Titel
Endlich wieder leben. Die fünfziger Jahre im Rückblick von Frauen


Autor(en)
Hirsch, Helga
Erschienen
München 2012: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irene Stoehr, Berlin

Gegen den schlechten Ruf der 1950er–Jahre arbeiten Zeithistoriker schon seit längerem an, aber nach wie vor wird die erste Dekade der Bundesrepublik Deutschland in der Öffentlichkeit mit Verlogenheit und geistiger Enge, sexueller Repression, ungleichen Bildungschancen und rigiden Geschlechterrollen assoziiert.

Ein Meilenstein im Prozess der Neubewertung war demgegenüber der Sammelband „Modernisierung im Wiederaufbau“ von 1993. Darin wird statt der genannten Zuschreibungen ein breites Spektrum der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik präsentiert, in dem allerdings Geschlechterverhältnisse und Frauengeschichte keinen Ort hatten.1 In neueren Gesamtdarstellungen dominiert das Interesse, eine Erfolgsgeschichte der – zunehmend demokratisierten und liberalisierten – Bundesrepublik zu schreiben.2 Eine Geschlechterperspektive auf diese Epoche, insbesondere die 1950er–Jahre, fehlt auch hier; sie wird eher in Einzelstudien realisiert.3 Umso mehr ist ein Band zu begrüßen, der „die Doppelgesichtigkeit der fünfziger Jahre aus Sicht der Frauen“ (Klappentext) in den Blick nimmt und dabei nicht nur auf die alte Bundesrepublik schaut. Die Publizistin Helga Hirsch lässt in ihrem Buch neun Frauen zu Wort kommen, die die fünfziger Jahre als Jugendliche bzw. junge Erwachsene erlebt haben. Vier blicken auf die DDR zurück; zwei von ihnen sind allerdings in den Westen geflohen. Jeder dieser individuellen Rückblicke wird als „Beispiel“ für das Thema eines Kapitels präsentiert, mit dem sich zunächst die Autorin auseinandersetzt. Es geht um Geschlechterbeziehungen, Sexualmoral und westlichen Wohlstand, um geistige Enge und neues Lebensgefühl; um Flucht und politische Verfolgung, um DDR-Frauenpolitik und BRD-Familienpolitik sowie um NS-Vergangenheiten.

Trotz der geringen Zahl der Protagonistinnen beeindruckt die Vielfalt erinnerten Lebens, die in unterschiedlicher Weise aufeinander bezogen werden kann: Beispielsweise prägte die Freund-Feind-Dichotomie des Kalten Krieges die politische Identität zweier der insgesamt drei späteren Hochschullehrerinnen. „Uns vereinte eine Antipathie gegen die Sowjetunion und ihre Ideologie“, berichtet die eine (S. 43), „Wir glaubten fest: ‚Die Partei hat immer recht‘“, die andere (S. 109).

Staat und Politik sind in den Erinnerungen an die frühe DDR zentral, allerdings mit gegensätzlicher Bewertung: sehr positiv für die parteigläubige Traumkarriere von Herta Kuhrig in der Akademie der Wissenschaften zur wissenschaftlichen Fundierung der DDR-Frauenpolitik. Ungerecht und brutal zeigt sich der Staat dagegen in der aufwühlenden Geschichte der fast vierjährigen Verfolgung, Gefangenschaft und Folterung von Anita Gossler, die bei ihrer Verhaftung – wegen angeblichen illegalen Waffenbesitzes ihres Verlobten – neunzehn Jahre alt war. Für Rosemarie Heise, die Dresdener Tochter antifaschistischer Eltern, war der Antifaschismus der DDR trotz später wahrgenommener Anzeichen von Antisemitismus mehr als ein Gründungsmythos. Der realsozialistischen Politik, die sie zeitweise aktiv unterstützte, bewahrte sie bis zur Auflösung der DDR eine kritische Loyalität. Heidi Lüneburg kommentiert dagegen ihre Flucht als 13jährige mit Mutter und Bruder in den Westen 1953 als Glück: Eng mit der evangelischen Kirche verbunden, hätte sie in der DDR nicht studieren können. Hier fällt auf, dass ein fünfter Beitrag zur DDR dem Buchprojekt gut angestanden hätte: die Erinnerungen einer Frau, die sich – wie vermutlich die Mehrheit – mit dem Leben in der DDR arrangiert hatte.

Als unpolitisch beurteilt die feministische Hochschullehrerin Christina Thürmer-Rohr ihre 1950er–Jahre in Bethel bei Bielefeld und als Psychologiestudentin in Freiburg. „Demokratie“ sei für sie damals noch ein „leeres Wort“ gewesen. Stattdessen hatte sie ein großes Freiheitsbedürfnis nicht in einem politischen Sinn. Sie war fasziniert von „existentialistischen Ideen“ einer individuellen Ungebundenheit und Selbstverantwortlichkeit (S. 25). Dieser Eröffnungsbeitrag bringt ein Lebensgefühl des individuell befreienden Aufbruchs zum Ausdruck, das im titelgebenden Schlussbericht – als Generationsgefühl – wieder auftaucht: Gudy Fichelscher, die sich für den Jazz begeisterte, erinnert sich: „Auf allen Ebenen suchten wir nach Identität, nach Selbstständigkeit, einfach nach uns selbst. Wir wollten Freiheit, aber auch Romantik“. (S. 266) Mit einem ganz anderen Freiheitsbegriff identifizierte sich Roswitha Wisniewski: „Wir fühlten uns als Vorposten der Freiheit, wie eine verschworene Gemeinschaft, die das freie Berlin verteidigt, bis es Teil des ganzen, demokratischen Deutschlands werden würde.“ (S. 52) Als Jugendliche in der „Frontstadt“ West-Berlin, positioniert sie sich als einzige der Westfrauen zur antikommunistischen Mainstream-Politik. Die Politik-Abstinenz der anderen West-Berichte bestätigt implizit die Vermutung, dass die Reichweite des Paradigmas Kalter Krieg als Erklärungsmuster für die Gesellschaft der fünfziger Jahre wahrscheinlich geringer ist als häufig angenommen.4

Helga Hirsch gibt informative Überblicke zu den Kapiteln auf der Grundlage von Sachbüchern und Romanen, Zeitschriften und nicht veröffentlichten Interviews. Obwohl das Buch keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, hätte ich mir häufiger Nachweise gewünscht. Bei welcher Gelegenheit beschimpft z.B. Ulbricht die „Junge Gemeinde“ der DDR als fanatische „Anhänger der Nato und des Klerikalismus“, die “für Gott und Adenauer“ sterben (S. 148)? Und woher stammt das Zitat? Häufig ergänzen die Einführungen die Erinnerungsberichte um wichtige Informationen; nicht immer passen allerdings die „Beispiele“ zu den Themen, für die sie stehen sollen, am wenigsten im Kapitel „Frau, Ehe und Familie“. Hirsch führt es mit einem Essay über vaterlose Familien und starke Frauen der Nachkriegszeit, die rückständige Familienpolitik der BRD und die prekäre Situation der „überzähligen“ Frauen ein. Doch in der Beispielsgeschichte kommen Familie, Ehe und selbst Frauen nicht vor; die 1929 Geborene bleibt unverheiratet und kinderlos, berichtet auch nicht über ihre Herkunftsfamilie. Im Kapitel „Über sittliche und unsittliche Beziehungen“ beschreibt Hirsch die Reaktion der Öffentlichkeit auf „Amiliebchen“ und „Onkelehen“. Tatsächlich geht es der „Beispiel“-Frau weniger um den ihr wegen seines Aussehens peinlichen „Onkel“, mit dem die Mutter unverheiratet zusammenlebte, sondern mehr um den gesellschaftlichen „Abstieg“ ihrer Familie zur „Weiberwirtschaft“ wie sie das enge Zusammenleben von Mutter, Großmutter und Töchtern abfällig bezeichnet.

Gut gelungen ist das Kapitel „Aufbruch in den Wohlstand“. Die Erinnerungen von Käthe Dippel zeigen sie als mithelfende Akteurin einer klassischen Wirtschaftswundergeschichte beim arbeitsintensiven Aufbau eines großen KFZ-Familienbetriebes aus ärmlichen Verhältnissen. Der Bericht weiß weder von individueller Freiheitssehnsucht noch von einer politischen Freiheit, die verteidigt werden muss. Er bilanziert stattdessen das eigene Leben mit einem Statement, das als ein bundesrepublikanischer Gründungsmythos gelten kann: „Wer mehr haben will, muss auch mehr leisten […] Man muss aber ehrgeizig und diszipliniert sein, und man muss Verantwortung übernehmen“. (S. 197) Hirsch schickt diesem Beitrag ihre Einschätzung des „Wirtschaftswunders“ voraus und stellt Dippels Lebensgeschichte in den Kontext „der Tatkraft ‚kühner Männer‘“ – und Frauen wie Aenne Burda und Beate Uhse.

Der Erkenntnisgewinn des Buches wird allerdings durch die Ungewissheit begrenzt, um welche Art Texte es sich bei den „Beispielen“ überhaupt handelt. Sind es Aufzeichnungen von Gesprächen oder wurden Manuskripte verwendet? Welche Vorgaben waren zu berücksichtigen? Wurden die Erinnerungen durch Nachfragen geleitet? Wurden sie anschließend bearbeitet und von wem? Helga Hirsch verzichtet unverständlicherweise auf eine Einleitung oder ein Nachwort mit entsprechenden methodischen Hinweisen. Die Rückblicke nicht zu kommentieren, war dagegen eher eine weise Entscheidung: Es kann ein zusätzlicher Reiz der insgesamt anregenden Lektüre sein, sich die Signifikanz der Erinnerungstexte selbst zusammenzureimen. Erkennbar werden Unterschiede, beispielsweise im Verhältnis von Zeitzeugenschaft und individueller Lebensbilanz. So tritt die Neigung, den 1950er–Jahren eine besondere Bedeutung für eine erfolgreiche Biographie zu geben, in einigen Westgeschichten stärker hervor, dagegen ein Ringen um Selbst-Verständnis bzw. Rechtfertigung bei den beiden DDR-Vertreterinnen. Insgesamt stehen die neun Beispiele für eine ziel- und selbstbewusste junge Frauengeneration in den 1950er–Jahren, die sich auf unterschiedliche Weise von den Lebenskonzepten ihrer Mütter entfernt.

Anmerkungen:
1 Axel Schildt / Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.
2 U.a. Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1999; Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.
3 Z.B. Christine v. Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienst. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969, Göttingen 1999; Carola Sachse, Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939–1994, Göttingen 2002; neuerdings Julia Paulus / Eva-Maria Sillies / Kerstin Wolff (Hrsg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2012.
4 Irene Stoehr, Kalter Krieg und Geschlecht. Überlegungen zu einer friedenshistorischen Forschungslücke, in: Benjamin Ziemann (Hrsg.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, S. 133–145, hier S. 141.

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