Cover
Titel
Unterhaltung, aber sicher!. Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis „Stahlnetz“ und „Blaulicht“, 1958/59–1968


Autor(en)
Hilgert, Nora
Reihe
Histoire 38
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Kötzing, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Sonntags, 20.15 Uhr: „Tatort“-Zeit in Deutschland! Bis zu 12 Millionen Zuschauer schalten Woche für Woche ein, um… Ja, warum eigentlich? Um den TV-Kommissaren fasziniert bei ihrer vermeintlich realistischen Ermittlungstätigkeit zuzuschauen? Aus voyeuristischem Interesse an brutalen Morden, blutigen Leichen und aufwühlenden Entführungsfällen? Oder schlicht um mitzuraten: Who done it? Das Interesse am „Tatort“ ist – zusammen mit dem ostdeutschen Pendant „Polizeiruf 110“ – längst zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen geworden, sei es in soziologischer, medienästhetischer oder kriminologischer Hinsicht.1 Unlängst fragte sich sogar „Der Spiegel“ in einer Titelgeschichte, warum Deutschland jeden Sonntag einen Mord braucht und erklärte gleich das ganze Land zur „Tatort“-Republik. Der Hype um den „Sonntags“-Krimi verstellt jedoch den Blick dafür, dass weder „Tatort“ noch „Polizeiruf 110“ das Genre in Deutschland etabliert haben. Mit „Stahlnetz“ und „Blaulicht“ gab es bereits in den 1960er-Jahren sehr erfolgreiche Kriminalserien in der Bundesrepublik („Stahlnetz“) bzw. in der DDR („Blaulicht“), die die Ermittlungsarbeit der Polizei zum Gegenstand hatten. Nora Hilgert hat beide Serien in ihrer Dissertation untersucht, die hier in einer gekürzten und überarbeiteten Fassung vorliegt.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, welche zeitgenössischen und systemspezifischen Vorstellungen von Recht und Ordnung in den einzelnen Folgen von „Stahlnetz“ und „Blaulicht“ vermittelt wurden. Hilgert geht dabei von der Grundthese aus, dass beide Serien nicht nur das Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer bedienen sollten, sondern die Macher das Publikum zugleich „über die Arbeit der Kriminalpolizei aufklären und gegenüber Unrecht und Verbrechen zu mehr Sensibilität und Wachsamkeit – besonders im ‚sozialistischen’ Blaulicht – erziehen“ wollten (S. 11).

Um nicht nur die geschichtlichen Hintergründe beider Fernsehserien, sondern auch ihre sinnstiftenden Narrative erfassen zu können, verknüpft Hilgert gezielt historiografische und medienwissenschaftliche Ansätze miteinander. Die einzelnen Folgen der Serien stehen im Mittelpunkt einer historischen Filmanalyse, daneben bindet Hilgert jedoch auch Experteninterviews, Zuschriften von Zuschauern, polizeiliche Unterlagen und andere zeitgenössische Überlieferungen mit in die Untersuchung ein. Grundsätzlich wäre es sicher einfach und naheliegend gewesen, beide Serien unabhängig voneinander zu untersuchen und die Ergebnisse abschließend miteinander zu vergleichen. Die Autorin hat jedoch einen deutlich anspruchsvolleren Weg gewählt, indem sie bestimmte Akteure, Themenfelder oder Figurenkonstellationen herausgreift, die sie konsequent in einer vergleichenden Perspektive anhand beider Serien analysiert, ohne zwischen Ost und West hin- und herzuspringen. Der Ansatz überzeugt, zumal beide Serien nicht nur ein ähnliches Themenfeld behandeln, sondern weil die deutsch-deutschen Wechselwirkungen auch den gesamten Entstehungsprozess prägten: Die Ausstrahlung der ersten „Blaulicht“-Folge im DDR-Fernsehen im August 1959 war eine unmittelbare Reaktion auf den Erfolg der „Stahlnetz“-Reihe, die in der ARD bereits ein Jahr zuvor gestartet war. Das von Christoph Kleßmann geprägte Modell der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“, auf das sich Hilgert bezieht (S. 29f.), bietet sich daher für eine vergleichende Untersuchung dieser Art an und wird hier für den Bereich des Fernsehens sehr gewinnbringend umgesetzt.

Als Grundlage für die Untersuchung dienen ausführliche Schilderungen zu beiden Fernsehserien (S. 78–136), einschließlich biografischer Hintergründe der verantwortlichen Regisseure und Autoren. Auch die zum Teil recht unterschiedlichen Produktionsbedingungen sowie die im Fall von „Blaulicht“ sehr direkte politische Einflussnahme verschiedener SED-Institutionen – vor allem durch das Ministerium des Innern – auf den Produktionsprozess werden herausgearbeitet. Anschließend widmet sich Hilgert in sechs Hauptkapiteln einzelnen Akteuren und Themenfeldern beider Serien: Im Detail untersucht sie die idealtypische Rolle des „Ermittlers“, die negative Identifikationsfigur des „Täters“, die Bedeutung des aufmerksamen „Bürgers“ als Freund und Helfer der Polizei, die Rolle des „Opfers“, die Topografie der „Tatorte“ und die wechselseitige Bezugnahme auf den jeweils anderen deutschen Staat. Am umfangreichsten fallen dabei die Abschnitte zum „Ermittler“ und zu den „Tätern“ aus. Ausgehend von konkreten Szenenanalysen und detaillierten Inhaltsbeschreibungen arbeitet Hilgert heraus, wie sowohl im Westen als auch im Osten – trotzt vieler kleinerer Unterschiede – die Rolle des „Kommissars“ grundsätzlich als positive Heldenfigur etabliert wurde. Die Kommissare verkörperten in den Serien nicht nur das „Gute“ an sich, sondern repräsentierten zugleich auch die Staatsmacht und vermittelten dabei gezielt ein positives Bild der Polizeiarbeit. Die Autorin führt dies nicht allein auf die staatliche Einflussnahme in der DDR zurück, sondern verweist auch auf die Verstrickung der Polizei in die Gewaltverbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus, die vielen Zuschauern bewusst gewesen sein dürfte. Die Hoffnung, mittels der Serien das Image der Polizei verbessern zu können, war daher durchaus gesamtdeutsch.

Auch im Hinblick auf die „Täter“-Typologie kann Hilgert systemübergreifende Ähnlichkeiten zwischen beiden Serien ausmachen, unter anderem die hohe Jugendkriminalität, die sich in beiden Serien widerspiegelt. Während im „Stahlnetz“ das Klischee des „kriminellen Halbstarken“ jedoch im Laufe der Zeit in den Hintergrund rückte, orientierte sich die Darstellung der Jugendlichen im „Blaulicht“ bis zum Schluss an den gängigen Vorstellungen und Klischees, um auffälliges oder normabweichendes Verhalten unter Jugendlichen grundsätzlich zu kriminalisieren. Gerade im Bereich der „Täter“-Typologie zeigt sich, dass Hilgerts Studie durch ihre enge Fokussierung auf beide Serien bisherige Forschungsergebnisse punktuell differenzieren kann: So finden sich in der DDR-Reihe neben den „klassischen“ Verweisen auf die Kriminalität, die meist aus dem Westen kommt, oder durch einzelne, auf eine schiefe Bahn geratene Individuen in der DDR verübt wird, auch Belege dafür, dass zumindest in einigen „Blaulicht“-Folgen Regisseure und Autoren ihre Gestaltungsspielräume auszunutzen wussten, um ideologische Vorgaben partiell zu unterlaufen. Ein Beispiel hierfür ist die Inszenierung von Gewalt innerhalb der Familie in der „Blaulicht“-Folge „Prozeß Jutta H.“ von 1964, die kaum mit der Idealvorstellung einer „sozialistischen Familie“ vereinbar war (vgl. S. 257–261 und 310f.).

Auch in den anschließenden, deutlich kürzeren Kapiteln zur Rolle des „Bürgers“, des „Opfers“, zur Topografie des Tatortes und zur Bedeutung des Ost-West-Konfliktes gelingt es Hilgert, Ähnlichkeiten und Divergenzen zwischen beiden Serien präzise herauszuarbeiten, ohne dabei die politischen Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten aus dem Blick zu verlieren. Viele inhaltliche Beispiele könnten hier angeführt werden, zum Beispiel in Bezug auf die unterschiedlichen Geschlechterrollen in beiden Serien, auf die Hilgert im Detail eingeht. Nicht alle Befunde sind dabei gleichermaßen überraschend oder neu, auch manche Überschneidungen lassen sich nicht immer vermeiden, aber das ist angesichts der Fülle des Materials und des durchweg spannend geschriebenen Manuskriptes leicht zu verschmerzen. Was den Lesefluss hingegen hemmt, ist die Entscheidung des Verlages, die Fußnoten in nahezu gleicher Schriftgröße zu setzen wie den Haupttext und dies auch noch mit vergrößertem Zeilenabstand. Nicht wenige Seiten des Buches sind daher zu zwei Dritteln mit Anmerkungen gefüllt, was bei einem „klassischen“ Satzspiegel sicher zu vermeiden gewesen wäre. Auch die Bebilderung des Bandes wirkt manchmal etwas lieblos, da man auf den kleinformatigen Fotos kaum Details erkennen kann. Vielleicht wäre es ertragreicher gewesen, weniger Bilder zu verwenden, diese dafür jedoch in einem vernünftigen Format?

Unabhängig von solchen gestalterischen Aspekten ist Hilgerts Studie äußerst inspirierend. Sie schließt nicht nur die Forschungslücke zu beiden Serien – bislang waren weder „Stahlnetz“ noch „Blaulicht“ Gegenstand umfangreicherer Untersuchungen –, sondern eröffnet zugleich Perspektiven für weitere, vielversprechende Forschungen zu einer deutsch-deutschen Fernseh-Verflechtungsgeschichte. Nicht zuletzt lädt die Arbeit permanent dazu ein, sich einzelne Folgen beider Serien erstmals oder erneut anzuschauen. Zum Glück muss man dafür inzwischen nicht einmal mehr in das Rundfunkarchiv fahren: Alle 22 Folgen von „Stahlnetz“ liegen schon länger auf DVD vor und seit einigen Monaten sind erstmals auch 12 „Blaulicht“-Folgen auf DVD erhältlich2, sodass weitere Untersuchungen an die exzellente Studie von Nora Hilgert anknüpfen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Dennis Gräf, Tatort. Ein populäres Medium als kultureller Speicher, Marburg 2010 (rez. von Benjamin Städter, in: H-Soz-u-Kult, 01.04.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-005> [27.07.2014]); Hendrik Buhl, Tatort. Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe, Konstanz 2013; Wolfram Eilenberger (Hrsg.), Der Tatort und die Philosophie. Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie, Stuttgart 2014.
2 Eine DVD-Box mit allen Folgen der Reihe „Stahlnetz“ erschien erstmals 2005. In den vergangenen Jahren wurden weitere Editionen veröffentlicht. Vom „Blaulicht“ sind nicht alle Folgen erhalten geblieben. Hilgert erwähnt in ihrer Studie 19 vollständige Episoden (von 29 gedrehten), die Vertriebsfirma „Studio Hamburg Enterprises“, die seit Anfang des Jahres 2014 mehrere Boxen mit „Blaulicht“-Folgen veröffentlicht hat, spricht auf ihrer Homepage hingegen von 23 vollständig erhalten gebliebenen Folgen; vgl. <http://www.studio-hamburg-enterprises.de/presse/2014/07/25/blaulicht-box-4/> (27.07.2014).

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