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Titel
Ermordet in Maly Trostinec. Die österreichischen Opfer der Shoa in Weißrussland. Beiträge zur Konferenz „Maly Trostinec erinnern“. 28.–29. November 2011, Wien Museum


Herausgeber
Barton, Waltraud; IM-MER
Erschienen
Anzahl Seiten
177 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerald Lamprecht, Centrum für Jüdische Studien, Karl-Franzens-Universität Graz

Über viele Jahrzehnte wurden der Nationalsozialismus und der Holocaust in der österreichischen Gesellschaft basierend auf der so genannten „Opferthese“ weitgehend externalisiert. Im Kern ging es darum, dass weder Staat noch Gesellschaft mit dem Regime oder den Verbrechen etwas zu tun hätten. Dieser Logik folgend hatte die Ermordung von mehr als 60.000 österreichischen Jüdinnen und Juden und die gewaltsame Vertreibung von rund 130.000 österreichischen Jüdinnen und Juden in den Jahren 1938 bis 1945 auch keinen Platz im österreichischen kollektiven Gedächtnis. Zwar kam es in den 1980er-Jahren unter anderem durch die Debatten um die Präsidentschaftskandidatur von Kurt Waldheim und seiner Sicht auf seine Tätigkeiten in der Wehrmacht zu einem geschichtspolitischen Umdenken weg von der Opfer- hin zur Mittäterthese. Doch ob sich dadurch das Wissen der österreichischen Bevölkerung um das Schicksal der jüdischen Bevölkerung während der Zeit des Nationalsozialismus erheblich verbessert hat, kann bezweifelt werden. Auch Jahre nach dem Ende der Historikerkommission und trotz einer Vielzahl an wissenschaftlichen Publikationen, der „Wehrmachtsausstellung“, breitenwirksamen Fernsehproduktionen und regionalen wie nationalen Gedenkinitiativen wird der Holocaust noch immer zumeist mit Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau in Verbindung gebracht und außerhalb der Gesellschaft und Österreichs verortet. Zudem scheint kaum jemandem bewusst zu sein, dass an die zwei Million Jüdinnen und Juden nicht dem industriellen Massenmord zum Opfer fielen, sondern im Zuge von Massenerschießungen oder mittels „Gaswagen“ von Angehörigen der Einsatzgruppen unter Assistenz von Wehrmachtssoldaten und von kollaborierenden ortansässigen Gruppen im Baltikum, Weißrussland und der Ukraine ermordet wurden. So kamen auch mehr österreichische Jüdinnen und Juden in und um Maly Trostinec ums Leben als beispielsweise in Ausschwitz oder Theresienstadt.

Bei eben diesem Faktum setzt der von Waltraud Barton und dem von ihr initiierten Verein IM-MER1 herausgegebene Sammelband über Maly Trostinec und die österreichischen Opfer der Shoah in Weißrussland an. Waltraud Barton bemüht sich seit 2009 um das Gedenken an die erste Frau ihres Großvaters, Malvine Barton, sowie aller in Maly Trostinec, resp. Weißrussland ermordeten Österreicherinnen und Österreicher. Zu diesem Zweck wurden in Weißrussland Erinnerungszeichen gesetzt aber auch anlässlich des 70. Jahrestages der ersten Deportation von Jüdinnen und Juden aus Wien nach Minsk am 28. November 1941 im November 2011 im Wiener Jüdischen Museum eine Tagung über Maly Trostinec und Minsk organisiert. Ziel der Tagung und des nun vorliegenden Tagungsbandes war es, das Wissen um das Ghetto in Minsk und die Ermordungen in und um Maly Trostinec zwischen 1941 und 1943 zunächst zu bündeln und in weiterer Folge auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und bewusst zu machen. Demnach war die gesamte Tagung auf ein breites nicht nur wissenschaftliches Publikum ausgerichtet, eine Zielrichtung, die auch für den Sammelband Geltung hat.

Dieser ist eine Zusammenstellung von Beiträgen, Kommentaren sowie drei Überlebendenberichten. Die Texte behandeln die Entwicklungen in Wien, die Umstände der Deportationen und Transporte von Wien nach Minsk/Maly Trostinec, die Geschichte des Minsker Ghettos wie auch Fragen der justiziellen Aufarbeitung der Verbrechen vor deutschen und österreichischen Gerichten nach 1945.

Am Beginn behandelt Sybille Steinbacher in einem anschaulichen und gut strukturierten Überblickstext die Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Wien ab dem „Anschluss“ im März 1938. Sie bettet die Wiener Entwicklungen in die gesamtdeutschen ein und hebt dabei vor allem den Vorbildcharakter des „Wiener Modells“ für die übrigen Reichsgebiete und die ab September 1939 eroberten Gebiete hervor. Weiter geht sie auf die Deportationswellen aus Wien nach Osteuropa von 1939 bis Herbst 1942 ein und schildert abschließend das Schicksal der von Wien nach Minsk Verbrachten und dort Ermordeten.

Der Eisenbahnhistoriker Alfred Gottwaldt widmet sich dann in seinem Text aus bahnhistorischer Perspektive den Deportationen sowie den Verstrickungen von Bahnbeamten in diese. Äußerst detailbewusst schildert er die qualvollen Bahnfahrten vom Aspangbahnhof in Wien nach Minsk. Dort angekommen wurden die Jüdinnen und Juden zunächst in spezielle Bereiche des Minsker Ghettos gepfercht, ehe sie in weiterer Folge zur Vernichtung in das nahe Minsk gelegene Dorf Maly Trostinec verbracht und dort zumeist im Waldstück Blagovščina erschossen oder in Gaswagen erstickt wurden.

Mit Maly Trostinec und dem Wald von Blagovščina befassen sich der Text von Petra Rentrop und der Kommentar dazu von Bertrand Perz. Petra Rentrop rückt dabei den Tatort Maly Trostinec an dem von SS-Einheiten, Gestapo, Polizei und SD unter Beteiligung von Hilfstruppen im Zeitraum zwischen Frühjahr 1942 und Sommer 1944 zwischen 55.000 und 60.00 Menschen umgebracht wurden ins Zentrum. Sie beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Lagers im Kontext der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten, erörtert die Massenmorde im nahegelegenen Waldstück und schildert die Funktion des Arbeitslagers auf dem Gut des Kommandeurs.

Mit Fragen der Klassifizierung von Maly Trostinec im Kontext der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zwischen Vernichtungs-, Konzentrations-, Zwangsarbeitslager und Vernichtungsstätte befasst sich der Kommentar von Bertrand Perz, der zudem auch der Frage nachgeht, weshalb die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Maly Trostinec und dem Ghetto in Minsk erst in den 1990er-Jahren einsetzte. Als Ursachen dafür sieht er zum einen den Wandel in der Historiographie des Holocaust weg vom ergebnisbezogenen Zugang hin zum prozesshaften sowie der Erkenntnis, dass die Dynamik des Holocaust sehr stark auf eine Wechselwirkung zwischen Zentrum und Peripherie zurückzuführen ist. Zudem verdankt sich die Erweiterung der Forschung auch der Öffnung von Archiven in Osteuropa.

Kuzma Kosak schildert die Geschichte des Ghettos von Minsk, das von Juli 1941 bis Oktober 1943 existierte und neben weißrussischen Jüdinnen und Juden auch Aufenthaltsort für Deportierte aus deutschen Städten und aus Wien war. Geht er auf die Einrichtung des Ghettos, seiner Organisation, den Lebensbedingungen im Ghetto sowie den mit dem Ghetto verbunden Exekutionen ein, so werden das Schicksal und die Qualen der Insassen in den drei anschließenden Lebenserinnerungen von Maja Lewina-Krapina, Sima Margolina und Frida Reisman drastisch sichtbar. Alle drei verdeutlichen, sofern dies überhaupt möglich ist, unter welchen Qualen die Menschen zu leiden hatten und mit welcher Grausamkeit die nationalsozialistischen Einheiten vorgingen.

Auf diese drei ergreifenden lebensgeschichtlichen Texte folgt schließlich noch ein Text von Babette Quinkert, der einen Überblick über die deutsche Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Weißrussland gibt. Quinkert verortet die Ereignisse in Weißrussland innerhalb der deutschen Kriegsführung im Angriffs- und Vernichtungsfeldzug gegen Russland und den „bolschewistisch-jüdischen“ Feind und zeigt auf, dass neben den Jüdinnen und Juden auch zahlreiche andere Gruppen zu Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden.

Den Abschluss des Bandes bilden zwei Texte, die sich der justiziellen Ahndung und Aufarbeitung der Verbrechen von Minsk und Maly Trostinec in Deutschland und Österreich nach 1945 widmen. Claudia Kuretsidis-Haider zeigt zum einen, dass die Erforschung nicht zuletzt auf Grund schlechter bis völlig fehlender Forschungsförderung für das Thema bislang noch weitgehend unzureichend ist. Zum anderen macht sie jedoch auch klar, dass bei der Ahndung der Verbrechen in Weißrussland, dem zumindest 13.500 österreichische Jüdinnen und Juden zum Opfer gefallen sind, der österreichischen Nachkriegsjustiz im Vergleich zu Deutschland (BRD) ein beschämendes Zeugnis ausgestellt werden muss. Neben einem klaren Fehlurteil, ein Freispruch für den „Gaswagenfahrer“ Wendl im Jahr 1970, wurden in allen weiteren Fällen nach völlig gleichgültigen bis verschleppenden Vorerhebungen gar keine Anklagen erhoben. Dieter Pohl greift die Analyse von Kuretsidis-Haider auf und kommt zum ernüchternden Schluss, dass man angesichts der geringen Verurteilungsquote (rund 10% der Täter) die Strafverfolgung der NS-Verbrechen in den Täterländern als weitgehend gescheitert ansehen muss.

Resümierend kann zum vorliegenden Band festgehalten werden, dass er auf jeden Fall der Zielsetzung der Herausgeberin, das Wissen um Minsk, Maly Trostinec und die österreichischen Opfer der Shoah zu verbreiten, gerecht wird. Die verschiedenen Aufsätze geben einen sehr detaillierten Einblick in diese für Österreich so wichtige Teilgeschichte der Judenverfolgung. Kritisch anzumerken bleibt jedoch, ob nicht eine überlegtere Planung und Strukturierung des Bandes den Zielen der Herausgeberin noch mehr entsprochen hätte. So weisen die Texte zum einen zahlreiche Redundanzen auf und zum anderen sind sie sehr uneinheitlich, wenn es um die Ausrichtung auf ein vorrangig nichtwissenschaftliches Zielpublikum geht. Neben sehr gelungenen Überblickstexten findet man auch deskriptive und detailverlorene Darstellungen sowie eindeutig an rein wissenschaftliche Rezipientinnen und Rezipienten gerichtete Kommentare. Und zuletzt bleibt noch die Frage nach der Logik der Reihung der Texte, die etwas unglücklich getroffen wurde.

Doch unabhängig von diesen kritischen Anmerkungen verdient sich der Band zahlreiche Leserinnen und Leser, nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, da er auf das Schicksal von rund 13.500 österreichischen Jüdinnen und Juden hinweist, die von Wien und Theresienstadt aus nach Minsk, resp. Maly Trostinec deportiert wurden. Laut den divergierenden Angaben in den Beiträgen kann man davon ausgehen, dass lediglich maximal 17 von ihnen überlebt haben.

Anmerkungen:
1 <http://www.im-mer.at/> (27.01.2014).

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