D. Hüchtker u.a. (Hrsg.): Reden und Schweigen über religiöse Differenz

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Titel
Reden und Schweigen über religiöse Differenz. Tolerieren in epochenübergreifender Perspektive


Herausgeber
Hüchtker, Dietlind; Kleinmann, Yvonne; Thomsen, Martina
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wojciech Kriegseisen, Warschau

Die Herausgeberinnen dieses Sammelbandes haben sich vorgenommen, in einem Band die interdisziplinäre wissenschaftliche Reflexion über neuzeitliche Toleranz in „langer Dauer“ vorzustellen. In der Einleitung erläutern sie die Grundannahme, dass der Begriff der Toleranz (oder Intoleranz) nicht als spezifisch für bestimmte Regionen oder Zeiträume der neueren Geschichte angesehen werden kann. Ihr Ziel ist eine Reflexion von Theorie und Praxis der Toleranz, die die Grenzen von Epochen, Kontinenten, politischen Systemen und auch unterschiedlicher Forschungsmethoden überschreitet.

Hubert Seiwert stellt im Aufsatz „Warum religiöse Toleranz kein außereuropäisches Konzept ist oder: Die Harmonie der ‚drei Lehren‘ im vormodernen China“ (S. 35–38) seine These vor, dass es unmöglich ist, die in Europa entwickelte Idee religiöser Toleranz auf Forschungen zu den Praktiken außereuropäischer Gesellschaften zu übertragen. Er unterstreicht gleichzeitig die doppelte Bedeutung des Begriffs, der sowohl die Beziehungen zwischen Bekenntnissen wie auch die Verhältnisse zwischen kirchlichen und staatlichen Gewalten umfasst. Am interessantesten erscheint der zweite Teil der Abhandlung, in der der Autor die Realitäten der Religionsverhältnisse im alten China beschreibt. Die Ausführungen konzentrieren sich auf die vielfältigen Beziehungen zwischen buddhistischer, taoistischer und konfuzianischer Lehre, wobei Seiwert deren staatliche Kontrolle im Reich der Mitte betont. Zur weiteren Begründung seiner These wäre es allerdings wichtig, wenn sie sich auch auf Beispiele aus anderen außereuropäischen (zum Beispiel unter starkem Einfluss des Islam stehenden) Gesellschaften berufen und darüber hinaus auf anthropologische Reflexionen zurückgreifen könnte.

Der folgende Beitrag „Toleranz oder Disziplinierung? Der josephinische Staat und Erziehung der galizischen Juden” (S. 59–88) von Dirk Sadowski ist den Bemühungen um eine Modernisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Galizien gewidmet. Diese bildete eine der größten Herausforderungen für diejenigen, die die josephinischen Reformen umsetzten, denn die 1773 von der polnisch-litauischen Union abgetrennten, „Galizien und Lodomerien“ benannten Gebiete zeichneten sich durch besondere Gesellschafts- und Religionsverhältnisse aus. Das Land wurde nicht nur von Christen, sondern auch von einer jüdischen Bevölkerung bewohnt, für die die josephinische Religionspolitik die Möglichkeit der Akkulturation mit sich brachte. Sadowski analysiert genau diesen Aspekt und widmet besondere Aufmerksamkeit der Reform des Schulwesens. Seine Diskussion der Bemühungen um eine Modernisierung betont deren negativen Auswirkungen auf die jüdische Bevölkerung. Interessant ist, dass etwas später auch die polnischen Reformkräfte vor ähnlichen Problemen standen. Die eingeleitete Reform der politischen und sozialen Verhältnisse sah eine Emanzipation der Juden durch Akkulturation vor und stieß dabei in der jüdischen Gesellschaft auf Widerstand.1

Ludwig Stockinger fragt in dem sich anschließenden Aufsatz „Saladins Problem in Lessings Nathan der Weise. Vernunft, Toleranz und ‚positive Religionen‘ im aufgeklärten Reformstaat“ (S. 89–106) einleitend danach, was seiner Meinung nach die Literaturgeschichte zur Diskussion um Theorie und Praxis der Toleranz in der Epoche der Aufklärung beitragen kann. Die Antwort formuliert er auf Grundlage der Interpretation einiger Motive von Lessings Nathan der Weise. Er stellt die These auf, dass sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine neue Funktion der Poesie herausbildete, die darin bestand, philosophischen und theologischen Debatten einen von früheren Diskursen unabhängigen Raum zu eröffnen. Der Autor unterstreicht, dass Lessings Stück auf eine offene Diskussion zielte und nicht darauf, fertige Rezepte vorzulegen. Er erinnert zugleich daran, dass die im Zeitalter der Französischen Revolution unternommenen Bemühungen, das Christentum durch einen staatliche „Vernunftreligion“ zu ersetzen, keinen Erfolg hatten und letztlich auch die französischen neuen Machthaber die reglementierte katholische Kultpraxis offiziell als Bekenntnis akzeptierten.

Den zweiten Teil des Bandes eröffnet der Aufsatz „Religiöse Toleranz im Judentum? Die Karäer als halachischer Prüfstein“ von Stefan Schreiner (S. 109–133). Einführend erinnert der Autor an den hohen Grad der inneren Ausdifferenzierung des europäischen Judentums. Angesichts dieser Situation hatte die Frage der Identität für die in der Diaspora agierende jüdische Gesellschaft fundamentale Bedeutung. In der Praxis bildete die Halacha das grundlegende Kriterium bei der Bestätigung der Zugehörigkeit zum Judentum. Schreiner beschreibt die Genese der karäischen „Häresie“, zeigt deren wichtigsten Abweichungen bei der theologisch-rechtlichen Interpretation biblischer Texte auf und erörtert die Charakteristik der Hauptunterschiede zwischen der Interpretation durch die Karäer und durch die Hauptrichtung des Judentums. Anschließend analysiert der Autor das Werk von Moses ben Israel Isserles, der im 16. Jahrhundert den Status der Karäer aus der Perspektive rabbinischen Rechts definierte. Der Krakauer Rabbiner beschränkte sich nicht auf die Feststellung, dass die karäischen Lehrmeinungen nicht mit der Orthodoxie übereinstimmen, sondern formulierte auch Grundsätze, wie Juden mit Karäern umgehen sollten. Der Schluss der Erörterung Schreiners ist den praktischen Konsequenzen der Bestimmungen von Isserles für die späteren karäisch-jüdischen Beziehungen gewidmet.

Der folgende Beitrag von Jan-Friedrich Missfelder trägt den Titel „Verrechtlichung, Verräumlichung, Souveränität. Zur politischen Kultur der Pazifikation in den französischen Religionskriegen (1562–1629)“ (S. 134–154). Die einführenden Überlegungen sind den Möglichkeiten gewidmet, die Epoche der französischen Religionskriege zu periodisieren. Die heutige Forschung neigt dazu, die Epoche bis zum Jahr 1629 auszudehnen, d.h. bis zum Erlass des Ediktes von Alès. Ziel des Autors ist es, die Strategien der seit 1562 unternommenen Bemühungen zur Befriedung Frankreichs zu analysieren. Das behandelte Problem ist von wesentlicher Bedeutung für die Forschungen zur Entwicklung der politischen Elitenkultur in Frankreich. Missfelder konstatiert, dass zwischen der durch königliche Kommissare repräsentierten Zentralmacht und lokalen Eliten immer wieder Spannungen aufschienen. Die Parlamente der Provinzen und die Entscheidungsgremien der Städte hatten häufig eigene Vorstellungen von einer Befriedung des Landes und interpretierten dementsprechend die Vorgaben der königlichen Edikte. Eine weitere Ursache für Konflikte war die für die französischen Religionsfriedensedikte typische Tendenz zur räumlichen Trennung katholischer und reformierter Religionsausübung, was vor allem in den Städten zu nicht abreißenden Missverständnissen führte. Aus dieser Forschungsperspektive ist es unumgänglich denjenigen Historikerinnen und Historikern zuzustimmen, die das Ende der Religionskriegsepoche auf das Jahr 1629 datieren. Der von Ludwig XIII. und Kardinal Richelieu den besiegten Hugenotten diktierte Frieden brachte das Ende von deren politischer und militärischer Bedeutung mit sich und eröffnete eine Epoche des königlichen Absolutismus und den Weg zur Rekatholisierung des Landes.

Der dritte Teil des Bandes enthält zwei Texte. Der Aufsatz von Kerstin Jobst (Wien) „Toleranz und Kalkül. Der Jozafat-Kult im multikonfessionellen Ostmitteleuropa“ (S. 157–178) beleuchtet den Kult um den heiligen Jozafat Kuncevyč (auch Josephat Kuncewicz). Die Autorin beginnt mit einer Charakterisierung von dessen Aktivität in der Rolle eines unierten griechisch-katholischen Erzbischofes von Płock vor dem Hintergrund der Religionsverhältnisse in Polen-Litauen. Anschließend schildert sie die Hauptfunktionen des um ihn entstehenden Heiligenkultes, wobei sie dessen ursprünglich gegen die Orthodoxe Kirche gerichtete Absicht hervorhebt. Später trat zu dieser Funktion diejenige einer Integration der multikonfessionellen und multikulturellen Adelsgesellschaft des frühneuzeitlichen Polen-Litauens. Die politischen Konnotationen verstärkten sich im 19. Jahrhundert, der Epoche gegen Russland gerichteter Aufstände, wodurch er Bedeutung für die Formierung von Nationalbewusstsein in der Ukraine erlangen konnte.

Der Beitrag von Halina Beresnevičiūtė-Nosálova (Leipzig) „Silent tolerance. The discursive presentation of religions diversity in 19th century newspaper reports on charity in Vilnius and Brno“ (S. 179–206) ist der Praktik von Toleranz in den zwei regionalen Hauptstädten gewidmet. Nach der Schilderung der Verhältnisse in Wilna geht die Autorin über zu einer Analyse von Quellen zur Zusammenarbeit von Vertretern unterschiedlicher Bekenntnisse bei caritativen Tätigkeiten. Kennzeichnend für die ausgewerteten Presseerzeugnisse ist, dass sie die Unterschiede des Bekenntnisses ignorieren – die im Titel genannte „schweigende“ Toleranz. Diese Praktik passte anscheinend zu den Intentionen der russländischen und österreichischen Herrschaft. Eine offene Frage bleibt, ob als Effekt dieser Praktik die Akzeptanz für Bekenntnisunterschiede verstärkt werden konnte.

Der letzte Teil des Buches enthält zwei weitere Aufsätze. Josef Hrdlička (České Budějovice) ist der Autor eines Beitrags mit dem Titel „Religiöse (In-)Toleranz im Spannungsfeld zwischen Obrigkeit, Kirche und Untertanen. Eine Fallstudie zum frühneuzeitlichen Böhmens“ (S. 209–235). Der Aufsatz gliedert sich in zwei Teile. Im ersten diskutiert der Autor ausgewählte Aspekte der Beziehungen zwischen weltlicher Herrschaft, kirchlichen Amtsträgern und Untertanen in der multikonfessionellen Gesellschaft Böhmens. Nach einer Vorstellung der Rechtssituation, die eine Koexistenz von Katholiken und hussitischen Utraquisten erlaubte, zeichnet er die Veränderungen nach, die sich im 16. Jahrhundert aus der Rezeption von Ideen der protestantischen Reformation ergaben. Anschließend stellt der Hrdlička mittels einer Analyse des magnatischen Konfessionspatronats die Realitäten der Konfessionsbeziehungen vor. Er illustriert dies durch die Analyse der Verhältnisse in der Privatstadt Jindřichův Hradec (Neuhaus), deren Besitzer am Ende des 16. Jahrhunderts gegenreformatorische Tätigkeit und Rekatholisierung der multikonfessionellen Stadtgesellschaft förderten.

Silke Törpsch (Berlin) erörtert in ihrem Beitrag „Krieg und konfesionelle Koexistenz in Osnabrück 1628–1633. Rudolf von Bellinckhausen, Kurtze beschreibung so [sich] zu Oßnabrugk hat zugetragen“ (S. 236–265) die Konfessionsverhältnisse in einer lutherischen Stadt zur Zeit katholischer Besatzung während des Dreißigjährigen Krieges. Sie konzentriert sich auf die Analyse ausgewählter Aspekte des Alltagslebens der städtischen Gesellschaft, vor allem auf die Praxis der Koexistenz unterschiedlicher Konfessionen angesichts des Drucks der katholischen Machthaber. Die Auswertung der Darstellung von Bellinckhausen erlaubt ihr nicht nur die Konflikte aufzuzeigen, sondern auch die verschiedenen Taktiken zu analysieren, die von den Bürgern angewandt wurden, um sich der veränderten und dadurch gefährlichen Situation anzupassen. Interessant ist auch der Versuch, die örtlich dominierenden konfessionellen Emotionen zu rekonstruieren, die Törpsch – nach C. Karant-Nunn – als Ausdruck des Konfessionalisierungsprozesses begreift.

Anmerkung:
1 Vgl. Jerzy Michalski (Hrsg.), Lud żydowski w narodzie polskim. Materiały sesji naukowej w Warszawie 15–16 IX 1992 [Das jüdische Volk in der polnischen Nation. Materialien einer wissenschaftlichen Tagung in Warschau 15.–16.09.1992], Warszawa 1994.

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