S. Resch: Das Sozialistengesetz in Bayern 1878–1890

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Titel
Das Sozialistengesetz in Bayern 1878–1890.


Autor(en)
Resch, Stephan
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 161
Erschienen
Düsseldorf 2012: Droste Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Braun, Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg

Bayern besaß für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung von Anfang an den Status einer Diaspora. Anders als etwa in Hamburg oder in Sachsen konnte die Sozialdemokratie im zweitgrößten Staat des Deutschen Reiches nur verspätet und im Vergleich zum Reichsdurchschnitt vermindert Fuß fassen. Von den 48 bayerischen Reichstagswahlkreisen vermochte die SPD nur elf – zeitweilig – zu erobern, darunter fünf erstmals bei den letzten Wahlen während des Kaiserreiches im Jahr 1912. Hauptursachen für diese schleppende Entwicklung waren die agrarische und die katholische Prägung des Königreiches, die es zu einer Zentrumsdomäne machten. Diese, übrigens bis heute andauernde, Unterrepräsentanz der SPD in Bayern mag auch einer der zentralen Gründe dafür sein, dass die diesbezügliche Regionalforschung ebenfalls gegenüber derjenigen über die expliziten Stammlande der Partei hinterherhinkt. Dies gilt auch und gerade für die Phase des „Sozialistengesetzes“, zumal einige wichtige kommunale Studien, wie diejenigen von Dieter Rossmeissl und Karl Heinrich Pohl über die bayerischen Hochburgen der Sozialdemokratie, erst mit dem Jahr 1890 einsetzen.1 Ziel der bei Andreas Wirsching in Augsburg entstandenen und in der angesehenen Reihe der Parlamentarismuskommission in Berlin veröffentlichten Dissertation von Stephan Resch ist es, „diese Lücke […] zu schließen“ (S. 9).

Stephan Resch konzentriert sich dabei auf die drei Regierungsbezirke Oberbayern, Mittelfranken und Schwaben. Dieser Ansatz, sich drei Verwaltungskörperschaften, über deren exemplarischen Charakter man allerdings trefflich streiten könnte, herauszusuchen, ist sicher grundsätzlich sinnvoll; die Aussage des Verfassers, eine „allumfassende und lückenlose Untersuchung“ der Sozialdemokratie in Bayern sei „weder notwendig noch von Nutzen“ (S. 11) übertreibt es allerdings mit der Selbstvergewisserung.

Nach einem einführenden Kapitel über die Gründungsgeschichte der bayerischen Sozialdemokratie bis 1878 untersucht der Autor die Verlaufsgeschichte des Sozialistengesetzes anhand der vier Phasen, die sich in diesem Zusammenhang bei vergleichbaren Untersuchungen eingebürgert haben: der „harten Phase“ von 1878 bis 1881, der anschließenden „milden Praxis“ bis 1886, die von der „verschärften Praxis“ abgelöst wurde, schließlich der 1889 beginnenden Endphase. Wie schon die Übernahme dieses etablierten Schemas zeigt, verliefen die zwölf Jahre des „Sozialistengesetzes“ in Bayern – von Nuancen abgesehen – weitgehend deckungsgleich mit den Entwicklungen im übrigen Deutschen Reich, von dem Verbot der Parteigruppierungen und der gewerkschaftlichen Fachvereine über das Ausweichen in getarnte Freizeitvereine, die geheime Organisationsstruktur, die Versorgung mit eingeschmuggelter Agitationsliteratur (vor allem „Der Sozialdemokrat“) bis hin zur Solidarität mit den Verfolgten, vor allem an der Wahlurne bei den jeweiligen Reichstagswahlen. Das Verdienst von Stephan Resch liegt darin, diese Prozesse aus den Archiven der in der Hierarchie differierenden bayerischen Behörden – wobei die jeweiligen Berichte der Regierungspräsidenten an das Innenministerium in München einen Schwerpunkt bilden – für Bayern quellennah nachgezeichnet zu haben.

Was in der Studie besonders deutlich herausgearbeitet wird, ist die individuelle Komponente des „Sozialistengesetzes“. Erfolg wie Misserfolg der staatlichen Sozialistenverfolgung hingen von individuellen Faktoren ab: Vom Unterdrückungswillen einzelner Regierungspräsidenten (aktivster Verfolger war der Präsident der Regierung von Oberbayern, als erster Maximilian von Feilitzsch, der 1881 zum bayerischen Innenminister aufstieg), der jeweiligen Bürgermeister, Staatsanwälte und Unternehmer (besonders auffällig in Augsburg, der Hauptstadt des Regierungsbezirks Schwaben, wo die Textilindustriellen als verlängerter Arm der Behörden fungierten) bis zum Widerstandswillen vieler einfacher sozialdemokratischer Aktivisten, die heute völlig in Vergessenheit geraten sind und von denen Stephan Resch etliche zumindest namentlich erwähnt. Dass Nürnberg und München – in dieser Reihenfolge – sich zu Hochburgen der verfolgten Partei entwickeln konnten, lag neben der großstädtischen Struktur vor allem auch an den herausragenden Persönlichkeiten Karl Grillenberger, der 1881 im Wahlkreis Mittelfranken 1 (Nürnberg) als erster in Bayern gewählter Sozialdemokrat in den Reichstag einziehen konnte, und Georg von Vollmar, der den Wahlkreis Oberbayern 2 (München II) 1884 erstmals erobern und seit 1890 bis zum Ende des Kaiserreiches dauerhaft verteidigen konnte.

Angesichts der konstatierten Bedeutung individuellen Agierens ist es bedauerlich, dass Stephan Resch auf prägnante Charakterisierungen der Akteure verzichtet. Deshalb bleiben selbst profilierte Parteiführer völlig blass. Das gilt neben den bereits genannten Protagonisten etwa auch für den auf der Reichsebene bedeutendsten Sozialdemokraten bayerischer Provenienz, Ignaz Auer, den großen und von diesem gefürchteten Konkurrenten August Bebels, oder für den „roten Pfalzgrafen“ Franz Joseph Ehrhart, den prominentesten Parteiführer der bayerischen Pfalz (dreimal erwähnt und dreimal als „Erhart“ falsch geschrieben).

Im abschließenden dritten Kapitel der erfreulich wenig zergliederten Darstellung, „Auswirkungen und Nachwirkungen“, kommt Stephan Resch in einem wichtigen Teilaspekt, der Frage der Souveränität Bayerns gegenüber Preußen bei der Umsetzung der Sozialistenverfolgung, zu einem pointierten Urteil. Obwohl Bayern sich weigerte, die schärfste Waffe des „Sozialistengesetzes“ anzuwenden, also den „Kleinen Belagerungszustand“ zu verhängen, wobei in erster Linie Nürnberg und München in Frage gekommen wären, lautet sein Fazit, dass sich in diesen zwölf Jahren der Ausnahmegesetzgebung eine schleichende „Verpreußung“ Bayerns vollzogen habe (S. 313). Vielfach hatte sich das Berliner Polizeipräsidium unter Umgehung der Münchener Ministerien direkt an die ausführenden Organe der unteren und mittleren Ebene gewandt, was offenbar von bayerischer Seite ohne „partikularistisches Bauchgrimmen“ hingenommen wurde.

Nicht unerwähnt bleiben darf – leider –, dass sich neben einigen kleineren inhaltlichen Irrtümern zahllose sprachliche Holprigkeiten, Schreib- und Zeichensetzungsfehler eingeschlichen haben. Ein fachkundiges Lektorat hätte dem Buch gut getan. Trotzdem lässt sich als Gesamturteil festhalten: Die Studie von Stephan Resch füllt die eingangs erwähnte Forschungslücke zwar nicht völlig aus, aber sie liefert einen wichtigen Beitrag auf dem Weg zu diesem Ziel.

Anmerkung:
1 Dieter Rossmeissl, Arbeiterschaft und Sozialdemokratie in Nürnberg 1890–1914, Nürnberg 1977; Karl Heinrich Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1890–1914, München 1992.