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Titel
Sparta’s German Children. The Ideal of Ancient Sparta in the Royal Prussian Cadet-Corps, 1818–1920, and in National-Socialist Elite Schools (the Napolas), 1933–1945


Autor(en)
Roche, Helen
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
£45.00 / € 57,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Hagen Stöckmann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

In ihrer am Gonville & Caius College der Cambridge University entstandenen Dissertation wirft die Historikerin und klassische Philologin Helen Roche einen neuen, ungewohnten Blick auf die Schul- und Erziehungsgeschichte des Deutschen Reichs zwischen 1818 und 1945, indem sie die Rezeption, Bedeutung und Wirkmächtigkeit eben des Spartamythos im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ untersucht. Dabei beschränkt sie sich mit den Königlich Preußischen Kadettenanstalten sowie den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola) auf zwei Institutionen, die laut Roche exemplarisch für die Sphäre deutscher „elite education“ stehen sollen. Ziel der Arbeit ist es, zu eruieren, welche Rolle „the Spartan paradigm played in the personal lives of cadets and Napola pupils, and the ways in which perceptions of Sparta were integrated into contemporary political attitudes and debates“ (S. 1). Damit schreibt sich Roche in einer längeren Forschungsgeschichte über die Preußischen Kadettenanstalten1 ein, kann allerdings für sich beanspruchen, eine der ersten Arbeiten über die Napola in englischer Sprache zu liefern.2

Ein einleitender Teil klärt die methodischen Grundlagen der Arbeit, die sich vor allem mit der Überlieferung und narrativen Ausformung des Spartamythos im Umfeld der Kadettenanstalten wie der Napola beschäftigt. Während sie sich notgedrungen bei den Kadettenanstalten auf zumeist zeitgenössische Publikationen und Memoiren ehemaliger Kadetten verlassen muss, ist es ihr hoch anzurechnen, sich für die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten mit mehreren Dutzend ehemaligen Zöglingen dieser Ausleseschulen in Verbindung gesetzt und um Erinnerungsberichte gebeten zu haben. Dass dies nicht in Form von Oral-history-Interviews, sondern via schriftliche Korrespondenz erfolgte, ist zwar bedauerlich, wohl aber forschungspraktischen Erwägungen geschuldet. Als zentrales Analyseinstrument dient Roche im weiteren Verlauf Erving Goffmans Theorie der „totalen Institution“: Der Spartamythos als zentrales Narrativ der schulischen wie vormilitärischen Ausbildung habe Zöglingen wie Erziehern als Selbstversicherungsformel gedient, um Mühen, Strapazen und Demütigungen des Sozialisationsalltags als Dienst an der nationalen und später nationalsozialistischen Sache vor sich wie vor anderen zu rechtfertigen. Das altgriechische Vorbild der spartanischen Kriegerkaste – fußend auf Askese, Drill und militärischer Disziplin – habe in dieser Hinsicht bereits im preußischen Heer als eine Art „pseudo religion“ (S. 17) gedient, um sowohl den schwindenden patriotischen Gehorsam zu heben wie die Kritik am Ausbildungswesen ob der späteren Selbstmordwellen unter Kadetten in ein Narrativ der nationalen Härte zu überführen.

Der erste – und bei weitem umfangreichere – Abschnitt des Hauptteils kann anhand verblüffend vieler Einzelbelege vor allem eines deutlich belegen: Der Rückgriff auf das altgriechische Vorbild Spartas war verbreiteter und üblicher im Kontext der Preußischen Kadettenanstalten, als dies wohl bislang in den Blick gekommen ist. Roche gelingt es aus einer Vielzahl an Quellen, das Bild der vormilitärischen Erziehung an den Institutionen nachzuzeichnen. Ein Großteil der Ausbildung war bestimmt durch Elemente sportlicher wie vormilitärischer Formationserziehung. Roche hingegen ist es darum zu tun, nachzuzeichnen, wie vor allem im Geschichtsunterricht durch die Vermittlung eines am griechischen Sparta orientierten Männlichkeitsideals Techniken der Selbstüberwindung und Unterordnung unter die Gemeinschaft semantisch untermauert worden seien.

Hervorzuheben ist Roches Verdienst, mit der „Traditionsgemeinschaft der Kadettenanstalten“ eine Erinnerungsgemeinschaft der ehemaligen Anstaltszöglinge identifiziert zu haben, deren Vertreter in der Folge des Versailler Vertrages sich nicht nur in großer Zahl in der Reichswehr, sondern auch in den Freikorps wiederfanden. Roche gelingt es, die Erinnerungsarbeit dieser Gruppe bis in die frühen 1990er-Jahre zu verfolgen und die Deutung der jüngeren deutschen Zeitgeschichte durch diese Gruppe nachzuzeichnen. In Form regelmäßiger Bundeskadettentage trafen sich die Absolventen der Anstalten in loser Form auch zu einem Zeitpunkt, als – zumal militärisches – Elitedenken eben nicht mehr à la mode war. Roche zeichnet die ehemaligen Kadetten als durchaus heterogene Gruppe, der die Selbstvergewisserung als „deutsche Spartaner“ dennoch als individualbiographisches wie generationelles Konstrukt diente, „to cling on to an idealised vision of their past and […] to counter the constant criticism […] of the cadet corps as flawed and treasonable“ (S. 167). In Form dieser ganz eigenen Form der „Vergangenheitsbewältigung“ rückt die Traditionsgemeinschaft der Kadetten weniger nach politischer Ausrichtung denn vielmehr nach Form und Funktion der Vernutzung der eigenen Vergangenheit in die Nähe etwa des Freideutschen Kreises, wie ihn Thomas Kohut in seiner jüngsten Studie beschrieben hat.3

Der zweite Hauptteil des Bandes setzt sich mit den spezifisch nationalsozialistischen Aneignungsweisen des Spartatopos auseinander, die in erster Linie Aneignungen und Einschreibungen in die Tradition der Preußischen Kadettenanstalten waren. In der Tat orientierten sich Tagesablauf, militärischer Drill und sogar die Uniformen der NPEA-Schüler weitestgehend an jenen Gepflogenheiten der Preußischen Kadettenanstalten. Nach Roche war es denn auch ganz im Sinne Bernhard Rusts – zunächst preußischer Staatsminister und seit 1934 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung – die Orientierung am altgriechischen Vorbild Sparta mit mindestens gleicher Emphase fortzuführen. Wie ambivalent die Orientierung am altgriechischen Vorbild Sparta zuweilen sein konnte, erweist sich am Beispiel des ersten Inspektors der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, Joachim Haupt. Als Schützling Rusts zeichnete er nach 1933 kurzfristig verantwortlich für die Leitung der Napola. Ein Posten, den er nicht lange halten konnte, war er doch bereits im Zuge des Röhmputsches 1934 ob seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Nähe zum Stabschef SA ins Visier des SS geraten. Tatsächlich schwebte Haupt wohl eine ganz eigene Ausrichtung der Napola vor, die sich in nicht unerheblichem Maße am griechischen Ideal des Männerbundes orientierte und damit Aspekte wie pädagogischen Eros oder päderastische „Knabenführung“ ausdrücklich mit einschloss. Die Verhaftung Haupts 1935 durch die Gestapo und die anschließende Entlassung aus dem Staatsdienst aufgrund angeblicher „homosexueller Verfehlungen“ gegenüber Schützlingen in Plön und Schulpforta deutet Roche etwas zu eindeutig, wenn sie schreibt, „Haupt’s emphasis on the pederastic elements of Sparta had come into conflict with the homophobia inherent in mainstream Nazism, and defeated by it“ (S. 194). Dass es gerade die Bemühen Haupts waren, die Napola als staatliche Anstalten (wie etwa die Adolf-Hitler-Schulen) zu erhalten und damit dem Zugriff der HJ und der SS zu entziehen, die ihn für Konkurrenten wie etwa Himmler unhaltbar machten, zieht Roche nicht in Betracht. Eine Deutung freilich, für die die folgende Besetzung des Inspekteur-Amtes mit dem SS-Obergruppenführer August Heißmeier spricht.

Der Schwerpunkt des NS-Teils von Roches Buch liegt eindeutig auf der Analyse der Textbücher in den Napola. Insbesondere der Geschichtsunterricht diente der Vermittlung eben auch einer Deutung Spartas als Männer- und Kampfbund, der ein angeblich natürliches Wissen um die „Verderblichkeit der Blutsvermischung“ tradiert habe. Mit Blick auf die Anstaltsblätter der einzelnen Napola, aber auch auf Gesinnungsaufsätze und nicht zuletzt auf die durch sie erhobenen Erinnerungsberichte kann Roche eine genuin nationalsozialistische Fortführung und Neubestimmung des Spartamythos nachzeichnen. Dass die Orientierung am altgriechischen Vorbild dabei weniger Ergebnis zentraler Steuerung, sondern nicht selten der Initiative der – zumeist bereits im Kaiserreich sozialisierten Lehrer – entsprang, zeigt nach Roche, dass dem Führer auch philologisch entgegen gearbeitet werden konnte.

Helen Roche probt mit ihrem „Sparta’s German Children“ einen Drahtseilakt zwischen klassisch-philologischer Textkritik und zeithistorischer Thesenbildung. Dass ihr dies zwar in weiten Teilen, aber nicht über die gesamte Distanz gelingt, hängt in erster Linie mit Auswahl und Auswertung ihrer Quellen zusammen. So ist die Prominenz der Anleihen an spartanische Traditionen in den (publizierten) Erinnerungsberichten aus den Kadettenanstalten wahrscheinlich mehr dem bildungsbürgerlich-humanistischen Hintergrund der Leserschaft als der tatsächlichen Sinnstiftung durch die Akteure geschuldet. Wie fruchtbringend eine Auseinandersetzung mit den lebensgeschichtlichen (Selbst-)Deutungen der Akteure indes sein kann, hat sie im Zusammenhang mit der Traditionsgemeinschaft der Kadetten eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Indes vermag ihre Deutung der untersuchten Schulen als „totale Institutionen“ nicht recht überzeugen: Der hermetische Charakter der Institutionen, wie er sich in den Textbüchern oder auch Erinnerungsberichten darstellen mag, lässt sich zumindest mit Blick auf die administrative Ebene nicht halten und sollte von hier aus hinterfragt und gebrochen werden. Wünschenswert wäre zudem eine intensivere Auseinandersetzung mit der jüngeren Forschungsliteratur und (jüngeren und älteren) -debatten gewesen. Ein Verweis zumindest auf die ältere Sonderwegsdebatte hätte bei diesem Thema geradezu auf der Hand gelegen, aber auch die rezenten Debatten über Polykratie, neue Staatlichkeit oder die vermeintliche oder tatsächliche Kohäsionskraft (volks-)gemeinschaftlicher Rhetorik böten sich an.

Helen Roche hat mit ihrer Studie die Geschichte der – in diesem Fall männlichen – Erziehung und Elitensozialisation um eine interessante Perspektive bereichert. Trotz einiger Kritikpunkte gelingt es Roche, eine Geschichte zu erzählen, die von der Korrumpierbarkeit eben auch der philhellenistischen Antikenrezeption und mithin des bildungsbürgerlichen Dünkels (wahrscheinlich deutscher Prägung) berichtet. Sich auf dieses anspruchsvolle Unternehmen eingelassen zu haben, ist Helen Roche hoch anzurechnen.

Anmerkungen:
1 John Moncure, Forging the King’s Sword. Military Education between Tradition and Modernisation – The Case of the Royal Prussian Cadet Corps, 1871–1918, New York 1993; Steven Clemente, For King and Kaiser! The Making of the Prussian Army Officer, 1860–1914, Westport 1992; Heiger Ostertag, Bildung, Ausbildung und Erziehung des Offizierskorps im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918. Eliteideal, Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1990.
2 Siehe zu den Napola bislang vor allem Erinnerungsberichte ehemaliger Schüler wie Joachim Leeb, „Wir waren Hitlers Eliteschüler“ Ehemalige Zöglinge des NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, München 1998; als jüngere Arbeit nach den Pionierstudien von Harald Scholtz oder Horst Überhorst dann der Band von Christian Schneider / Cordelia Stillke / Bernd Leineweber, Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, Hamburg 1996.
3 Thomas A. Kohut, A German Generation. An Experiential History of the Twentieth Century, New Haven 2012.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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