Cover
Titel
The Perils of Peace. The Public Health Crisis in Occupied Germany


Autor(en)
Reinisch, Jessica
Herausgeber
Reinisch, Jessica
Erschienen
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
£ 65,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Werner Bührer, Fachgebiet Politikwissenschaft, Technische Universität München

Jessica Reinisch, Senior Lecturer am Birkbeck College der Universität London, will mit ihrer Arbeit zeigen, wie die Zustände in den Besatzungszonen die jeweilige Besatzungsmacht zwangen, ihre Pläne zu modifizieren und die Politik den Notwendigkeiten anzupassen. Sie konzentriert sich dabei auf den Bereich des Gesundheitswesens, das in den jeweiligen Planungen keine wichtige Rolle gespielt hatte, nach Kriegsende jedoch zu einem zentralen Anliegen der Besatzer wurde: Die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Wiederaufbau und nicht zuletzt der Erfolg der Demokratisierungsbemühungen hingen zu einem beträchtlichen Teil davon ab. Die Arbeit besticht vor allem dadurch, dass sie die Planungen und die politische Praxis in allen vier Zonen vergleicht und neben den zu erwartenden Unterschieden auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zu Tage fördert – und dass sie den Gegenstand in einen größeren Kontext einordnet: „from the beginning, public health was much more than a medical problem […] the public health problem was, throughout the post-war era and in all occupation zones, closely linked to much broader questions regarding how the defeated population should be treated, how Nazism could be eradicated, and who should, and could, be sought out as collaborators, helpers, and allies“ (S. 2).

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten untersucht Reinisch die gesundheitspolitischen Überlegungen und Planungen während des Krieges, die Rolle deutscher Emigranten und, nach der Besetzung Deutschlands, der Remigranten sowie, am Beispiel Berlin, die Rückbesinnung auf deutsche Traditionen in der Medizin und im Gesundheitswesen. Grundsätzlich sollten die entsprechenden Aktivitäten deutschen Einrichtungen obliegen, allerdings unter der Kontrolle der Besatzungsbehörden. Eine Liste von „Do’s and Don’t’s“ sollte amerikanischen und britischen Besatzern den Umgang mit den Deutschen erleichtern. Dort war beipielsweise zu lesen: „Do play your part as a representative of a conquering power and keep the Germans in their place“, oder: „Don’t try to be kind or conciliatory; it will be regarded as weakness“ (S. 24). Während Amerikaner und Briten über vergleichsweise differenzierte Pläne verfügten, hinkten die französischen und sowjetischen Überlegungen deutlich hinterher. Insofern lag es nahe, dass Franzosen und Russen, wie die Autorin zeigen kann, die angloamerikanischen Pläne teilweise übernahmen. Die Orientierung an den militärischen Notwendigkeiten, welche die gesundheitspolitischen Überlegungen der Planungsphase kennzeichneten, geriet allerdings bald in Widerspruch zu den praktischen Erfordernissen vor Ort.

Mit diesen Problemen setzt sich Reinisch im zweiten, den Jahren 1945 bis 1949 gewidmeten Teil in ausgewogener Intensität auseinander. Sie rekapituliert die gesundheitspolitischen Geschehnisse in den vier Zonen jeweils unter den Aspekten „Pläne“, „Kompromisse“ und „Konflikte“. Der Schwerpunkt liegt allerdings eindeutig auf den Jahren 1945 und 1946. Auch in dieser Phase setzten die Briten und vor allem die Amerikaner, deren Popularität am größten war, auch weil sie über die größten Ressourcen verfügten, die Standards. Insofern gestalteten sich die Beziehungen der Deutschen zu den Amerikanern am unkompliziertesten. Bemerkenswert erscheint, dass einzelne britische Offiziere die Deutschen ausgesprochen positiv beurteilten: „By contrast to D(isplaced) P(erson)s and drunken soldiers running wild, German civilians often made pleasant first impressions on the occupation staff“, so Reinisch (S. 162). Angesichts (nicht nur) deutscher Klagen über Unterernährung, drohende Epidemien und die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten – die teilweise wohl deutlich übertrieben waren –, rückten die Verantwortlichen in allen Zonen von manchen ursprünglichen Zielen ab. Davon profitierten insbesondere jene Deutschen, die aufgrund ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit eigentlich aus ihren Ämtern hätten entfernt werden müssen. Den neuen „Pragmatismus“ umschrieb ein beteiligter amerikanischer Offizier rückblickend folgendermaßen: „pragmatism means getting the job done even though that may require the sacrifice of ethics, honor, and integrity“ (S. 209).

Insofern ist dies nicht nur ein sehr gut recherchiertes und auf breiter Quellenbasis – Reinisch hat die einschlägigen Archive in der Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien und den USA konsultiert – gründendes Buch über die Entwicklung der Gesundheitspolitik und des Gesundheitswesens im besetzten Deutschland, sondern vor allem eine Studie über den Umgang mit den ehemaligen Nazis und die Schwierigkeiten, moralische Standards und praktisch-politische Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Wie in der Wirtschaft gelang es den Deutschen, die Besatzungsbehörden unter Hinweis auf die Gefährdung des Wiederaufbaus zu einer konstruktiveren Politik zu bewegen. „Once occupation began“, so die Autorin in ihrer Zusammenfassung, „the occupiers’ moral certainty – still so clear in the planning period of occupation – began to crumble under the growing weight of […] colliding priorities“ (S. 291). Das Gesundheitswesen rückte so ins Zentrum der Besatzungspolitik aller vier Siegermächte. Gesundheitspolitische Argumente gewannen auch deshalb ein solches Gewicht, weil eventuelle Epidemien nicht nur die deutsche Bevölkerung bedrohten, sondern auch die Besatzer selbst – und, auf längere Sicht, die Entwicklung demokratischer Strukturen und Einstellungen im besetzten Deutschland. Welche Bedeutung letzteres Ziel gerade auf amerikanischer und britischer Seite genoss, kann man in diesem beeindruckenden und für das Verständnis der Besatzungszeit eminent wichtigen Buch nachlesen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/