F. Kind-Kovács u.a. (Hrsg.): Samizdat, Tamizdat, and Beyond

Cover
Titel
Samizdat, Tamizdat, and Beyond. Transnational Media During and After Socialism


Herausgeber
Kind-Kovács, Friederike; Labov, Jessie
Reihe
Studies in Contemporary European History
Erschienen
New York 2013: Berghahn Books
Anzahl Seiten
XIII, 366 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katalin Cseh, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien

Dass es sich beim Sammelband „Samizdat, Tamizdat, and Beyond“ um einen Meilenstein in der kritischen Geschichtsschreibung dieser Underground-Medien handelt, lässt sich an drei Merkmalen festmachen. Das erste Merkmal liegt im Bemühen der Herausgeberinnen, Zentral- und Osteuropa als eine vernetzte Kultur darzustellen. Das zweite ist die aktuelle Relevanz von transnationalen, alternativen Kommunikationsformen. Und drittens liefert der Band einen Beitrag zur detaillierten Ausdifferenzierung des Begriffs einer „zweiten Öffentlichkeit“ – sowohl aus historischer als auch gegenwärtiger Sicht.

Friederike Kind-Kovács und Jessie Labov haben ihr Buch in vier Themenkomplexe gegliedert: „Producing and Circulating Samizdat/Tamizdat Before 1989“ (S. 25–104); „Diffusing Nonconformist Ideas Through Samizdat/Tamizdat Before 1989“ (S. 105–171); „Transforming Modes and Practices of Alternative Culture“ (S. 173–217); “Moving From Samizdat/Tamizdat To Alternative Media Today“ (S. 219–332). Die vorliegende Besprechung wird dieser Gliederung nicht immer folgen, sondern unternimmt den Versuch, durch zusätzliche Perspektiven die Kerngedanken der einzelnen Essays zusammenzufassen und zu ergänzen.

Dass Samizdat und Tamizdat nicht nur spezifisch osteuropäische Phänomene sind, die geopolitisch an diese Region und zeitlich an die Ära des real existierenden Sozialismus gebunden waren, geht aus mehreren Abhandlungen hervor. Cristina Petrescu untersucht in ihrem Beitrag (als Sonderfall) die zerstreute, fragmentarische und kaum wahrgenommene Präsenz des rumänischen Samizdat und Tamizdat. Tamizdat als transkulturelles Medium zeigt sich auch im Aufsatz von Lars Fredrik Stöcker, in dem er exemplarisch die Verbindung polnischer Intellektueller nach Schweden thematisiert. Zudem werden aktuelle Phänomene behandelt: So macht der Essay von Martin Hala auf eine paradoxe Gegenkultur im China des digitalen Zeitalters aufmerksam. Obwohl die Volksrepublik keine signifikante Geschichte des Samizdat aufweisen kann, führte dort die Etablierung der Blogosphäre zur Herausbildung einer freien öffentlichen Meinung. Barbara J. Falk zufolge sind auch zwischen der marginalisierten Intellektuellengeschichte Osteuropas und der soziopolitischen Krise des Nahen Ostens eklatante Gemeinsamkeiten zu erkennen. (Ideologische) Lektionen des Kalten Krieges könnten Falks Meinung nach Lösungen für aktuelle Probleme der Region bieten.

Die Geschichte des klassischen Samizdat und Tamizdat wird häufig im Zusammenhang mit unterschiedlichen Ausprägungen des Intellektuellendiskurses erzählt. (Emigrierte) Intellektuelle werden als „mediators between the blocs“ (S. 53) oder auch als charismatische, legendäre Figuren einer demokratischen Opposition dargestellt. Dass in dieser inoffiziellen Sphäre nicht nur Intellektuelle die Fäden gezogen haben, sondern auch Künstler involviert waren, weisen die Texte von Ann Komaromi und Valentina Parisi nach. Erstere beschreibt die Tätigkeit der US-amerikanischen Ardis Publishers als Reprint- und Faksimileproduzenten von Samizdats sowjetischen Ursprungs, letztere analysiert am Beispiel des A-Ja-Kunstsamizdats die Bestrebung der sowjetischen Postavantgarde, einen Platz in der internationalen Kunstszene zu gewinnen und systemkritisch evaluiert zu werden. Samizdat und Tamizdat als soziale und identitätsstiftende Phänomene ermöglichten die Zugehörigkeit von Produzenten und Rezipienten zu Intellektuellen- oder Künstlerkreisen, worauf auch Ann Komaromi in ihrem Beitrag hinweist.

In den thematischen Fokus des Sammelbandes rücken ferner Textualität, Materialität und Ästhetik des Untersuchungsgegenstandes. Der bereits erwähnte Beitrag von Ann Komaromi zeigt beispielsweise, wie Textualität und Materialität von Samizdats durch Reproduktionsverfahren verändert werden – entkoppelt vom ursprünglichen Kontext, aber dem Original getreu archiviert. Auf das unprofessionelle Herstellungsverfahren kommt außer Komaromi auch Brian A. Horne (im Zusammenhang mit Magnitizdat) zu sprechen. Mit Samizdat und Tamizdat war und ist die Erwartungshaltung von Authentizität und unverfälschter Information verbunden.1 Doch Muriel Blaives Essay weist darauf hin, dass einige historische Fälle von Undergroundmedien bezeugen, wie falsche, nicht überprüfte Informationen in Umlauf gebracht wurden.

Verschiedene Deutungs- und Abgrenzungsversuche von Samizdat und Tamizdat führen zu dem Ergebnis, dass nicht nur Printformate die Aufgaben des Undergroundmediums erfüllen, sondern auch diverse trans- und intermediale Zeichensysteme. So treten Samizdat und Tamizdat bereits sehr früh mit dem Radio in Verbindung: Ihre Inhalte wurden unter anderem von Radio Free Europe/Radio Liberty ausgestrahlt. Die Unmittelbarkeit der mündlichen Übertragung (nach Kind-Kovács) und die körperlose Audionachricht (nach Daniel Gilfillan) sind entmaterialisierte Wirkungsmechanismen alternativer Kommunikation. Neben dem Internet ist auch das grenzüberschreitende tschechoslowakisch-englische Tamizdat-Video ein Hypermedium, das Alice Lovejoys Beitrag zufolge durch Privatheit und direkten Erlebnishaftigkeit gekennzeichnet gewesen sei.

Samizdat und Tamizdat bewirkten nicht nur die Zirkulation materieller Formate, sondern auch die Verbreitung von Ideen (vorwiegend) osteuropäischer Intellektueller zur Zivilgesellschaft, Ethik, Gewaltlosigkeit und zu den Menschenrechten. Agnes Arndt zeigt zum Beispiel, wie der Terminus „Zivilgesellschaft“ „[...] enabled Polish intellectuals to get in touch with this transnational discourse, and to establish a common linguistic ground between East and West European politicians“ (S. 167). Barbara J. Falk deutet demgegenüber darauf hin, wie gewisse Vorstellungen und Überzeugungen vom Kontext entkoppelt und für andere Regionen und Zeitalter demokratisierend fruchtbar gemacht werden können.

Obwohl der Aspekt der Performativität in der Übertragung von Samizdat und Tamizdat angesprochen wird, ist Brian A. Hornes Beitrag der einzige, in dem hervorgehoben wird, dass die performative Ebene des Vortragens von den „bard songs“ (S. 177) mit in die Produktion des Informationsträgers hineinfließt. Performativität als Aneignungsverfahren des Rezipienten kann ein möglicher Ausgangspunkt sein. Darüber hinaus könnte eine medienwissenschaftliche Herangehensweise an den Forschungsgegenstand erkenntnisfördernd sein. Die organische Verflechtung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, instabile Textualität2 und (theoretisch) uneingeschränkte Reproduzierbarkeit wären detaillierter zu beschreiben. Die verkürzte Betrachtungsweise der politischen, rebellischen Natur des Selbstverlages und dessen Medialität ist ebenfalls bereits früher kritisiert worden.3

Der abschließende Teil des Bandes widmet sich dem Nachleben von Samizdat und Tamizdat im 21. Jahrhundert. Nicht nur Ideen des Dissens bewahren weiterhin Aktualität, sondern auch die Metapher von Samizdats als „[...] horizontal patterns of information exchange and the informal character of communication“ (S. 223). Henrike Schmidt zeigt anhand des russischen Online-Underground, welchen hohen Stellenwert ein freier und unabhängiger Informationsraum in einem postkommunistischen, autoritären Land hat. Obwohl die Wichtigkeit dieser Fragestellungen angesprochen wird, fehlt auch hier eine präzisere Medienanalyse. So hat etwa Harold Bloom an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass die Dezentralität des Internet nicht kanonisierbare Formate hervorruft. In diesem Zusammenhang kann auch die Autorität, Autonomie und Abgeschlossenheit von textlichen Entitäten bezweifelt werden.4 Instabilität und Unabgeschlossenheit sind Charakteristika von Samizdat, die auch in diesem Zusammenhang einer expliziten Untersuchung bedürfen.

Wie anfangs angedeutet wurde, liegt ein bedeutender Verdienst des Bandes „Samizdat, Tamizdat, and Beyond“ darin, dass verschiedene Öffentlichkeitsdiskurse differenziert werden. (Historische) Terminologien zur Parallelkultur werden zwar kurz erläutert (Lovejoy nennt Václav Benda und Ivan Martin Jirous; Schmidt zitiert Nancy Fraser und Geert Lovnik), aber eine systematische Analyse des Begriffs bleibt aus. Ein Vergleich mit klassischen Theorien der Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit (etwa von Jürgen Habermas, Oskar Negt/Alexander Kluge, Janelle Reinelt, Michael Warner und anderen) könnte die Spezifik von Zentral- und Osteuropas öffentlicher Sphäre präziser hervorheben. Ein vielversprechender Versuch diese Lücke zu füllen, ist die finale Abhandlung von Jacques Rupnik zur Herausbildung eines europäischen Dialogs zwischen West und Ost, basierend auf gegenseitig anerkannten Ideen (zum Beispiel den Menschenrechten). Dieser Prozess wurde nach 1989 angehalten, doch Rupniks Vorschlag ist „[...] to return to the unfinished task of creating a European public space“ (S. 331).

Anmerkungen:
1 Siehe dazu auch: Olga Zaslavskaya, From Dispersed to Distributed Archives. The Past and the Present of Samizdat Material, in: Poetics Today 29 (2008), S. 669–712, S. 678.
2 Vgl. Ann Komaromi, Samizdat as Extra-Gutenberg Phenomenon, in: Poetics Today 29 (2008), S. 629–667.
3 Zu Bodó Balázs Piracy-Konzept, vgl. Bodó Balázs, Coda: A Short History of Book Piracy, in: Joe Karaganis (Hrsg.), Social Science Research Council. Media Piracy in Emerging Economies, New York 2011, S. 399–413, online verfügbar unter:
<http://www.ssrc.org/workspace/images/crm/new_publication_3/%7Bc4a69b1c-8051-e011-9a1b-001cc477ec84%7D.pdf> (15.10.2013).
4 Vgl. Scott Kushner, Virtually Dead, Blogospheric Absence and the Ethics of Networked Reading, in: The Communication Review 14 (2011), H. 1, S. 24–45, S. 40.

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