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Titel
Die Sicherheit des Westens. Entstehung und Funktion der G7-Gipfel (1975–1981)


Autor(en)
Böhm, Enrico
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 34
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Hiepel, Fakultät für Geisteswissenschaften, Universität Duisburg-Essen

Die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind seit geraumer Zeit in den Mittelpunkt des zeithistorischen Interesses gerückt und werden je nach Perspektive als "Ende des Booms"1 perzipiert oder als "Beginn unserer Moderne"2. Auf jeden Fall können sie als eine Scharnierphase gelten, in der alte Ordnungen in Auflösung begriffen sind und unsere Gegenwart Konturen annimmt. In diesem Kontext ist die in Marburg entstandene Dissertation von Enrico Böhm als Beitrag zur Vermessung der 1970er-Jahre zu verstehen. Sie nimmt die Entstehung der G7-Gipfel in den Blick, die gerade in dieser als Krisenphase wahrgenommenen Umbruchssituation implementiert worden sind. Sie sind Ausdruck einer Veränderung der Struktur des internationalen Systems, die auf gesellschaftliche und ökonomische Transformationsprozesse zurückzuführen sind. Interdependenz wurde zum Schlagwort der politischen Debatten, alles hing mit allem zusammen: Wirtschafts- mit Sicherheitspolitik, Innen- mit Außenpolitik. Die zunehmende Komplexität führte zu größerer Unübersichtlichkeit. Die Nationalstaaten sahen sich angesichts der internationalen Währungs- und Wirtschaftskrise und der Auswirkungen der Ölpreiskrise auf die westlichen Industriestaaten in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt.

Die G7-Gipfel bezeichnet Böhm daher treffenderweise als "ein Kind der Krise" (S. 71). Um dies zu verdeutlichen bettet er seine Untersuchung zunächst in die Darstellung der Genese und Geschichte des 1944 in Bretton Woods konzipierten Weltwirtschaftssystems ein, dessen Zusammenbruch in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre zusammen mit der Ölpreiskrise als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung gelten kann. Die ökonomische Krise und ihre befürchteten Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik waren das Hauptmotiv für die maßgeblich von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing lancierte Idee eines informellen Treffens der Staats- und Regierungschefs der wichtigsten westlichen Industrienationen, das 1975 erstmals in Rambouillet stattfand und in den folgenden Jahren institutionalisiert wurde. Die Untersuchung spannt den zeitlichen Bogen über die ersten sieben Gipfeltreffen, die alternierend in jedem der beteiligten Länder stattfanden, bis zum Jahr 1981, in dem neue personelle Konstellationen mit entsprechend veränderten politischen Agenden einhergingen.

Den Kern der Untersuchung bilden weniger die inhaltlichen Erörterungen und Ergebnisse der Gipfeltreffen, wenngleich auch diese thematisiert werden, sondern das Prozedere und die Mechanismen der Gipfeldiplomatie. Sie ist damit im Feld neuerer historischer Forschungen zur Bedeutung von Repräsentation und Symbolik in der (Außen-)Politik zu verorten. Böhm stellt zwar mit den Staats- und Regierungschefs die staatlichen Akteure in den Mittelpunkt, sein Ansatz geht aber über eine klassische Diplomatiegeschichte hinaus, indem er die Gipfel nicht durch eine "spezifisch nationale sondern durch die gruppenbezogene Brille" (S. 328) betrachtet. Der mit diesem Anspruch verbundene multiarchivische Zugriff stößt freilich an seine Grenzen. Eine auch nur annähernd gleichgewichtige Berücksichtigung aller Akteure ist nicht zu realisieren. Die japanische Perspektive beispielsweise kann nur am Rande und – um die Formulierung Böhms aufzugreifen – durch die Brille der Anderen eingenommen werden. Angesichts der (nicht ganz nachvollziehbaren) Schwierigkeiten bei der Recherche in französischen Archiven bleibt so eine Perspektive, die stark von der deutschen, amerikanischen und britischen Wahrnehmung geprägt ist. Insbesondere Helmut Schmidt, dessen Rolle bei der Entstehung der Gipfel allerdings bereits gut erforscht ist3, nimmt einen breiten Raum ein.

Dennoch gelingen Böhm bei der Erschließung des Materials interessante Einblicke in das Innenleben der Gipfeldiplomatie, die durch den spezifischen Blick des Autors ihren innovativen Charakter erhalten. Dass die persönlichen Beziehungen im positiven wie negativen Sinne eine zentrale Rolle spielten, dürfte kaum überraschen. Interessanter ist der Formenwandel in der Außenpolitik. Multilaterale "Kamingespräche" im kleinen Kreis wurden ein zentrales Element der Außenpolitik. Die inhaltliche Arbeit fand in den sogenannten "Seminaren" statt, die wiederum von den Hauptakteuren nahestehenden Experten vorbereitet wurden, für die sich zu dieser Zeit der auch heute noch gebräuchliche Begriff der "Sherpa" (S. 169) eingebürgert hat. Die klassischen diplomatischen Kanäle der Auswärtigen Ämter wurden marginalisiert. Außenpolitik wurde seither zunehmend zu einer Aufgabe der Staats- und Regierungschefs. Verhandelt wurden globale Interdependenzthemen wie Wirtschafts- und Währungsfragen, Energie, Handel, später auch Umweltfragen und die Nord-Süd-Thematik. Die Abstimmung der wichtigsten Industrienationen war ein zentrales Moment der Gipfel. Der sowieso schwer messbare Erfolg hing dabei nicht unwesentlich von den jeweiligen personellen Konstellationen ab.

Böhm zufolge spielte nicht die Lösung von Sachproblemen die entscheidende Rolle, sondern vielmehr der symbolische Gehalt der Gipfeltreffen. Die G7-Gipfel versteht er primär als Legitimierungsinstrument der Staaten. Dabei identifiziert er drei Elemente, die den legitimatorischen Charakter der Zusammenkünfte verdeutlichen, und die er mit den Begriffen Inszenierung, Versicherheitlichung und Selbstvergewisserung umreißt. So inszenierten sich die Staats- und Regierungschefs mit Blick auf die Öffentlichkeit als political leaders mit Weitblick und Problemlösungskompetenz. Die Gipfel sind so als Versuch zu sehen, Vertrauen und Zuversicht zu generieren. Zum zweiten avancierte Wirtschaft zum Thema der high politics, wodurch sich die Schwerpunktsetzung in der Außenpolitik verschob und die sicherheitspolitischen Implikationen betont wurden. Wirtschaftspolitik ist Sicherheitspolitik und damit Aufgabe der Regierenden, so das Credo der Akteure. Böhm charakterisiert dies als Strategie der Versicherheitlichung von Ökonomie. Selbstvergewisserung gilt ihm als drittes Element der Legitimierung, wobei der positive Nebeneffekt sein konnte, dass man sich internationale Rückendeckung für innenpolitisch unpopuläre Maßnahmen holte (S. 320). Den legitimatorischen Charakter der Wirtschaftsgipfel haben Helmut Schmidt und die anderen Akteure allerdings so nicht wahrgenommen. Ihnen ging es nach eigener Aussage ganz pragmatisch um die Suche nach Problemlösungen (S. 271). Hier würde ein Blick auf die Rezeption der Gipfeltreffen Aufschluss geben über die Wahrnehmung als vertrauensbildende Maßnahme, die Zuversicht erzeugen sollte.

Böhms Ansatz kann im Großen und Ganzen überzeugen. Seine Untersuchung erweitert unsere Kenntnisse zur Geschichte der G7-Gipfel und zeigt neue Perspektiven für die Erforschung internationaler Institutionen auf. Er analysiert die Anfänge einer Entwicklung, die für uns heute fester Bestandteil internationaler Politik geworden ist. Das Interdependenzmotiv wird allerdings im Hinblick auf seinen innovatorischen Charakter etwas überstrapaziert. Tatsächlich handelte es sich nicht um eine derart neue Dimension von Außenpolitik. Dass stabile ökonomische Verhältnisse Grundlage für eine stabile internationale Ordnung darstellen, war schon den Initiatoren des Marshallplans bewusst, ebenso wie dies eine der Antriebskräfte der europäischen Einigung dargestellt hat. Insofern sind die 1970er-Jahre nicht unbedingt das Jahrzehnt, das den Aufstieg der Ökonomie in den Bereich des Politischen markiert. Neu allerdings ist die Schaffung von Wirtschaftsgipfeln als Mechanismus von Außenpolitik.

Anmerkung:
1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael (Hrsg.), Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ²2010.
2 Philipp Chassaigne, Les années 1970. Fin d’un monde et origine de notre modernité, Paris 2008.
3 Johannes von Karczewski, "Weltwirtschaft ist unser Schicksal". Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel, Bonn 2008.

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