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Titel
Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland


Autor(en)
Wehler, Hans-Ulrich
Reihe
Beck’sche Reihe 6096
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berthold Vogel, Hamburger Institut für Sozialforschung / Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen

Hans-Ulrich Wehlers neues Buch, inzwischen schon in vierter Auflage erschienen, hat ein starkes Anliegen. Der Verfasser der fünfbändigen „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ begibt sich in seiner schmalen Monographie „Die neue Umverteilung“ auf die Suche nach der Wirklichkeit der deutschen Gegenwartsgesellschaft. Dabei stößt er auf eine drastische Um- und Neuverteilung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse, ja auf eine für die Geschichte der bundesdeutschen Wohlfahrtsdemokratie bislang unbekannte Zuspitzung sozialer Ungleichheit. Von einer strukturfreien Individualisierung oder von wachsender Pluralität der Lebenschancen kann nach Auffassung Wehlers keine Rede sein. Stattdessen: Klare Klassengrenzen, deutlich markierte Herrschaftsgebiete und die Dominanz des Matthäusprinzips – wer hat, dem wird gegeben. Braucht es also historischen Weitblick, um die Gegenwartsdiagnostik auf Vordermann zu bringen, die offensichtlichen Dinge sichtbar zu machen? Der Emeritus als wacher Zeitgenosse vermag nicht zu begreifen, warum die Verschärfung sozialer Ungleichheit, die das demokratische Gemeinwesen fundamental verändert, nicht längst zum Kerngeschäft einer öffentlichen Soziologie geworden ist. Dasselbe gilt nach Wehlers Auffassung mit Blick auf die Verteidigung des europäischen Sozialstaats. Im Zerfall des wohlfahrtsstaatlichen Ordnungsmodells sieht er in ähnlicher Weise wie prominente Intellektuelle vor ihm – Pierre Bourdieu, Robert Castel oder Tony Judt – einen gesellschaftlichen Rückschritt.

Die Argumentation der Wehler’schen Streitschrift gliedert sich in zwei Schritte: Im ersten Teil (S. 15–92) findet sich eine beeindruckend knappe Systematisierung des soziologischen Kenntnisstandes zur Klassenlage, zur sozialen Stratifikation und Ungleichheit. Der Historiker übernimmt damit das Geschäft der Soziologie, die aus seiner Sicht zu sehr über Milieus, aber nicht über Klassenverhältnisse spreche; die die Egalität der Risiken in den Vordergrund stelle, nicht aber die Ungerechtigkeit materieller Verteilung; die die Entstrukturierung gesellschaftlicher Ungleichheit theoretisiere, dabei jedoch die eigenen empirischen Befunde nicht ernstnehme, die auf wachsende soziale Abstände hindeuten. Im zweiten Teil (S. 85–164) widmet sich Wehler systematisch und recht ausführlich verschiedenen Ungleichheitsdimensionen: Alter, Geschlecht, Wohnort, Konfession, Region, Heirat und Familie. Wohin er hier auch blickt: Von einer Entstrukturierung der Gesellschaft kann in keinem der ungleichheitsrelevanten Felder die Rede sein. Im Gegenteil – die Befunde sprechen eine klare Sprache. Die Klassenverhältnisse und die Ordnungsmuster sozialer Ungleichheit sind stabil.

Beeindruckend ist die Souveränität Wehlers, mit der er die Debatte um Klasse und Klassifikation seit der Mitte des 19. Jahrhunderts resümiert. Er spannt einen kenntnisreichen Bogen von der in der Soziologie tatsächlich viel zu wenig beachteten „elastischen Klassentheorie“ (S. 27) bei Lorenz von Stein über den Hinweis, dass Max Weber Klassen als „Phänomene der Machtverteilung“ begreift, hin zu einer sehr treffenden Zusammenfassung der theoretisch-analytischen Leistung Pierre Bourdieus, der „die Klassenstruktur moderner Gesellschaften […] als eine durch Kontinuität und Konflikt, weit weniger durch Diskontinuität und Konsens bestimmte Macht- und Privilegienstruktur“ (S. 47) vorstellt.

„Kontinuität“ und „Konflikt“ sind dann auch die Stichworte für die These einer undurchlässigen Klassengesellschaft, die im zweiten Teil des Buches präsentiert und empirisch untermauert wird. Hier hält es Wehler zunächst mit Max Weber, der stets betonte, es sei „die allerelementarste ökonomische Tatsache“, „dass die Verfügung über Einkommen ‚spezifische Lebenschancen schafft’“ (S. 67). Deutlich wird die Kontinuität der Einkommensungleichheit, vor allen Dingen aber die markant wachsende Vermögensungleichheit: „Ungleich schärfer noch als die Einkommensverteilung weisen die Vermögensverhältnisse die Ungleichverteilung und damit die Klassengrenzen eines in Deutschland bisher einmaligen Reichtums auf.“ (S. 73) Der Hintergrund ist ein „drastischer Konzentrationsprozess“ des Vermögens – das oberste Zehntel hält zwei Drittel des privaten Gesamtvermögens (ebd.). Noch nie waren die Reichen so reich wie heute, mit Folgen für die gesamte Architektur der Gesellschaft. „Mit dem rasanten Wachstum der Spitzeneinkommen kontrastiert aufs Schärfste die Stagnation im Bereich der Mittelklassen“ (S. 78) – sowie eine soziale Abkoppelung und Marginalisierung der Unterklassen. Verantwortlich sind ökonomische und arbeitsmarktbezogene Faktoren, etwa die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Prekarisierung ehemals stabiler Beschäftigungszonen der Mittelklasseberufe. Aber auch politische Entscheidungen, beispielsweise in der Steuerpolitik, wirken in diese Richtung. Doch hier deutet Wehler vieles nur an, ohne diesen interessanten Aspekt auszuführen. Denn Steuerflucht und Steuervermeidung sind ja keineswegs nur als Straftatbestände oder als moralisches Versagen zu qualifizieren (so klingt es im Text), sondern sie sind in der Regel das Ergebnis politischer Ermöglichung. Wenn wir über die „neue Umverteilung“ sprechen, dann sprechen wir mithin nicht bloß über abstrakte Prozesse einer globalen Ökonomie, die vermeintlich gierige Eliten in ihrer Habsucht stärkt, sondern wir reden über konkrete politische Entscheidungen, die auf nationaler und transnationaler Ebene von demokratisch gewählten Repräsentanten getroffen und umgesetzt werden. Braucht es hier moralische Töne? Viel eher ist politische Konfliktbereitschaft gefragt, wie sie jüngst zum Beispiel in den „Offshore-Leaks“-Kampagnen von Journalisten demonstriert wurde.

Damit ist auch schon der moralisch hohe Ton angesprochen, den der Autor anschlägt. Dieser Ton ist als Eingangsimpuls der Lektüre nachvollziehbar, ja möglicherweise sogar notwendig, aber in der Langstrecke ein Manko der Wehler’schen Streitschrift. Vor „Gier“ und „Bereicherungssucht“ mag der protestantische Pastor in Hans-Ulrich Wehler mahnen; dem Historiker tun solche Kategorien selten gut. Die politische Absicht des Autors liegt ja auf der Hand: Er appelliert an die Gesellschaften Europas, ihre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffenen Kapitalien nicht leichtfertig Marktversprechen und Entstaatlichungsphantasien zu opfern. Er argumentiert für seine These, dass wir Zeugen einer markanten sozialen Drift seien, einer radikalen Umverteilung zu Lasten der Mittel- und Unterschichten und einer politisch gewollten Begrenzung staatlicher Handlungsfähigkeit. So weit, so nachvollziehbar und so gut. Doch Wehler kann die Kraft des Arguments nicht bis zum Ende durchhalten. Das deutet sich bereits in der Mitte des Buches an, wenn er bisweilen recht stereotyp verschiedene Ungleichheitsdimensionen aufzählt. Gerade die Abschnitte zu Bildungschancen, Geschlechterfragen, Konfession und Ethnie wirken pflichtschuldig – das alles liest man vielerorts. Nach dem starken Start mit klarer analytischer Ansage, dass es die ökonomischen Faktoren seien, die die Klassenverhältnisse und -konflikte einer Gesellschaft dominierten, steht am Ende des Parcours erneut eine Pluralität von Ungleichheiten und Soziallagen. Ist das nicht genau der Punkt, den Wehler der von ihm so gescholtenen Soziologie vorwirft: dass sie vor lauter Einzelbefunden die Schärfe der Klassenspaltung nicht mehr zu erkennen vermag? Auch die allfällige Kritik des Neoliberalismus und des Turbokapitalismus zum Ende des Buches bleibt unbefriedigend.

So dominiert schließlich der Eindruck, einmal mehr mit einem einfachen Schema konfrontiert zu sein: oben gierig und unten arm dran. Aber interessant ist doch etwas anderes: Mögen die Klassenverhältnisse eindeutig sein – die Interessen, die Haltungen und die Handlungen sind es eben nicht. „Die“ gierige Oberklasse gibt es genauso wenig wie „die“ stagnierende Mittelschicht oder „die“ benachteiligten Ausgegrenzten. Der neue Reichtum und Wohlstand korrespondiert mit neuer Verantwortungslosigkeit, aber auch mit neuem gesellschaftlichem Engagement „von oben“. In der Mitte finden sich viele Verlierer und Absturzbedrohte, aber eben auch Gewinner. Und die Unterklasse nur als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen – das ist wohl ebenfalls zu kurz gesprungen. Wehler hält ein starkes und überzeugendes Plädoyer für die Revitalisierung des Klassenbegriffs. Es fehlt aber eine überzeugende Sicht der Dynamik neuer Wohlstands- und Verteilungskonflikte, die an verschiedenen Orten der Gesellschaft unterschiedliche Einfärbungen annehmen.

Hans-Ulrich Wehler legt in „Die neue Umverteilung“ einen furiosen Start hin, indem er konsequent materialistisch und klassenbezogen argumentiert, doch geht ihm gegen Ende leider ein wenig der Schwung verloren. Das ändert aber nichts am Gesamteindruck: Wir haben es mit der verdienstvollen Schrift eines großen Historikers zu tun, der die wissenschaftliche Zeitdiagnose und das gesellschaftspolitisch interessierte Publikum mit Verve auf die Probleme hinweist, die vor unseren Füßen liegen: Die Verwundbarkeit der Demokratie verschärft sich mit der wachsenden sozialen Konzentration von Reichtum und Armut. Wer diesen historisch und soziologisch begründeten Zusammenhang übersieht, der gefährdet die Vitalität unseres Gemeinwesens.

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