereindeutschungsprogramm. Mit dessen Einführung entfaltete „die rassische Dystopie, die Behandlung der einheimischen Bevölkerung von einem individuellen ‚Rassewert‘ abhängig zu machen, […] erstmals praktische Wirkmächtigkeit“ (S. 228).

Die Einstellung der Deportationen ins Generalgouvernement erfolgte im März 1941 im Zuge der Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion. Wolf setzt sich bei der Benennung der Gründe dafür von der bisherigen Literatur ab, die „etwas einseitig“ unter anderem auf „Proteste der Wehrmacht“ abstelle, die „alle Transportkapazitäten für sich reklamierte“ und sich „über die sicherheitspolitischen Auswirkungen der Deportationen auf das Aufmarschgebiet Generalgouvernement besorgt zeigte“ (S. 261). Dem hält er den „rasant wachsenden Bedarf an Arbeitskräften sowohl in den annektierten Gebieten als auch im Deutschen Reich“ entgegen. Dieser habe den dritten Nahplan zum Scheitern verurteilt, „bevor die Überlastung des Schienennetzes ihn auch praktisch beendete“ (S. 262).

Der Überfall auf die Sowjetunion markierte auch in der NS-Politik gegenüber der einheimischen Bevölkerung, deren Unterstützung in einem längeren Krieg unerlässlich schien, eine entscheidende Wende. Mittels der Deutschen Volksliste wurden nunmehr weite Bevölkerungsteile inkludiert, die nach Wolf „einem Assimilierungsdruck unterworfen“ wurden, „der in der deutschen Geschichte ohnegleichen war und seine preußischen Vorläufer bald in den Schatten stellte“ (S. 377). Die Geschichte dieser im März 1941 in allen annektierten Gebieten Polens eingeführten Institution beschreibt er als eine permanente Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Machtzentren des NS-Staates um die Kriterien deutscher Staats- und Volkszugehörigkeit, die bis Kriegsende fortdauern sollte. Als Konfliktparteien traten das Reichsinnenministerium, der SS-Komplex um Himmler sowie die Gauleiter der annektierten Gebiete in Erscheinung.

Für Gerhard Wolf stellen die erwähnten Auseinandersetzungen einen Konflikt um zwei konkurrierende Entwürfe der deutschen Volksgemeinschaft dar: „Rasse“ und „Volk“ (S. 266). Das Reichsinnenministerium hatte in einem Erlass zur Staatsangehörigkeit im November 1939 ein zweistufiges Verfahren angeordnet: Ermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit nach dem Bekenntnis als Angehöriger des deutschen Volkes, was anhand relativ „weicher“, eher kultureller Kriterien zu bestätigen war, und darauf basierend Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit. Die Gauleiter unternahmen bei der Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit bereits 1939 Alleingänge. So band zum Beispiel die von Arthur Greiser etablierte „Deutsche Volksliste Wartheland“ diese Feststellung in erster Linie an das „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“ und damit an eine vergangene und zu erwartende soziale Praxis und nicht an biologische Kriterien, wie sie in einem „Rassestaat“ zu erwarten gewesen wären, in zweiter Linie an deutsche Abstammung, nicht aber an „Rasse“ (S. 273).

Die im Gegensatz dazu von Himmler in seinem „Erlass zur Überprüfung und Aussonderung der Bevölkerung“ vom September 1940 vorgenommene rassische Aufladung der ursprünglichen Kriterien des Reichsinnenministeriums war nicht nachhaltig, weil die Gauleiter die in ihren Territorien bereits praktizierten Verfahren nur formal an die reichsweit eingeführte Deutsche Volksliste anglichen, ihre eigenen Selektionskriterien jedoch beibehielten. Wolf kann zeigen, dass die von Himmler im September 1941 angeordnete rassische Überprüfung der Volkslistenangehörigen der Abteilung 3 von den Gauleitern Oberschlesiens und Danzig-Westpreußens weitgehend torpediert wurde und selbst Greiser, der Himmlers Ansinnen nicht völlig ablehnend gegenüberstand, auf einer Trennung zwischen Deutscher Volksliste und rassischen Überprüfungen bestand, um die Bevölkerung seines Gaues nicht zu beunruhigen. Wolf setzt sich partiell von Isabel Heinemann ab, die davon ausgegangen war, dass der größte Teil der beinahe zwei Millionen zur Überprüfung Vorgesehenen auch tatsächlich überprüft wurde.1 Nach Wolfs Auffassung können nicht mehr als 150.000 Personen durch die Eignungsprüfer des Rasse- und Siedlungshauptamts selektiert worden sein (S. 453).

Mit seinem Versuch, die Germanisierungspolitik der Nationalsozialisten vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes zwischen Ideologie und herrschaftsrationalen Anforderungen in den annektierten Gebieten zu erklären, hat Gerhard Wolf eine etwas gegen den Strich bisheriger Forschungsarbeiten gebürstete Interpretation vorgeschlagen. Dieser ist weitgehend zuzustimmen, insbesondere im Hinblick darauf, ob das nationalsozialistische Deutschland tatsächlich als „Rassestaat“ aufgefasst werden kann. Ob man der Auffassung folgen muss, der Konflikt um die Kriterien für die Selektion der einheimischen Bevölkerung sei nicht eine Kontroverse zwischen Ideologen und Pragmatikern, sondern zwischen rassischen und völkischen Ideologen gewesen (S. 480), sei dahingestellt. Wenn es bei bestimmten Exponenten des NS-Systems eine gedankliche Anknüpfung an ältere Konzepte deutschen Volks- und Kulturbodens gegeben hat, wie Wolf argumentiert (S. 485f.), so schloss dies zugleich eine pragmatische Herangehensweise ihrerseits nicht aus, beförderte eine solche vielleicht sogar. Die Assimilation von Millionen „Fremdvölkischer“ im annektierten Westpolen jedenfalls spricht für einen gehörigen Pragmatismus von Teilen der nationalsozialistischen Funktionsträger angesichts der Anforderungen von Besatzungsherrschaft und Krieg, auch wenn dieser möglicherweise ideologisch flankiert wurde. Insgesamt sind Gerhard Wolfs Einsichten eine große Bereicherung für die Forschung auf dem für die Erkenntnis der Funktionsweise des NS-Systems eminent wichtigen Feld der nationalsozialistischen Germanisierungs- und Volkstumspolitik im besetzten Ostmitteleuropa.

Anmerkung:
1 Isabel Heinemann, Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 260.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension