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Titel
Migration, Geschlecht und Fußball zwischen Bolivien und Spanien. Netzwerke – Räume – Körper


Autor(en)
Müller, Juliane
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Friederike Faust

Frauenfußball ist trotz zunehmender Beliebtheit in vielen europäischen Ländern noch immer ein von der Öffentlichkeit kritisch beäugtes und von der Wissenschaft oft vernachlässigtes Phänomen. Umso überraschter war Juliane Müller, als sie bei ethnographischen Stippvisiten im spanischen Sevilla die Selbstverständlichkeit entdeckte, mit der südamerikanische Migrantinnen diesen Sport ausübten. Die erste Vermutung, dahinter verberge sich ein die weibliche Sportpraxis legitimierender kultureller Kontext, sollte sich als richtig herausstellen. Aber der Reihe nach.

In ihrer 2013 unter dem Titel „Migration, Geschlecht und Fußball zwischen Spanien und Bolivien“ erschienenen Dissertation nähert sich Müller dem Phänomen aktueller Arbeitsmigration aus Südamerika nach Spanien, indem sie die selbstorganisierten Fußball-Ligen andin-südamerikanischer Migrant/innen in einem pluriethnischen Stadtviertel Sevillas fokussiert. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Verständnis von „Fußball als Ritual, Fest und Körperpraktik“ (S. 13). Sie liest Fußball als Metakommentar des migrantischen Lebens, wobei jedes Kapitel einer bestimmten Dimension des komplexen Phänomens gewidmet ist und für sich gelesen werden kann. Theoretische Überlegungen und methodische Bausteine flicht Müller nach und nach in die einzelnen Analysekapitel ein. Müllers theoretisches Grundgerüst bildet ein Konglomerat aus praxistheoretischen, sozialphänomenologischen und strukturalistisch-semiotischen Konzepten und gründet in ihrer Auffassung, dass „wissenschaftliche Ansichten über Kultur und Gesellschaft nichts anderes als ,künstliche’ (Re-)Konstruktionen der Wirklichkeit sein können [...]“ (18). Mittels ethnographischer Methoden will sie die kollektiven Dimensionen der erfahrbaren Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen rekonstruieren.

Herausstechend ist der methodische Zugang, der auch gleichzeitig das zentrale theoretische Anliegen der Studie darstellt. Inspiriert durch Loic Wacquants Radikalisierung des Bourdieuschen Habitus-Konzeptes zur Methodologie einer Carnal Sociology folgte Müller den Subjekten ihrer Untersuchung auf das Fußballfeld. Ihr Ziel ist, die Generierung des feldspezifischen Habitus am eigenen Leib nachzuvollziehen und der phänomenologischen Dimension der translokal verflochtenen Fußballpraxis gerecht zu werden. Damit strebt Müller die „Annäherung an Leibeserfahrungen bolivianischer Frauen über interpersonelle Interaktionen auf dem Sportfeld und intersubjektive Lernprozesse sowie beobachtbares Verhalten und Körpertechniken“ (S. 162) an. Müller leistet damit nicht nur methodische Pionierarbeit im Bereich der Sportethnologie, sondern setzt mit diesem Vorgehen auch einen methodologischen und epistemologischen Ansatz um, wie er aktuell unter anderem in der Soziologie des Körpers von Robert Gugutzer diskutiert wird, und generiert für die Debatte wertvolle, differenzierende Erkenntnisse. Werden viele Elemente der Fußballpraxis, wie Jubelgesten oder Grußformen, tatsächlich entsprechend einem Praxissinn auf mimetisch-vorreflexive Weise von den Akteurinnen und der Forscherin angeeignet und unbemerkt in den Habitus inkorporiert, so erfordert das Erlernen motorisch-technischer Kompetenzen reflexiv-analytische Prozesse. Laufwege, Dribbeltechniken und Körpertäuschungen müssen erklärt und durch ständiges Üben in die „Körpererinnerung“ (S. 170) eingeschrieben werden. Die Verstetigung der Sportpraxis zu einem Habitus läuft demnach auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen ab – umso paradoxer, wie uns Müller aufmerksam macht, dass gerade der Sport unter anderem von Bourdieu als Metapher für den vorreflexiven Praxissinn in Sozialisationsprozessen herangezogen wird.

Im ersten Kapitel führt Müller in die gesellschaftlichen, globalpolitischen und historischen Zusammenhänge von Migrationsdynamiken zwischen Spanien und Lateinamerika ein. Sodann nimmt sie uns mit auf einen abgeschiedenen Fußballplatz im Industriegebiet Sevillas. Hier tragen die Frauen- und Männerteams der örtlichen selbstorganisierten Migrant/innen-Ligen ihren Spielbetrieb aus, hier finden die wöchentlichen Ligaversammlungen statt und hier trainierte die Ethnologin über viele Monate hinweg mit ihren Teams. So verwandeln die Migrant/innen diesen „Nicht-Ort“ (S. 67, nach Augé1) in einen sozialen und symbolischen Raum und „reorganisieren den Stadtraum durch ihre Praktiken“ (S. 65).

Neben diesem Exkurs zur Aneignung des Stadtraums widmet Müller das zweite Kapitel den Netzwerken rund um Fußballpraxis und Migrationsprozesse. Migrationsprozesse sind dabei als sozial komplex verflochtene Praktiken von Akteuren zu verstehen, die auf bereits existierenden Beziehungen zwischen Regionen aufbauen. Der Fußballpraxis kommt bei Netzwerkbildung und -aufrechterhaltung eine zentrale Bedeutung zu, indem sie Ankunftsnetzwerke formt, die als soziales Kapital auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt fungieren.

Weitsichtig spannt Müller den translokalen Bogen zwischen interethnischen Spannungen innerhalb Boliviens, national- und globalpolitischen Rahmenbedingungen und den lokalen Fußballteams. Dadurch ist sie in der Lage, den dynamischen und fluiden Charakter migrantischer Netzwerke zu fassen und auch Konjunkturen der Marginalisierung und Diskriminierung zu erkennen.

Im dritten Kapitel widmet sich Müller den Biographien ihrer bolivianischen Teamkolleginnen. Wir erfahren hier viel über Migrationsmotive und -wege, existenzsichernde Strategien im Herkunftsland und über die kulturelle Einbettung der Fußballpraxis. Besonders spannend wird es, wenn Müller erneut ihren Blickwinkel verengt und mit Victor Turner die irreguläre Migrationsreise als rituellen Prozess fasst. Die Liminalität der irregulären Einreise ist gekennzeichnet durch Todesmetaphorik und unsicheren Status. Ein Schwellenzustand, der auch mit dem Passieren der Grenze und der Aufnahme einer Arbeit nicht völlig endet und in dem Fußball eine prägende Rolle spielt. Er symbolisiert nicht nur die ungewohnte Ungebundenheit von Familienpflichten im Ankunftsland sondern bietet auch Gemeinschaftlichkeit in neuen Freundschaftsbünden. Der Fußball wird in Spanien zwar weiterhin nach habituellen Gewohnheiten ausgeübt, jedoch unterliegt er dabei steten Bedeutungsveränderungen.

Zu Beginn des vierten Kapitels diskutiert Müller ausführlich die Anwendbarkeit des Ritualbegriffs auf das Phänomen Sport, um schließlich unterschiedliche Rahmensetzungen des Migrantenfußballs als kulturelle Performanzen zu verstehen. Die performative Kraft der Ereignisse mitsamt der Aneignung und Umdeutung nationaler und weltfußballerischer Symbole richtet sich dabei nicht immer nur gemeinschaftsstärkend an die migrantische Community sondern oft auch mehr Inklusion fordernd an die Mitglieder der Ankunftsgesellschaft. Diese fehlinterpretieren die Bestrebungen jedoch als segregierend.

Geschlecht, dem Titel nach dritter Themenschwerpunkt, klingt immer wieder an, wird jedoch nur in der Abschlussbetrachtung des dritten Kapitels sowie in einem Unterabschnitt des fünften Kapitels explizit thematisiert. Hier spürt Müller, wie bereits angedeutet, einer möglichen kulturellen Legitimierung der weiblichen Fußballpraxis nach und verortet diese in zwei Besonderheiten bolivianisch-historischer Entwicklungen. Zwar ist auch die bolivianische Gesellschaft durch geschlechtliche Rollenteilungen strukturiert, jedoch konnte sich erstens der europäisch-bürgerliche Diskurs einer absoluten Geschlechterbinarität nicht über eine kleine Elite hinaus verbreiten. Zweitens zählt Fußball als Volkssport bäuerlich-indigener und (sub)proletarischer Schichten zum festen Bestandteil vieler Ereignisse. Mädchen und Frauen spielen auf diese Weise, wenn auch sporadischer als die Männer, immer wieder Partien aus. Ähnlich in Sevilla: Die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung hält nur wenige Freiräume für das Fußballspiel von Frauen bereit, delegitimiert sie aber nicht.

Diese Relativierung und Differenzierung möglicher Geschlechterverhältnisse ist erfrischend für jene sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen, die bislang den europäischen Fußball als ganz den Funktionslogiken einer absoluten Geschlechterdifferenz unterworfen konzipierten. Wünschenswert wären an dieser Stelle jedoch auch eine theoretische Untermauerung der Analysekategorie Geschlecht sowie Ausführungen zum doing gender inner-halb der migrantischen Fußballpraxis. Geschlecht scheint hier immer wieder als strukturierend vorausgesetzt, doch sind es auch einzelne Praktiken (wie die schlechtere Bezahlung von Schiedsrichtern bei Frauenpartien), die jene Geschlechterordnung mit hervorbringen.

Der Fokus auf die migrantische Fußballpraxis bietet eine innovative Perspektive auf das Phänomen internationaler Arbeitsmigration. Dabei widersteht Müller der Versuchung, den komplexen Gegenstand zu reduzieren. Gerade weil sie die unterschiedlichen Dimensionen der migrantischen Fußballpraxis so ausführlich und fundiert darstellt, immer wieder die translokalen und historischen Verflechtungen thematisiert und zwischen mikroskopischem Blick auf das Lokale und Makroperspektive hin- und herwechselt, vermisst man an einigen Stellen eine stärkere Führung durch die Untersuchungen. Auch anstelle einer kurzen Schlussbetrachtung wäre ein Resümee wünschenswert, das die einzelnen Analysen zueinander in Zusammenhang setzt und ausführlich diskutiert. Nichtsdestotrotz leistet Müller einen beeindruckend ausführlichen und kenntnisreichen Beitrag zur aktuellen ethnologischen Migrationsethnologie, der genauso gewinnbringend auch von sport- und geschlechtertheoretisch Interessierten gelesen werden kann. Es ist zu betonen, dass Müller hiermit die erste ethnographische Untersuchung zur weiblichen Fußballpraxis im Amateurbereich vorgelegt und damit eine hervorragende Grundlage für weitere Forschung geschaffen hat, die zugleich auch methodologische Pionierarbeit darbietet und wichtige Fragen an eine körperbasierte Epistemologie beantwortet.

Anmerkung:
1 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main 1994.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/