C. Schmidt (Hrsg.): Können wir der Geschichte entkommen?

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Titel
Können wir der Geschichte entkommen?. Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts


Herausgeber
Schmidt, Christian
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Jünger, Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

Wozu ein weiterer Band zum gegenwärtigen Status der Geschichtsphilosophie könnte man angesichts einer Fülle an Veröffentlichungen zum Thema in jüngster Zeit fragen. Die Antwort wird dabei bereits im Titel des von Christian Schmidt herausgegebenen Sammelbands „Können wir der Geschichte entkommen?“ gegeben. Während in den meisten geschichtsphilosophischen Deutungen danach gefragt wird, welche Schlussfolgerungen sich aus der Geschichte ziehen lassen oder welche Möglichkeiten der historischen Antizipation die Geschichte für uns bereithält, wählen die hier versammelten Autoren eine entgegengesetzte Perspektive: Sie fragen danach, wie wir der Geschichte entkommen können. Ausgehend von der Beobachtung, dass gegenwärtige politische und historische Entwicklungen scheinbar einem notwendigen Lauf zu folgen scheinen, wird in dem Band danach gefragt, wie dieser scheinbaren Notwendigkeit zu entkommen ist. Christian Schmidt spricht in seiner Einleitung vom „Projekt einer Unterbrechung geschichtlicher Dynamik“ (S. 9) statt ihrer geschichtsphilosophischen Aneignung. Johannes Rohbeck hat wiederholt, und zuletzt 2013 mit der Arbeit Zukunft der Geschichte, sein Projekt einer „Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie“ ausformuliert – ein Ansinnen, das in dem Sammelband zurückgewiesen wird. In Martin Saars Beitrag heißt es beispielsweise: „Die Anmaßung der Besserwisserei ist der entscheidende Einwand vielleicht gegen jede, zumindest aber gegen die Geschichtsphilosophie, wie wir sie kennen und verabschieden gelernt haben: Sie zwinge der Heterogenität und Vielfältigkeit des Geschichtlichen von vornherein ein Schema und damit eine Einheitlichkeit auf, die diese von sich aus nicht besitzen.“ (S. 42)

Somit geht es dem Herausgeber und den Autoren weder um die Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie noch überhaupt um die Geschichte als Kollektivsingular, sondern darum, wie sich historische Dynamiken unterbrechen lassen oder man ihnen entkommen kann. Die Autoren des Bandes beschreiben und problematisieren Möglichkeiten und Figuren des Entkommens und beziehen sich dabei überwiegend auf Vertreter sowohl des französischen Poststrukturalismus als auch der Kritischen Theorie. Autoren wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Alain Badiou oder Jacques Rancière dienen im Großteil der Beiträge als Referenzen einer Beschäftigung mit Geschichte, die diese eher sezieren als auf ihren allgemeinen Begriff bringen will. Erstaunlicherweise scheinen dabei für die Autoren des Bandes weder der poststrukturalistische Feminismus noch überhaupt Frauen Ansätze zu bieten, findet sich doch unter den Referenzen der Beiträge keine einzige Frau.

Ausgangspunkt der Konzeption des Sammelbandes ist jedoch die Kritische Theorie und ihr kategorialer Bruch mit Geschichts- und Fortschrittskonzeptionen angesichts der Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts. Walter Benjamins Allegorie vom „Griff […] nach der Notbremse“, die Unterbrechung des geschichtlichen Verlaufs statt deren Beschleunigung also, wird zum Leitmotiv der einzelnen Beiträge. Schmidts Absicht – wenn auch nicht expressis verbis – scheint die Versöhnung von Kritischer Theorie und Poststrukturalismus zu sein, zwei philosophischen Strömungen, die in der Rezeption gemeinhin eher gegeneinander als komplementär zueinander diskutiert werden. Während der Status des Poststrukturalismus als zeitgemäße Antwort auf die Geschichtsphilosophie im Band selbst kaum in Frage steht, sind sich die Autoren nicht darüber einig, ob die Kritische Theorie, bzw. einzelne ihrer Vertreter, als Referenzen einer enttotalisierenden Geschichtsbetrachtung gelten können. Schmidt selbst führt Walter Benjamin und die Kritische Theorie in seiner Einleitung ein, und Peggy H. Breitenstein verteidigt in ihrem Beitrag Negative Geschichtsphilosophie nach Adorno Adornos Geschichtsdenken als noch immer zeitgemäße Antwort auf die Krise der Geschichtsphilosophie. In Nikolas Kompridis Beitrag „Kritik, Zeit, Geschichte“ hingegen wird zwar Benjamin verteidigt, Adornos Konzeption jedoch entschieden zurückgewiesen. Während Benjamin versuche, die scheinbare Totalität von Geschichte und Gesellschaft zu durchbrechen, ginge es Adorno darum, diese Totalität begrifflich zu erfassen, damit aber auch zu erhalten. Besonders kritisiert der Autor dabei das Avantgardedenken Adornos und anderen Vertretern der Kritischen Theorie: Adorno scheine „weniger den auf die Katastrophe zutreibenden Zustand der Welt zu betrauern, als den Verlust der entschiedenen Avantgardstellung der Philosophie in ihrer Beziehung zur Geschichte“ (S. 35).

Gleichwohl versuchen nahezu alle Autoren die Totalität der Geschichte – als Kollektivsingular oder als geschichtliche Dynamik – zu durchbrechen. Dies zeigt sich bereits an den gewählten Begrifflichkeiten, die die Beiträge des Bandes durchziehen. Der Begriff der „Möglichkeit“ ist der meistgebrauchte; in expliziter Ausführung vor allem bei Kompridis, in Beatrice Kobows „Was ist als-ob? Die Rolle des Fiktiven in der Geschichte“ oder Martin Saars „Notwendige Geschichte – Zur Debatte um ‚radikale Aufklärung‘“. Fast genauso häufig wird der Begriff des „Ereignisses“ eingeführt, so besonders in Martin Jays „Der Historismus und das Ereignis“ und Frank Rudas „Was ist eine geschichtliche Sequenz? Zur philosophischen Analyse von Prozessen der Veränderung“. Begriffe wie Möglichkeit und Ereignis aber auch Autonomie, Sequenz oder Offenheit prägen die Beiträge des Bandes. Fast keine Verwendung, bzw. nur in pejorativer Weise, finden hingegen solcherart Begriffe, die für die Geschichtsphilosophie eigentlich reserviert zu sein scheinen: Notwendigkeit, Teleologie oder Metaphysik. Begriffe des Punkts, des Kurzzeitigen, des Unerwarteten sind hier also Schlüsselbegriffe statt derjenigen der Gerade, der longue durée, des Vorherbestimmten. In verschiedener Weise versuchen also die Beiträge, Möglichkeiten selbstbestimmten Eingreifens (Autonomie) oder Möglichkeiten eines anderen historischen Verlaufs freizulegen oder zumindest: Möglichkeiten offenzuhalten. Besonders erwähnenswert ist dabei Nikolas Kompridis Beitrag, der dafür plädiert, nicht allein die Zukunft als offene, sondern bereits die Vergangenheit als eine Ansammlung (noch) nicht verwirklichter Möglichkeiten zu begreifen.

Und dennoch gerät der Band an seine Grenzen, wenn in ihm zwar Möglichkeiten des Entkommens auf vielfältige Weise diskutiert werden, aber gleichzeitig anerkannt werden muss, dass der Geschichte wohl doch nicht zu entkommen sei. In Martin Saars Beitrag heißt es: „Diese Möglichkeiten sind historisch durch und durch, weil auch die Vernunft immer gewordene, verkörperte, gelebte Vernunft ist. Der Geschichte nicht entrinnen zu können, weil sie notwendig ist, bedeutet nicht, ihr ausgeliefert zu sein.“ (S. 59) In verschiedenen Beiträgen kehrt somit dann doch wieder die Notwendigkeit der Geschichte zurück und bisweilen sogar die Verteidigung der Geschichtsphilosophie, wie in Peggy Breitensteins Beitrag über Adorno. Sie schreibt, es solle in ihrem Beitrag „dafür argumentiert werden, dass die seit zwei Jahrhunderten immer wieder problematisierte Geschichtsphilosophie heute nur zu rehabilitieren ist, wenn sie dergestalt entworfen wird, wie es von ihm [Adorno] vorgeschlagen wurde“ (S. 82). Diese beinahe schon dogmatische Setzung, dass Geschichtsphilosophie nur sein kann, wenn man sie wie Adorno betreibt, steht den ursprünglich ausgeführten Intentionen des Bandes entgegen, das Konzept der Geschichte zu öffnen anstatt es zu schließen. Letztlich beantworten die Beiträge die Frage danach, ob wir der Geschichte entkommen können, zwar überwiegend mit „Nein“, öffnen aber den Blick für Möglichkeiten der Kontingenz, der Unterbrechung oder der Zurückweisung scheinbar notwendiger historischer Prozesse. Die hier versammelten Beiträge geben somit einen interessanten und auch ungewohnten Einblick in eine Betrachtung der Geschichte, die sich von den klassischen Paradigmen der Geschichtsphilosophie, des Historismus oder auch der Posthistoire lösen will.

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