B. Sauer: „Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stiche lassen“

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Titel
„Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stiche lassen“. Abituraufsätze im Dritten Reich


Autor(en)
Sauer, Bernhard
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 46
Erschienen
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Conrad, Studienseminar für Gymnasien, Darmstadt

Bernhard Sauer (geb. 1949), Lehrer, Historiker und profunder Kenner der Frühgeschichte der NSDAP, der Freikorps und der Schwarzen Reichswehr, hat in seinem Buch „Nie wird das Deutsche Volk seinen Führer im Stiche lassen“ 16 Abituraufsätze des Heese-Gymnasiums in Berlin-Steglitz aus den Jahren 1934 bis 1942 inklusive der Kommentare und Bewertung der Lehrer dokumentiert. In Fußnoten erläutert der Herausgeber Personen, Orte, Ereignisse und Prozesse, auf die in den Aufsätzen Bezug genommen wird. Nach der Dokumentation jedes Aufsatzes ordnet Sauer diesen in den Entstehungskontext ein und stellt den Bezug zur nationalsozialistischen Ideologie und Politik her. Dadurch verdeutlicht er, wie schulische Erziehung dazu beitrug, die Jugendlichen im Sinne der Rassen-, Kriegs- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes zu formen. Die Dokumentation der Aufsätze ist eingerahmt durch eine Einleitung, in welcher Sauer Schüler, Eltern und Lehrkräfte des Gymnasiums soziologisch einordnet, und eine „Schlussbetrachtung“, in welcher er ein Fazit zieht hinsichtlich der Schulgeschichte als „Spiegelbild der Zeitgeschichte“ (S. 118). Die Aufsatzsammlung zeigt eindrücklich auf, wie sich das konservative humanistisch gebildete Bürgertum in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes stellte, obwohl am 30. Januar 1933 weder der Schulleiter noch ein Lehrer Mitglied der NSDAP waren und bis 1936 lediglich ein Lehrer der NSDAP und vier Lehrer dem NS-Lehrerbund beigetreten waren (S. 17).

Die Themenstellungen der Aufsätze erlauben keinerlei diskursive Auseinandersetzung, sondern fordern ungeteilte Zustimmung zur Politik des NS-Regimes und zur Person Adolf Hitlers. Zwei Arten von Themenstellungen sind erkennbar: Zum einen zielen sie auf Verherrlichung des „Führers“ und seiner nationalistischen und aggressiven Außenpolitik sowie – ab 1940 – auf Förderung von Kriegsbegeisterung und Durchhaltewillen; Beispiele dafür sind Themen wie „Was hat Hitler für das Deutsche Volk geleistet?“ (19.01.1934), „Worauf beruht Führertum?“ (24.01.1935) oder „Wir bauen mit am neuen Reich!“ (20.01.1936). Als Reaktion auf die sowjetische Gegenoffensive am 5. Dezember 1941, das Scheitern des Blitzkrieges gegen die Sowjetunion und die Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die USA vom 11. Dezember 1941 fordert ein am 26. Februar 1942 geschriebenes Abiturthema die Zustimmung zu dem Postulat: „Wir müssen siegen und wir werden siegen“. Eine zweite Gruppe von Themenstellungen intendiert Moralerziehung im Sinne des Regimes – Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ und militärische Ertüchtigung. Beispiele für Themen dieser Art sind: „‚Das Opfer verlangte eine erhöhte Kraft, aber was ist die Kraft, die zum Opfer gehörte, gegen die Kraft, die von ihm ausgeht!‘ (Werner Beumelburg)“ (24.01.1935), „‚Aufrichtige und völlige Hingabe ist eine Tugend vor allen Tugenden. Kein Werk von Belang kann ohne sie zustande kommen.‘ (Nachgewiesen an einer großen Persönlichkeit)“ (31.01.1938), „Was muss ich meiden, um hart zu werden?“ (23.01.1939) oder – in der militärischen Krise im Winter 1941/42 – „Immer und notwendig siegt die Begeisterung über den, der nicht begeistert ist“ (26.02.1943). Besonders bei diesen Themen wird die Affinität zwischen den Werten des konservativ-nationalen Bürgertums zu denen nationalsozialistischer Erziehung deutlich: Nahtlos vollzieht ein Schüler den Brückenschlag zwischen Altmeister Goethe und der NS-Ideologie vom Kampf: „Goethe äußerte den Wunsch, daß sein Grabstein mit folgenden Worten beschriftet würde: ‚Machet nicht viel Federlesen. Schreibt auf meinen Grabstein: Dieser ist ein Mensch gewesen, und das heißt: ein Kämpfer sein‘ [.]‚Unser Gebet ist der Kampf‘ heißt das Leitwort der heutigen Jugend. Kampf um das tägliche Brot! Kampf um Stellung und Unterkommen! Kampf allen volksfremden Elementen, dem Lug und Trug der Welt! Wir Jungen sind bereit!“ (S. 53) Während nahezu alle Themen so gestellt sind, dass sie mit affirmativ-schwärmerischem Geraune im „Jargon der Eigentlichkeit“ (Theodor W. Adorno), welches die Schüler von ihren Lehrern gelernt hatten, beantwortet werden können, erfordert ein einziges Thema konkrete historisch-politische Kenntnis, auch wenn es Beifallsbekundungen zur Außenpolitik Hitlers verlangt: „Adolf Hitler erkennt die deutsch-französische Grenze an. Würdige diese weltgeschichtliche Entscheidung!“ (23.01.1939). Dieses Thema hätte zumindest eine politische Analyse der deutschen Interessen, die hinter der deutsch-französischen Nichtangriffserklärung vom 6. Dezember 1938 standen, erfordert. Eine solche Analyse haben die Schüler jedoch nicht gelernt; der Schüler, dessen Aufsatz dokumentiert ist, kann sich keinen Reim auf die außenpolitische Strategie machen und laviert zwischen der Bewertung des Abkommens als Schritt zu deutsch-französischer Verständigung und Politik im Sinne der „Volksgemeinschaft“ und rettet sich in den Glauben an den allwissenden „Führer“.

Neben den Aufsätzen der Schüler sind die Kommentare der Lehrkräfte eine aussagekräftige Quelle für die Geschichte von Bildung und Erziehung während des Nationalsozialismus. Die Lehrkräfte legen einen gewissen Wert auf sprachlichen Ausdruck, äußere Form, formal stringente Gliederung und Gedankenführung sowie auf Belege und Beispiele für Behauptungen. So lautet der Kommentar zu dem auszugsweise zitierten Aufsatz über die deutsch-französische Nichtangriffsvereinbarung: „Schon die wenig straffe Gliederung und die breite Einleitung zeigen, daß der Aufsatz nicht scharf genug durchdacht worden ist. Schwach ist der geschichtliche Teil. Das Wesentliche ist beachtet. Ausdruck und äußere Form sind sorgfältig.“ (S. 80) In keinem Kommentar erfolgt eine präzise inhaltliche Rückmeldung; die Lehrkräfte beschränken sich auf Allgemeinplätze wie „Zum Letzten dringt Vf. nicht vor“ (S. 93), „Verf. bemüht sich mit Erfolg um Vertiefung. Wenn auch die Ausführungen etwas zu abstrakt bleiben, so verdient die Leistung doch auch um ihrer sprachlichen Form willen die N:G [Note: Gut].“ (S. 100), „[...] Es ist die Arbeit eines unproblematischen, nüchternen, klaren, praktischen Kopfes. Man wünscht ihm mehr Tiefe.“ (S. 40) Insgesamt verweisen die Lehrerkommentare auf das Dilemma deutscher Studienräte, in einem System zu unterrichten, dem statt intellektuellem Niveau die Vermittlung der Ideologie und die Manipulation der Jugend zentrale Anliegen waren. Die Lehrkräfte zogen sich auf inhaltsleere formale Anforderungen und auf Floskeln aus dem „Jargon der Eigentlichkeit“ zurück.1

Wie aus den angeführten Beispielen deutlich wird, bieten die Aufsätze und Lehrerkommentare Material für eine gründliche Analyse der Frage, wie es gelang, das konservativ-bürgerliche Milieu für die geistfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus und seine verbrecherische Politik zu gewinnen. Hilfreich bei der Deutung sind Bernard Sauers Hinweise auf den zeitgeschichtlichen Kontext sowie die ideologischen Quellen der Schüleraufsätze. Erhellend sind auch die Bezüge, die Sauer in seinen Kommentaren zur historischen Forschung herstellt. Wünschenswert wäre zuweilen eine noch genauere Einordung der Aufsätze in ihren Entstehungskontext, denn in einigen Fällen ist die Themenstellung stark von den Zeitläuften abhängig; auch hätte die Bedeutung Werner Beumelburgs, dessen Zitat im Jahre 1935 zum Abituraufsatzthema wurde, erläutert werden können. Des Weiteren hätte ein Bezug zu Ergebnissen der Forschung zu Erziehung, Bildung und Schule während des Nationalsozialismus2 geholfen, die Reichweite der abgedruckten Abituraufsätze als historische Quellen einordnen zu können. Dennoch ist das Buch ein wertvoller Beitrag zur Bildungsgeschichte des Nationalsozialismus und eine Fundgrube für den Geschichts- und Deutschunterricht.

Anmerkungen:
1 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie [1964], online verfügbar unter: <http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Jargon_der_Eigentlichkeit.pdf> (21.04.2014).
2 Vgl. z.B. Hans-Jochen Gamm, Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus, München 1990; Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, 2 Bde., Darmstadt 2005; Karl-Christoph Lingelbach, Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland, Ursprünge und Wandlungen der 1933–1945 in Deutschland vorherrschenden erziehungstheoretischen Strömungen. Ihre politischen Funktionen und ihr Verhältnis zur außerschulischen Erziehungspraxis des „Dritten Reiches“, Frankfurt am Main 1987; Benjamin Ortmeyer, Schulzeit unterm Hitlerbild, Analysen, Berichte, Dokumente, Frankfurt 1996; sowie Barbara Taylor-Schneider, Die Höhere Schule im Nationalsozialismus. Zur Ideologisierung von Bildung und Erziehung, Köln, Weimar, Wien 2000.

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