S. Tilly u.a. (Hrsg.): Automobilindustrie 1945–2000

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Titel
Automobilindustrie 1945–2000. Eine Schlüsselindustrie zwischen Boom und Krise


Herausgeber
Tilly, Stephanie; Triebel, Florian
Reihe
Perspektiven. Schriftenreihe der BMW Group – Konzernarchiv 5
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VI, 433 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingo Köhler, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Automobilbranche ist seit langem fester Bestandteil der historischen Industrie- und Unternehmensforschung. Gleichwohl überwiegt speziell in Studien zur deutschen Pkw-Industrie das einseitige Narrativ einer Erfolgsgeschichte, mit der sie sich um Wachstum und Wohlstand im westdeutschen Wiederaufbau nach 1945 verdient gemacht hat. Verlässt man die Zeit des so genannten Wirtschaftswunders, werden die historischen Analysen jedoch deutlich rarer. Hier setzt der Sammelband von Stephanie Tilly und Florian Triebel an. Basierend auf den Ergebnissen einer Tagung des Bochumer Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte und der BMW Group Classic fokussiert er bewusst auf eine Branchengeschichte „im Spannungsfeld zwischen Boom und Krise“ (S. 1). Die Autoren nehmen die Herausforderungen in den Blick, vor die sich die Automobilhersteller angesichts multikomplexer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Transformationen in der zweiten Hälfte, mehr noch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gestellt sahen.

Dem Leser wird die Orientierung im Band durch ein klares Gliederungsschema erleichtert. In einem ersten Themenblock reihen sich drei Fallstudien zu den bekanntesten deutschen Automobilherstellern aneinander. Sie zeigen in einem Querschnittvergleich, dass der Marktwandel die Unternehmen vor unterschiedliche Probleme stellte. Manfred Grieger erkennt bei Volkswagen seit Mitte der 1960er-Jahre Vorboten einer „Doppelkrise“. Mangelnde Einsicht in die veränderten Umfeldbedingungen paarte sich mit Problemen der Geschäftsführung, drängende produktions- und personalpolitische Anpassungen adäquat an die Belegschaft zu vermitteln. Die Blockade ließ sich erst durch die Implementierung einer auf Kooperation setzenden Corporate Governance lösen, welche Krisenbekämpfung mit Aspekten der Mitbestimmung kombinierte. Daimler-Benz, betont der Beitrag von Elfriede Grunow-Osswald, profitierte in der Ölpreiskrise von einer weniger krisenreaktiven, weil einkommensstarken Kundschaft, reduzierte seine Krisenanfälligkeit aber zudem durch eine strikte Qualitäts- und Internationalisierungsstrategie, die auch den Nutzfahrzeugbereich einschloss. BMW profitierte hingegen davon, dass das Unternehmen aufgrund produktpolitischer Fehler schon gegen Ende der 1950er-Jahre eine existenzbedrohende Absatzkrise durchlebt hatte. Florian Triebel unterstreicht, dass diese Erfahrung in den 1970er-Jahren half, die richtige Mischung aus einem situativen und langfristig strategischen Krisenmanagement zu finden. Abschließend weitet der Beitrag von Stephanie Tilly den Blick auf die Zuliefererbeziehungen der Branche. Basierend auf einem reflektierten institutionenökonomischen Analyserahmen zeigt sie, dass sich die geschäftlichen Kooperationsformen „nach dem Boom“ wandelten und im Spannungsfeld zwischen Kosteneffizienz und Vertrauensbildung neu austariert werden mussten. Krisenanpassung drückte sich hier insbesondere in neuen Konstellationen der Arbeitsteilung und einer Stärkung von Kontrollmechanismen aus, durch die die steigenden Unsicherheiten der Marktentwicklung entlang der Wertschöpfungskette weitergegeben, aber zugleich auch systemisch aufgefangen wurden.

Der zweite Themenbereich umfasst die Krisenerfahrungen internationaler Automobilkonzerne. Den Branchenstudien von Reinhold Bauer zu den USA, Anders Clausager zu Großbritannien, Jordi Catalan und Tomàs Fernándes zu Spanien sowie der Fallstudie des schwedischen Volvo-Konzerns von Gunnar Flume ist gemeinsam, dass sie eine fast schon autistische Fixierung auf die jeweiligen Heimatmärkte als Ursache für eine verspätete Modernisierung und Internationalisierung der Produktions- und Produktstrategien ausmachen. Die „Big Three“ (Ford, GM, Chrysler) der nordamerikanischen Automobilindustrie setzten allzu lange auf chromgestylte Großwagen, die lediglich auf den speziellen Kundengeschmack und Infrastrukturbedingungen vor Ort ausgerichtet waren. Als sich die Nachfrage seit den späten 1960er-Jahren nicht zuletzt durch den erhöhten Zweitwagenbedarf auch nach unten, in Richtung kompakterer Modellklassen bewegte, schafften sie es nur mit einiger Anstrengung die nötigen Prozess- und Produktinnovationen umzusetzen. Bei den britischen Herstellern führten Design- und Qualitätsprobleme ihrer Volumenmodelle gar zu einer weitgehenden Marginalisierung durch innovativere europäische und japanische Konkurrenten.

Die Enge der eigenen Binnenmärkte prägte dagegen die Entwicklung der Automobilindustrie in Spanien und Schweden. Bis in die 1970er-Jahre blieb die Branche als Teil eines nationalen Industrialisierungsprojektes hochgradig staatlich reguliert, ehe im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Annäherung an die Europäische Gemeinschaft durchgreifende Liberalisierungsschritte vollzogen wurden. Die lange Begrenzung auf den Binnenmarkt schwächte in der Gesamtschau die Wachstums- und Innovationspotentiale der spanischen Autobauer, die in der Folge nur durch eine Aufgabe ihrer unternehmerischen Selbständigkeit notwendige Modernisierungsschritte vollführen konnten. Auch im Fall Volvo war die Nische, die sich das Unternehmen auf den Weltmärkten mit hochwertigen, sicherheitsorientierten Fahrzeugen erschließen konnte, zu klein, um Skaleneffekte zu realisieren und kosteneffizient zu produzieren. Die Überlebensstrategie des Unternehmens lautete auch hier, den Anschluss an einen internationalen Partner zu suchen. Der Globalisierungsschub der 1970er-Jahre zwang, so mag man zusammenfassen, zur Größe und zur Abkehr von nationalen Produkt- und Produktionsmustern. Der Weltmarkt und die globale Neuordnung der Wertschöpfungsketten bargen somit zugleich Chancen und Risiken.

Im dritten Abschnitt wechselt die Perspektive zu den Einwirkungen der ökonomischen Wechsellagen auf die Gestaltung der industriellen Beziehungen in der Automobilindustrie. Der Beitrag von Thomas Haipeter bietet einen ebenso detailreichen wie gut strukturierten Überblick über Kontinuitäten und Brüche im deutschen Modell. Dabei erkennt er für die Automobilbranche einen schrittweisen Übergang von institutionalisierten Regulierungsmodi hin zu voluntaristischen Aushandlungsprozessen. So verfolgten die gewerkschaftlichen Interessenvertretungen zunehmend das Ziel, durch betriebsspezifische Partizipationsstrategien die mangelnde Durchsetzbarkeit von Flächenregelungen zu kompensieren. In dieses Bild passen auch die Ausführungen von Anna Engbert, die für das Fallbeispiel Daimler-Benz schon für die 1950er- und 1960er-Jahre eine zunehmende Einbeziehung von Arbeitnehmervertretern in strategische Planungs- und Entscheidungsprozesse des Unternehmens nachweist. In den 1970er-Jahren, so zeigt auch Rüdiger Gerlachs‘ spannender ost-westdeutscher Vergleich zur Implementierung von Erfolgsbeteiligungen für Mitarbeiter, erlahmten derartige Anreizmechanismen jedoch unter dem Druck neuer, krisenbedingter Handlungszwänge. Der fordistische Wachstumspakt der Boomjahre mutierte zu einem zähen Ringen um eine situative ‚Krisenpartnerschaft‘.

Der vierte Themenkomplex beschäftigt sich mit dem Wandel der Produktsymbolik des Automobils in den 1960er- und 1970er-Jahren. Der stärkere Konkurrenzkampf um den automobilen Käufermarkt und wachsende öffentliche Kritik an den Negativfolgen der Massenmotorisierung veranlasste die Automobilhersteller laut Markus Nöhl dazu, ihre Marktforschungsaktivitäten auf das Kundenverhalten zu fokussieren. Mit Hilfe von qualitativen Imageanalysen versuchten sie, Wandlungsprozesse in den Kaufpräferenzen zu detektieren, um ihre Produkt- und Marketingstrategien auf zunehmend differenzierte Produktwahrnehmungen auszurichten. Wie Kai-Uwe Hellmann und Michael Friedemann anhand der Markengeschichte des VW Golf zeigen, ließ sich das Image eines Produktes jedoch nicht einseitig vom Unternehmen vorgeben, sondern speiste sich als ein komplexes Diskursfeld vielmehr aus Werbekommunikaten, medialen Deutungen und nicht zuletzt aus den Erfahrungen und spezifischen Aneignungsformen der Konsumenten. Die Beziehung zwischen dem Automobil und seinem Besitzer beleuchtet auch der abschließende Beitrag von Luminitia Gatejel am Beispiel sozialistischer Planwirtschaften. Auch hier fanden sich spezielle Muster der persönlichen Identifikation mit dem Konsumgut Automobil, das wie kaum ein anderes für individuelle Mobilität und damit für eine wenn auch begrenzte Freiheit stand.

Insgesamt löst der Sammelband seinen Anspruch überzeugend ein, die Nachkriegsgeschichte des Automobilsektors weitreichend zu skizzieren. Natürlich ist es für jeden Rezensenten in diesem Fall einfach, weitere lohnende Untersuchungsperspektiven aufzuzeigen, die hier nur am Rande thematisiert sind. Dies betrifft etwa die Beziehung zwischen Staat und Industrie, die Rolle von Automobilclubs und -verbänden, globale Transformationsprozesse oder auch eher technische Gesichtspunkte der Entwicklung von Produktionsmodi, Antriebsalternativen und Produktportfolios. Gleichwohl haben die Herausgeber unter dem Zwang des Zuschneidens eine überzeugende Themenauswahl getroffen, die letztlich ein in jeder Hinsicht „rundes“ Werk hat entstehen lassen. Der Band hält viele profunde Erkenntnisse zu den Krisenerfahrungen der Automobilindustrie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bereit und vermag zugleich, so ist zumindest zu hoffen, Impulse für weitere branchen- und ländervergleichende Analysen dieser Zeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche zu geben.

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