Cover
Titel
„Wir haben freier gelebt“. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen


Autor(en)
Meyen, Michael
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
232 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kleßmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.“ Dieser Aphorismus des niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom kam mir in den Sinn, nachdem ich die methodisch aufwendige Untersuchung von Michael Meyen, die hier anzuzeigen ist, gelesen hatte. Über kollektives Gedächtnis und kollektive Identität der Deutschen wurde vor und nach 1989 ausgiebig geredet und geschrieben. Da beides schwer fassbare Größen sind, ist die Versuchung der ungebremsten Spekulation darüber umso stärker. Insofern erwartet man mit Spannung, was eine fundierte sozialwissenschaftliche Untersuchung dazu zu sagen hat. Denn wer sich wie zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung an die DDR erinnert, ist eine wichtige Frage der Medien, der politischen Bildung, verschiedener Wissenschaftszweige und auch der Politik. „Was bleibt von der ‚historischen Realität‘, wenn sie vorbei ist“, fragt Meyen und gibt mit Jan und Aleida Assmann die Antwort: Zunächst lebt die Vergangenheit im kommunikativen Gedächtnis, das heißt im Gedächtnis derer, die zumindest teilweise dabei waren und sich darüber auseinandersetzen. Danach, wenn die Zeitzeugen verschwunden sind, wird sie im „kulturellen Gedächtnis“ gespeichert und für dessen Strukturierung spielen – so die These – bestimmte Massenmedien eine Schlüsselrolle.

Mit Michel Foucault und Noam Chomsky werden zwei Großmeister der Medien- und Diskurstheorien in die Arena gebracht, deren Kategorien das empirisch diffuse Material aus Zeitungsanalysen und 27 Gruppendiskussionen mit 122 Teilnehmern strukturieren sollen. Das ist in beachtlichem Umfang gelungen, wenn man die Prämissen der Untersuchung akzeptiert. Zugleich gibt es erstaunliche Blindstellen oder auch triviale Ergebnisse (zum Beispiel, dass das Thema für Westdeutsche deutlich unwichtiger als für Ostdeutsche sei). Reinhart Koselleck hat vor dem allzu gängigen Gerede vom kollektiven Gedächtnis gewarnt und nachdrücklich auf die individuelle und soziale Konturierung von Erinnerungen verwiesen. Er plädiert für das „Vetorecht der je persönlichen Erfahrungen, die sich gegen jede Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv sperren“. Sein „Vorschlag zur Behutsamkeit“: „Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen […]. Die politischen, sozialen, konfessionellen und sonstigen Voraussetzungen begrenzen also die Erinnerungen und geben sie zugleich frei.“1

Das scheint auf den ersten Blick dem zu entsprechen, was der Autor mit seinem Bezug auf Foucault als theoretisches Konzept festgelegt hat: Diskurse formen nach Foucault den „Spielraum des Sagbaren“ und schränken ihn auch ein. Diese Feststellung wird durch die Gruppendiskussionen, die neben der Zeitungsanalyse wichtiger Teil der Untersuchung sind, bestärkt. Und wer bestimmt die Diskurse? Ganz überwiegend die Leitmedien, die hier auf Aussagen zur DDR hin analysiert werden („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“, „Der Spiegel“, „Die Zeit“, „Leipziger Volkszeitung“, „Berliner Zeitung“, „Neues Deutschland“ (ND), „Superillu“). In deren Fokus steht aber, da die meisten (das ND ausgenommen) von Westdeutschen bestimmt werden, das „Diktaturgedächtnis“, während das „Arrangementgedächtnis“ und das „Fortschrittsgedächtnis“ – so die Begriffe aus der Sabrow’schen Typologie zur DDR-Erinnerung – ganz an den Rand gedrängt werden. Damit ist das kommunikative Gedächtnis gestört, in dem der Alltag und nicht die Diktatur die Hauptrolle spielt (S. 231).

Der Titel von Meyens Buch mag als Zitat aus einer Gruppendiskussion zunächst vor allem ein provozierend oder auch korrigierend gemeintes Gegenstück zum „Diktaturgedächtnis“ sein, wie es die Leitmedien im dominierenden öffentlichen Diskurs pflegen. Das Foto auf dem Cover, eine lachende Arbeitergruppe der Buna-Werke 1958 bei der Mittagspause, weist dagegen genau in die vom Titel vorgegebene Richtung. Also noch ein Beitrag, nun aber wissenschaftlich untermauert, zum zeitweilig viel diskutierten Ostalgieproblem?

Das ist sicher nicht die Absicht. Dass die Erinnerung an die DDR im Diktaturgedächtnis zwar richtig und notwendig, aber zugleich nur ganz unzureichend aufbewahrt wird, haben Historikerinnen und Historiker vielfach belegt. Die Verwendung der alltagshistorischen Literatur, die sich seit den 1990er-Jahren durchaus mit vielen Facetten diesen Problemen gewidmet hat, wenn auch mit anderen Zugängen, fällt sehr sparsam aus. So bleibt trotz des hohen methodischen Aufwands der Gesamteindruck aus der Untersuchung etwas impressionistisch. Die sozialen und regionalen Unterschiede, aber auch die erheblichen Verschiebungen in der Erinnerung im Laufe des Wiedervereinigungs- und Transformationsprozesses werden kaum erfasst. Ich habe nirgendwo Passagen entdecken können, die durchaus typische Konstellationen erhellen, wie sich Arbeiter/innen (mit und ohne Arbeit), Wissenschaftler/innen (abgewickelt oder auf Projektstellen), Frauen (in Familie oder alleinerziehend), kirchlich Engagierte oder Atheist/innen und so fort an „ihre“ DDR und deren Ende erinnern; und zwar heute sehr oft anders als in den 1990er-Jahren. Könnte es somit sein, dass gar nicht zu finden ist, was gesucht wird, nämlich ein halbwegs konturiertes „kollektives Gedächtnis“, zumal dieses ständig im Fluss ist? Was fehlt, ist jedenfalls eine soziale, generationsspezifische und zeitliche Differenzierung und Problematisierung über die durchaus sprechenden Zitate aus den Gruppendiskussionen hinaus.

Ähnliches findet man – als Sammlung ohne wissenschaftliche Ansprüche – in dem von Felix Mühlberg und Annegret Schmidt 2001 herausgegebenen Band mit dem hübschen Titel: „Zonentalk. DDR-Alltagsgeschichten aus dem Internet“.2 Er bietet eine systematisch zusammengestellte, aber zwangsläufig chaotische Auswahl von Internet-Äußerungen zu wichtigen Themen der DDR-Geschichte wie Kindheit, Schule, Arbeit, Musik, Liebe/Sexualität, Konsum, Mode, Armeezeit und Ost-West-Kommunikation.

Aus Michael Meyens Gegenüberstellung des dominanten „Diktaturgedächtnisses“ der Leitmedien mit den Gruppendiskussionen ergibt sich insofern ein erhellender und schlüssiger Beitrag zum „kollektiven Gedächtnis“, als dieses viel diffuser ist, als die auf die DDR als SED-Diktatur ausgerichtete öffentliche Debatte vermuten lässt. Die vom Autor im Schlussteil entwickelte Typologie von Einstellungen zur DDR (Ankläger, Ostalgiker, Grübler, Nachdenkliche, Idealisten, Träumer, Ignoranten, Distanzierte) bringt Ordnung in diese unüberschaubare Vielfalt und bricht die vom Titel suggerierte Interpretation überzeugend wieder auf. Aber quantifizieren kann man solche Varianten natürlich nicht, und dass es sie alle gab und gibt, wussten wir auch vorher.

Dass die „konstitutive Widersprüchlichkeit“ (Detlef Pollack) der DDR-Geschichte auch in den nicht weniger widersprüchlichen Erinnerungen und Gedächtnisformen zum Ausdruck kommt, ist für Historiker nicht überraschend und hat in der zeitgeschichtlichen Historiografie längst einen angemessenen Platz gefunden. Insofern ist die Behauptung (S. 231), dem kulturellen Gedächtnis sei eigentlich egal, was im kommunikativen Gedächtnis aufbewahrt wird, mindestens schief. Wer angesichts des uferlosen Informationsangebots nach solider, allerdings eng begrenzter thematischer Präsentation der Berichterstattung führender Printmedien über die DDR sucht, wird hier mit interessanten Auszügen und Hinweisen gut bedient. Aber was sagt das wirklich über das kollektive Gedächtnis aus, wenn man nicht unbesehen Foucault und Chomsky folgt? Sind da „BILD“, das Fernsehen, die Lokalzeitungen oder vielleicht auch das Internet nicht mindestens ebenso wichtig? Niemand kann das alles untersuchen, insofern sind derartige Einwände sinnlos. Aber die dezidierte theoretische Fundierung sichert noch keine schlüssigen und überzeugenden Ergebnisse. Was stört, ist die mit Aplomb daherkommende Geste, nun wüssten wir genauer, wie es um das kollektive Gedächtnis bestellt ist. Am Ende legt der Hund sich eben doch hin, wo er will.

Anmerkungen:
1 Reinhart Koselleck, Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2000, S. 19–32, hier: S. 20.
2 Felix Mühlberg / Annegret Schmidt (Hrsg.), Zonentalk. DDR-Alltagsgeschichten aus dem Internet, Köln 2001.

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