Cover
Titel
Borken.


Autor(en)
Didi-Huberman, Georges
Erschienen
Anzahl Seiten
85 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Buchenhorst, Graduate School „Society and Culture in Motion“, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Georges Didi-Huberman ist Kunsthistoriker, Kurator, Philosoph und lehrt seit 1990 an der Pariser École de Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS). Sein Essay „Borken“, von Horst Brühmann umsichtig aus dem Französischen übersetzt, präsentiert sich als Versuch, den Besuch der Gedenkstätte „Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau“, den der Autor an einem nicht näher bestimmten Sommersonntag unternommen hat, phänomenologisch aufzuarbeiten. Der schmale Band bietet auf seinen gut 80 Seiten einen in 19 kurze Kapitel unterteilten Text; die 19 vom Autor selbst gemachten Schwarzweiß-Fotografien der Gedenkstätte sind mehr als eine bloße Ergänzung des Textes. Das Ergebnis ist eine behutsam vorantastende Analyse des geschichtlichen Sinns von Materialien, Artefakten, Bildern und der Natur innerhalb eines bereits kuratorisch und historiographisch aufgearbeiteten Geländes. Dabei spart Didi-Huberman persönliche Reminiszenzen, Emotionen und Motivationen keineswegs aus. Er arbeitet diese Bezüge und Beschreibungen derart ein, dass sie der Analyse eine mitfühlende Interessiertheit verleihen, die bei der Konfrontation mit den katastrophalen Ereignissen, die diesem Ort ihren Stempel aufgeprägt haben, fast zur Verpflichtung wird. Das Ergebnis ist so weder eine streng wissenschaftliche Untersuchung des kuratorischen Konzepts der Gedenkstätte noch eine nur individuelle, emotionale Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die Shoah, es ist vielmehr ein Essay – ein Versuch – im Sinne einer immer wieder neu ansetzenden Annäherung an den umstrittenen Gegenstandsbereich subjektiver und kollektiver Erinnerung. Der Leser darf also von den Eindrücken und Bildern, die der Autor von seinem Besuch in Auschwitz mitgebracht hat, weder erwarten, dass sie alles, noch muss er fürchten, dass sie gar nichts sagen: Sie sollen etwas sagen, und dieses Etwas macht Didi-Huberman kenntlich als Sinn, der nicht ewig und nicht universal gilt, sondern nur für unsere Gegenwart und nur für diejenigen unter uns, die gewillt sind, sich dem Ort und seiner Erinnerung rückhaltlos auszusetzen.

Dabei ist der Essay ohne Kenntnis der vom selben Autor Jahre zuvor veröffentlichen Untersuchung „Images malgré tout“1 nicht angemessen zu verstehen. Didi-Huberman hatte damals in eine komplexe, stark polemisch gefärbte Diskussion eingegriffen, die sich um eine von dem französischen Bildhistoriker Clement Cheroux kuratierte Ausstellung zu Bildern aus nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern2 entwickelte. Die Ausstellung bot einen umfassenden Blick auf die verschiedenen Aspekte und Gebrauchsweisen der Fotografie in den Lagern. Gewissermaßen im Zentrum der Exponate standen vier Fotografien, die ein Mitglied des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau aus der Gaskammer des Krematoriums V heraus aufgenommen hatte und die dann aus dem Lager herausgeschmuggelt werden konnten. Die Bilder zeigen die Vorbereitungen zu einer Gas-Tötung von Frauen und Kindern vor dem Krematorium und die im Freien vorgenommene Einäscherung von ungarischen Juden im August 1944. Die französischen Psychoanalytiker Gerard Wajcman und Elisabeth Pagnoux hatten Didi-Huberman vorgeworfen, er würde diese Fotografien auf unangemessen religiöse Weise fetischisieren. Auch der durch sein neunstündiges Filmepos „Shoah“ berühmt gewordene Regisseur Claude Lanzmann hatte sich an der Debatte beteiligt und Didi-Huberman des Voyeurismus und des Vergnügens am Entsetzen bezichtigt. Die drei Kritiker fühlten sich der Idee verpflichtet, die Wahrheit der Shoah läge nicht in dokumentarischen Bildern, sondern nur in der Erzählung der Überlebenden. In seiner Verteidigung argumentierte Didi-Huberman gegen dieses Dogma der Bilderlosigkeit und für das Bild als performativen Akt des Widerstands, als Akt lesbarer Zeugenschaft im Lager. Für ihn, das ist der Tenor sowohl in „Bilder trotz allem“ als auch jetzt in „Borken“, ist es die Verpflichtung der Nachlebenden, nicht in der Sackgasse der Unvorstellbarkeit und Undarstellbarkeit stecken zu bleiben. Der vorliegende Essay kann deshalb als Versuch verstanden werden, die in „Bilder trotz allem“ behandelten Fotografien mit dem gegenwärtigen Zustand der auf ihnen abgebildeten Orte zu vergleichen und daraus Schlüsse hinsichtlich unseres Vermögens zu ziehen, Gedenken als permanente Arbeit an geschichtlicher Aufmerksamkeit zu vollziehen.

Didi-Huberman kommt deshalb auf die erwähnten vier Fotografien, die in Birkenau als Reproduktionen am Ort des Geschehens ausgestellt sind, in „Borken“ noch einmal zurück. Zum einen gilt es, die Phänomenologie dieser Bilder durch den Vergleich mit der jetzigen Situation in Birkenau weiter zu klären, zum anderen machen sie auf unmissverständliche Weise den Zweck des Bandes klar: die Gefahr herauszustreichen, die das Fotografieren unter den Umständen des funktionierenden Lagers mit sich brachte. Und obwohl die Situation des Sonderkommando-Angehörigen, der die Aufnahmen anfertigte, nicht mit derjenigen des Textautors vergleichbar ist, so teilt Didi-Huberman dem Leser doch indirekt mit, dass auch er selbst mit den von seinem Besuch mitgebrachten Bildern, Metaphern und Schilderungen eine Gefahr läuft: nämlich diejenige, in jeder Hinsicht unangemessen zu sein, solange in diesen nicht die Arbeit des Blicks deutlich wird, durch die die Einzelheiten der Vergangenheit mit den Einzelheiten der Gegenwart immer wieder neu in Verbindung gebracht werden müssen. Es ist also das ebenso mühsame wie aufregende Nachverfolgen dieser Versatzstückarbeit des Gedenkens, auf die sich der Leser des Bändchens einstellen muss.

Zusammen mit dem Autor erkundet der Leser das Gelände in Auschwitz zwischen der Erwartung, etwas über unsere erinnernde Gegenwart zu erfahren, und dem Versuch, inneren und äußeren Schwierigkeiten in der Konfrontation mit dem Ort und seiner Erfahrung standzuhalten. Der Autor unternimmt diese Erkundung, indem er Details wie das Tor einer Baracke, den Fußboden eines Krematoriums, Kioske oder einen See in Birkenau, Baumwipfel und Horizonte inspiziert und fotografiert. Seine Fotografien sind in Schwarz-Weiß gehaltene Amateuraufnahmen, nirgends geht es ihnen darum, die gängigen Normen des Perspektivischen oder der Proportion zu bedienen. Eigentlich sind sie Schnappschüsse des Dinghaften, von den von ihnen ausgehenden Stimmungen und von Details, die in Aufnahmen anderer Fotografen wahrscheinlich unberücksichtigt bleiben würden. Beim Durchblättern des Bändchens erscheinen die Fotografien deshalb auf den ersten Blick lapidar, banal. Der Text jedoch lädt sie auf mit der Kraft informierter und zugleich emotiver Bedeutung. Didi-Hubermans Essay macht damit auch klar, wie sehr Bilder auf ihre textliche Beschreibung angewiesen sind, um Sinn zu vermitteln. Diese Aufgabe bewältigen die Kommentare, indem sie sich die Verpflichtung auferlegen, Marginalität und Materialität der Dinge gelten zu lassen, gleichzeitig jedoch dem Unvorstellbaren Momente des Vorstellens und der Formgebung abzuzwingen. Seien es Hinweise auf die unterschiedlichen Baumaterialien der Baracken, Kommentare zur Umgestaltung von Lagerblocks zu „nationalen Pavillons“ oder Einzelheiten zu den Ausschachtungen der Verbrennungsgräben, Didi-Huberman versorgt den Leser mit genau denjenigen historischen Informationen und Beschreibungen des Jetzt-Zustands, die er benötigt, um sich das verschlungene und umkämpfte Gelände der Erinnerung vorstellen zu können. Sein Text folgt damit in allen Teilen dem Prinzip Raul Hilbergs, einem der zentralen frühen Shoah-Forscher, der immer vermied, die großen Fragen zu stellen in der Befürchtung, nur mit kleinen Antworten aufwarten zu können, und es stattdessen vorzog, den signifikanten Kleinigkeiten beschreibend und interpretierend eine Gestalt abzuringen.

Bei alldem hat Didi-Huberman seinen Walter Benjamin aufmerksam gelesen. Er weiß deshalb, dass die archäologische Arbeit des Abtragens der historischen Schichten mindestens genauso wichtig ist wie das ausgegrabene Objekt und dass der Akt des Grabens mitsamt des zutage Geförderten auf die Gegenwart bezogen werden muss, um die Schuld gegenüber dem Vergangenen zu tilgen. Wenn man dieser aufmerksam zu Werke gehenden Arbeit Didi-Huberman etwas vorwerfen kann, dann vielleicht, dass sie diese Vorgehensweise zuweilen als pionierhaft darstellt, während sie in einer ganzen Reihe von Untersuchungen zur Geschichte der Shoah aus den letzten zwei Jahrzehnten bereits angewandt wurde. Deshalb ist „Borken“ keine innovative Arbeit, sie ist jedoch beispielhaft in ihrer gelungenen Verschränkung von Informiertheit und Offenheit.

Es sei noch angemerkt, dass der Essay „Borken“, der die Zeugenschaft der Rinden des Birkenwaldes um Auschwitz-Birkenau als Anlass zum Nachdenken über die Bedeutung des dort Geschehenen für unsere Gegenwart thematisiert, motivisch verbunden ist mit dem seit 2011 sich entwickelnden Projekt „Berlin-Birkenau“, das das Stadtbild Berlins in den nächsten Jahrzehnten verändern soll. Über die gesamte Stadt verteilt pflanzte der polnische Künstler Łukasz Surowiec im Rahmen der 7. Berlin-Biennale 320 Birken aus der Umgebung des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, um so ein lebendiges, dezentrales Archiv zu schaffen. Ergänzend dazu deponierte er in einem Ausstellungsraum der Biennale Birkensetzlinge aus Auschwitz, die Besucher mit nach Hause nehmen konnten, um damit eine auf Eigeninitiative beruhende Erinnerung zu schaffen. Mit Surowiec und Didi-Huberman geht die Suche nach einer sich weiterschreibenden Schrift, die sich immer wieder neu Erinnerung erarbeiten muss, weiter.

Anmerkungen:
1 In deutscher Übersetzung: Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007.
2 Katalog: Clément Chéroux (Hrsg.), Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis, 1933–1999, Paris 2001.

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