Die Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt"

: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg 2013 : Hamburger Edition, HIS Verlag, ISBN 978-3-86854-268-4 622 S. € 28,00

: Das Vernichtungslager Belzec. . Berlin 2013 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-079-0 392 S. € 24,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Sandkühler, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Seit den 1990er-Jahren befassen sich Historiker intensiv mit der Ermordung von Juden in den Vernichtungslagern des Generalgouvernements, die seit Frühsommer 1942 unter der Tarnbezeichnung „Aktion Reinhardt“ lief. Über 1,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden in den Lagern Bełżec, Sobibór und Treblinka mit giftigen Motorabgasen erstickt und in Massengräbern verscharrt. Diese Mordaktion erfasste zunächst polnische Juden, die mit Eisenbahntransporten in den Tod verschleppt wurden. Zunehmend hatte die „Aktion Reinhardt“ aber eine gesamteuropäische Dimension. Exzessive Gewaltausübung und Entbürokratisierung, Handlungsspielräume der Beteiligten, eifrige Zusammenarbeit von Tätern konkurrierender Institutionen und Improvisation im Interesse des Vernichtungsziels bestimmten in den Jahren 1942/43 den Judenmord, der mit der deutschen Besatzungspolitik in Zentralpolen eng verbunden war. Obwohl die „Aktion Reinhardt“ mehr Opfer forderte als das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, spielt sie im öffentlichen Bewusstsein bis heute eine untergeordnete Rolle.

Bełżec im Distrikt Lublin gehörte lange zu den am wenigsten erforschten Todeslagern der „Aktion Reinhardt“. Denn so gut wie niemand überlebte dieses Lager; auch wurden belastende Akten vor Kriegsende vernichtet. Einige Kenntnislücken konnten inzwischen geschlossen werden, etwa durch die Ergebnisse archäologischer Grabungen auf dem Gelände und die Auswertung von Luftaufnahmen, durch die Veröffentlichung einer von britischen Abhörspezialisten abgefangenen Todesstatistik oder durch Befragungen ortsansässiger Polen.1 Der viel zu früh gestorbene polnische Historiker Robert Kuwałek, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Lublin-Majdanek und bis 2009 Leiter der Gedenkstätte Bełżec, war einer der besten Kenner jüdischer Geschichte im Südosten Polens und hat im vorliegenden Buch seine Forschungsergebnisse zum Lager in deutscher Sprache vorgelegt.

Der Verfasser zeichnet zunächst die Lage der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement an der Jahreswende 1941/42 nach (Kapitel I, S. 21 ff.). In der westukrainischen Region um Lemberg wurden seit Oktober 1941 zehntausende Männer, Frauen und Kinder erschossen. Der SS-Chef Heinrich Himmler befahl, höchstwahrscheinlich im August 1941, sich nach anderen Tötungsmethoden umzusehen, da er um das seelische Wohl seiner Männer besorgt war. Die Entscheidung zum Bau des ersten Mordlagers im Generalgouvernement fiel höchstwahrscheinlich auf Initiative des österreichischen Rassefanatikers Odilo Globocnik, der als SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin und Duzfreund Heinrich Himmlers enge Beziehungen zur NS-Führung unterhielt. In Bełżec, zuvor an der Grenze zum sowjetisch besetzten Teil Polens gelegen, hatte Globocnik 1940 ein Zwangsarbeitslager für Juden unterhalten, das u. a. aus Norddeutschland deportierte Sinti aufgebaut hatten. Im November 1941 begannen polnische Arbeiter aus der Umgebung mit der Errichtung des Vernichtungslagers (S. 59 ff.).

Der enge Zusammenhang zwischen dem von der „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4 (T 4) durchgeführten Krankenmord und der Ermordung der Juden im Generalgouvernement wird u.a. darin sichtbar, dass der entscheidende Mann in Hitlers Kanzlei, Viktor Brack, und sein formeller Vorgesetzter Philipp Bouhler im September 1941 zu Globocnik reisten. Verschiedene Indizien deuten darauf hin, dass man ursprünglich eine „Euthanasie“-Anstalt in Zentralpolen hatte erbauen wollen, also fern der deutschen Öffentlichkeit (S. 45, 180). Kuwałek geht andererseits mit Bogdan Musial davon aus, dass bereits im Spätsommer 1941 ein umfassendes Programm zur Tötung der allermeisten europäischen Juden bestanden habe (S. 46, 50), ohne dies mit dem provisorischen Zuschnitt des Vernichtungslagers Bełżec und seiner zunächst begrenzten Mordkapazität in Einklang bringen zu können (S. 68).

Kurz vor Weihnachten 1941 traf der führende T 4-Funktionär Christian Wirth als designierter Lagerkommandant in Bełżec ein. Wirth entließ die polnischen Arbeitskräfte, die das Gelände zur Aufnahme von Bahntransporten vorbereitet und die Mordeinrichtungen aufgebaut hatten. Sie wurden durch jüdische Zwangsarbeiter aus der Umgebung ersetzt. Diese Zwangsarbeiter waren die ersten Opfer des Lagers. Sie wurden im Februar 1942 bei einer „Probevergasung“ ermordet, um Mitwisser zu beseitigen (S. 68). Ab Mitte März kamen Transporte aus Lviv (Lemberg, Ostgalizien) und Lublin in Bełżec an, gefolgt von solchen aus den Landkreisen der gleichnamigen Distrikte des Generalgouvernements, später auch aus dem Distrikt Krakau (S. 129 ff., sowie die Chronologie der Transporte im Anhang, S. 336 ff.). Als die Deportationen aus bahntechnischen Gründen unterbrochen werden mussten, wurde Bełżec bis Anfang Juli 1942 erweitert und seine Tötungskapazität erheblich vergrößert. Kuwałek führt dies vor allem auf den Befehl Himmlers zurück, die „Endlösung“ zu beschleunigen (S. 69 f., 153 f.). Die Deportationen aus den Distrikten Lublin, Galizien und Krakau erreichten im August 1942 ihren Höhepunkt. Allein in diesem Monat wurde rund ein Drittel aller in Bełżec ermordeten Juden im Giftgas erstickt (S. 244). Kuwałek schildert die grauenhaften Vorgänge des zweiten Halbjahres 1942 anhand von jüdischen Einzelschicksalen aus den unzähligen Städten und Orten, die von SS- und Polizeikommandos heimgesucht wurden. Er rekonstruiert darüber hinaus detailliert den Ablauf des Massenmordes nach der Ankunft der oftmals völlig überladenen Güterwagen und die von den Tätern euphemistisch als „Verwertung“ bezeichnete Beraubung der Opfer.

Angesichts des Umfangs der Vernichtungsaktion vor allem seit Sommer 1942 konnte von der Geheimhaltung des Lagers keine Rede sein (S. 255 ff.). Nachrichten über Bełżec erreichten die polnische Exilregierung, die sie Anfang 1943 veröffentlichte, und sprachen sich, überwiegend durch polnische Bahnarbeiter, auch in den Ghettos herum. Die Juden wussten, was sie am Ende ihrer Reise erwarten würde, und versuchten, sich den Deportationen zu entziehen. SS und Polizei gingen folglich mit brutaler Gewalt vor. In Bełżec selbst gehörten Schläge und Erschießungen bald zum täglichen Ablauf des Massenmordes. Auch unter den Deutschen im Generalgouvernement war die Existenz des Vernichtungslagers ein offenes Geheimnis, zumal eine erstaunlich große Zahl von Funktionären Bełżec aus Neugier oder aus ‚dienstlichen‘ Gründen besichtigte, vom SS- und Polizeiführer Galiziens bis hinab zum Landkommissar (S. 301–305).

Ende des Jahres stellte Globocnik die Transporte in das Lager ein, das sich als zu klein erwiesen hatte, um noch mehr Massengräber anzulegen (S. 178, 235 f.). Die Täter wendeten einige Mühe auf, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen (S. 229 ff.). Die Leichen der Getöteten wurden monatelang auf riesigen Scheiterhaufen verbrannt, was die Absicht der Geheimhaltung von vornherein durchkreuzte. Bis Juni 1943 wurde das Gelände vollständig planiert und mit Nadelbäumen bepflanzt. Aufgrund dieser Zerstörungsmaßnahmen haben auch polnische Archäologen den Standort der vergrößerten Gaskammern nicht bestimmen können (S. 72). Der Verfasser bestätigt im Großen und Ganzen die im vorn erwähnten Funkspruch an das Reichssicherheitshauptamt genannte Zahl der Todesopfer, beziffert sie aber mit rund 450.000 Ermordeten etwas höher (S. 244).

Ein wesentlicher Akzent des Buches liegt auf der „Lager-SS“ unter den Kommandanten Christian Wirth und, seit Sommer 1942, Gottlob Hering, auf den sogenannten Trawniki-Männern, einer Polizeieinheit Globocniks aus ehemals sowjetischen Kriegsgefangenen (Kapitel IV & V), und auf den im Lager zu Zwangsarbeiten herangezogenen jüdischen Häftlingen (Kapitel IX). Die im Vernichtungsbereich (Lager II) eingesetzten Männer wurden in kurzen Abständen umgebracht und durch Juden ersetzt, die man aus den laufenden Transporten aussonderte. Die Häftlinge mussten die Ermordeten aus den Gaskammern ziehen, Goldzähne aus ihren Mündern brechen und die Leichen in Massengräbern beerdigen. Dagegen blieben Männer und Frauen, die zur wirtschaftlichen Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs und zur „Verwertung“ der Beute herangezogen wurden, und die sogenannten Kapos des Lagers II länger am Leben. Die Grenzen zwischen eifriger Pflichterfüllung und Widerstand waren fließend, wenngleich Quellen über Aufstands- und Fluchtversuche von Häftlingen nur spärlich überliefert sind. Die letzten zwei Kapitel von Kuwałeks Buch sind der Nachgeschichte des Lagers gewidmet (Kapitel XV–XVI, S. 307 ff.). Insgesamt liegt mit Robert Kuwałeks Buch die erste Gesamtdarstellung des Vernichtungslagers Bełżec vor. Sie überzeugt über weite Strecken. Kuwałek fördert zahlreiche bislang unbekannte Details zutage, informiert prägnant über die Geschichte des Lagers und bezieht die wechselvolle Erinnerung an die dort verübten Verbrechen in seine Darstellung ein. Eine gewisse Schwäche dieses nicht zuletzt für Besucher der Gedenkstätte bestimmten Buches liegt darin, dass der Verfasser die intensive Forschungsdiskussion über die Entschlussbildung zur „Endlösung“ nur teilweise zur Kenntnis nimmt und seine Befunde kaum in den Gesamtzusammenhang des Völkermords einbindet.

Schon früh erkannten die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden, dass zwischen der Aktion „Euthanasie“ und der Ermordung der Juden in den Lagern der „Aktion Reinhardt“ ein enger personeller und organisatorischer Zusammenhang bestand. Die zeitgeschichtliche Forschung hat diesen Befund bestätigt und vertieft, indem sie die Kontinuität des Tötens und die Erfahrung der Täter seit Beginn der Giftgasmorde herausgearbeitet hat.2

Im zweiten hier zu besprechenden Buch, Sara Bergers Studie über die Täter der „Aktion Reinhardt“ – die Druckfassung ihrer Bochumer Dissertation von 2011 –, geht die Verfasserin einen erheblichen Schritt weiter. In ihren Augen waren die T 4-Leute, die seit Herbst 1941 nach Polen versetzt wurden, „Experten der Vernichtung“, die den Völkermord an den Juden in den Lagern Bełżec, Sobibor und Treblinka „geplant und umgesetzt“ haben (S. 9). Berger geht der grausigen Tätigkeit des deutschen Lagerpersonals in einem immer komplexer werdenden Organisationszusammenhang nach, dessen Kern die Verfasserin als „T 4-Reinhardt-Netzwerk“ bezeichnet (S. 15 f.). Es umfasste auf dem Höhepunkt der Giftgasmorde in Zentralpolen 121 Personen, deren Kurzbiographien Berger im Anhang ihres Buches dokumentiert (S. 401 ff.).

Berger arbeitet erstmals und durchweg mit dem soziologischen Instrumentarium der Netzwerkanalyse. Es geht der Verfasserin mithin nicht nur um die Kollektivbiographie und das Handeln der rund 120 T 4-Männer an den Tatorten, sondern um die Beziehungen dieses inneren Netzwerk-Kerns mit seiner Umgebung. Zu letzterer zählt Berger von innen nach außen die Trawniki-Männer und die „Arbeitsjuden“ in den Vernichtungslagern, die regionalen Hierarchien der SS und der Zivilverwaltung sowie die lokale Bevölkerung. Zwischen 1941 und 1943 habe dieses komplexe Netzwerk immer mehr Funktionen akquiriert und seine Macht ausgedehnt, vor allem durch das Hinzutreten des „Deportationsnetzes“, des „Raubnetzes“ und eines ausgedehnten Netzes von Zwangsarbeitslagern im Rahmen der SS-Wirtschaftsbestrebungen (S. 15 f.). Nachdem die „Aktion Reinhardt“ im Herbst 1943 weitgehend abgeschlossen, die Vernichtungslager aufgelöst und Globocnik nebst Untergebenen in das „Adriatische Küstenland“ versetzt worden waren, schrumpfte das Netzwerk auf 78 Männer und verlor bis Kriegsende rapide an Macht und Bedeutung, ungeachtet der Tatsache, dass die T 4-Leute in der Risiera di San Sabba (Triest) weitere Morde verübten. Insgesamt sei es diesen Männern gelungen, die millionenfache Tötung von Juden mit einem Mindestmaß an Personal und einem Höchstmaß an Effizienz durchzuführen. „Effizienz“ bemisst sich hier an der Zahl der Opfer und der Geschwindigkeit des Mordens, weniger an dem lange vorherrschenden Bild einer weitgehend anonymen, durch bürokratische Abläufe charakterisierten Vernichtungsmaschinerie (S. 9).

Die Verfasserin hat die gesamte westsprachliche Literatur und eine beeindruckende Fülle ungedruckter Materialien aus in- und ausländischen Archiven ausgewertet (S. 433–436). Die hauptsächliche Quellengrundlage dieser sechs (nicht nummerierte) Kapitel umfassenden Studie bilden die Sach- und Vernehmungsakten praktisch aller Ermittlungs- und Strafverfahren, die in den beiden deutschen Staaten und Italien im Zusammenhang mit der T 4-Aktion, der „Aktion Reinhardt“ und der Vorgänge in Triest geführt wurden. Auf dieser Basis gelingt es Berger erstmals, nicht nur die genaue Zahl der T 4-Funktionäre in der „Aktion Reinhardt“ zu bestimmen, sondern eine Vielzahl bisher unbekannter Details zur Biographie dieser Männer zusammenzutragen. Indem Berger das Itinerar der Vernichtungsexperten durch die Tatorte und Phasen der „Aktion Reinhardt“ verfolgt, schreibt sie zugleich eine Gesamtdarstellung des Judenmords im Generalgouvernement.

Zunächst schildert Sara Berger die Voraussetzungen für den Völkermord (S. 24 ff.). Im Unterschied zu Robert Kuwałek, der die ersten Morde mit dem Giftgas Zyklon B in Auschwitz-Birkenau (September 1941) in einen ursächlichen Zusammenhang mit der „Endlösung“ bringt, stellt Berger dieses Verbrechen mit guten Argumenten in den Zusammenhang der „Aktion Euthanasie“, die nach ihrem offiziellen Abbruch in den staatlichen Konzentrationslagern fortgeführt wurde (S. 25, 33). Das Personal der T 4-Tötungsanstalten war seit Ende August 1941 ohne Beschäftigung. Bouhler und Brack ergriffen die Initiative, um ihre Untergebenen in der sich abzeichnenden „Endlösung“ einzusetzen. Erst im Dezember wurde klar, dass das erste Lager zur systematischen Ermordung von Juden in Bełżec errichtet werden würde; laut Berger einer der Gründe für den auffällig schleppenden Baufortschritt des Lagers (S. 34 f., 39 f.).

Im Unterschied zum Großteil der bisherigen Forschung betont Berger im zweiten Kapitel ihrer Arbeit (S. 37 ff.) den autonomen Status des zunächst kleinen T 4-Reinhardt-Netzwerkes. De facto sei es, so die Verfasserin, bei „allgemeinen Grundsatzbefehlen“ (S. 37) geblieben, um die Flexibilität und Effizienz der Täter zu steigern. Tatsächlich brachte eine kleine Gruppe von rund 50 T 4-Männern bis Ende Juni 1942 nicht weniger als 160.000 Juden mit Giftgas um. Bełżec (anfänglich nur 13 Männer) habe in diesem Zusammenhang als „Versuchslager“ fungiert, in dem bis April 1942 überprüft wurde, ob es technisch möglich sein würde, ein Massenmordprogramm größten Ausmaßes zu verwirklichen. Erst nachdem dieser Test im Sinne der Täter insgesamt erfolgreich verlaufen war, wurde das bereits im Bau befindliche zweite Lager, Sobibór, zum Vernichtungslager erweitert, wobei man die Expertise der T 4-Männer und „Trawnikis“ aus Bełżec durch Versetzungen dem neuen Lager dienstbar machte. Als drittes Lager wurde gemäß einem Befehl Himmlers vom April 1942 Treblinka aufgebaut, während in Bełżec und Sobibór bereits weitere Transporte eintrafen. Den Schlusspunkt dieser Aufbauphase bildete die Ausweitung der zunächst auf das Lubliner und Lemberger Gebiet beschränkten „Aktion Globus“ zur europaweiten „Aktion Reinhardt“. Jede dieser Phasen bis Ende Juni 1942 war durch Versetzungen von T 4-Leuten und eine zunehmend komplexe Struktur innerhalb der Lager charakterisiert: Bełżec war das Vorbild, wurde aber von Sobibór und Treblinka an Größe und innerer Differenzierung übertroffen.

Im Zeitraum von Juli bis Dezember 1942, als die „Aktion Reinhardt“ in Gang gesetzt wurde und der Judenmord im Generalgouvernement seinen zahlenmäßigen Höhepunkt erreichte, fand eine „Konsolidierung und Optimierung der Lagerstrukturen“ statt (Drittes Kapitel, S. 91 ff.). Diese verlief parallel zum Ausbau von Auschwitz-Birkenau zum Vernichtungszentrum für die westeuropäischen Juden. Berger sieht in der Konkurrenzsituation zwischen Auschwitz und der „Aktion Reinhardt“ einen wesentlichen Antriebsfaktor für den Bedeutungszuwachs des Massenmordes im Generalgouvernement, in dem erst jetzt Globocnik und seine Untergebenen eine Schlüsselrolle gespielt hätten. Eindringlich schildert die Verfasserin die Durchführung der Vernichtung in Bełżec, Sobibór und Treblinka, die durch die Abkommandierung von weiteren T 4-Männern in das Generalgouvernement ermöglicht wurde.

Kennzeichnend für die zweite Phase der Deportationen war die Entstehung des „Raubnetzes“. Um die Beute aus der „Aktion Reinhardt“ stritten sich verschiedene Instanzen. Auch griffen Diebstahl und Korruption endemisch um sich. Es gelang letztlich Globocnik, die „Verwertung“ an sich zu ziehen und bei der SS-Standortverwaltung Lublin zu zentralisieren, die ihrerseits an das Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS ablieferte. Die Beraubung der Juden diente einerseits der Finanzierung des Vernichtungsprogramms, andererseits der Kriegsfinanzierung und der indirekten Bestechung weiter Kreise von „Volksgenossen“ (S. 186 f.).

Im Laufe des Jahres 1943 erreichte das T 4-Reinhardt-Netzwerk seine größte Ausdehnung und Macht (S. 188 ff.). Die Vernichtung der polnischen Juden stand befehlsgemäß vor dem Abschluss. Die Schließung des Lagers in Bełżec wurde von den Tätern als Bedrohung ihrer Position betrachtet. Die bekannte Inspektionsreise Himmlers im Februar 1943 habe vor allem zum Zweck gehabt, dem SS-Führer die ‚Leistungsfähigkeit‘ des T 4-Netzwerkes zu demonstrieren und den Fortbestand von Sobbibór und Treblinka zu gewährleisten. Tatsächlich trafen in den beiden Lagern nunmehr auch Transporte aus West- und Südosteuropa, aus Weißrussland und Litauen ein.

Berger bestätigt für die „Aktion Reinhardt“ insgesamt Kuwałeks Befund, dass die Vernichtungslager keineswegs abgeschiedene, geheime Orte waren, sondern eine Vielzahl von Besuchern hatten (S. 239–241), mit den Dienststellen von Polizei und Wehrmacht eng kooperierten und auch mit der Zivilbevölkerung in – vornehmlich wirtschaftlichen – Austauschbeziehungen standen. Die Verfasserin überprüft anhand der rekonstruierbaren Transporte (vgl. S. 416 ff.) auch die Statistik der Todesfälle und kommt bis Ende 1942 zu erheblich höheren Zahlen, als sie in der bekannten Meldung an das Reichssicherheitshauptamt kommuniziert wurden. Während Kuwałek für Bełżec von höchstens 450.000 Opfern ausgeht, bildet diese Ziffer für Berger eine Untergrenze. Sie rechnet mit einer Höchstzahl von rund 600.000 Ermordeten, was der in den 70er-Jahren angenommenen Ziffer recht nahe kommt, vorliegend aber nicht hinreichend belegt ist.3 Im Vergleich dazu waren nach Bergers Auffassung die Tötungszahlen des Jahres 1943 geringer als bisher angenommen.

Die zwei verbleibenden Kapitel Bergers sind dem „Profil des T 4-Reinhardt-Netzwerks“ (S. 292 ff.) und der Aufarbeitung der „Aktion Reinhardt“ in der Nachkriegszeit gewidmet (S. 363 ff.). Im erstgenannten Teil ihres Buches arbeitet Berger die Kollektivbiographie des Netzwerks heraus, fragt nach strukturellen und situativen Ursachenfaktoren des Massenmordes und entwickelt eine mehrstufige Typologie der Täter. Die T 4-Leute entstammten ganz überwiegend der Kriegsjugendgeneration, waren also zwischen 1900 und 1910 geboren worden. Mit Ulrich Herbert und Michael Wildt geht die Verfasserin von einem generationsspezifischen Gewaltstil der von ihr untersuchten Täter aus, obgleich diese Männer zu erheblichen Teilen aus dem kleinbürgerlichen Milieu des flachen Landes stammten (S. 302). Der NSDAP-Organisationsgrad war erwartungsgemäß hoch, wenngleich nur etwa ein Viertel der 121 Personen umfassenden Gesamtgruppe vor 1933 der Partei beigetreten war und meist in der SA den Gewaltkult der Nationalsozialisten internalisiert hatte. Diese kleine Gruppe, besonders aber die neun aktiven SS-Leute – die „Lager-SS“ der „Aktion Reinhardt“ bestand bekanntlich ganz überwiegend aus Notdienstverpflichteten, die zwar SS-Uniformen, aber lediglich Nenndienstgrade trugen –, übte einen erheblichen, radikalisierenden Einfluss auf die Gesamtgruppe aus, zumal sie mit den Kriminal- und Schutzpolizisten teilidentisch war, die, wie Gottlob Hering und Christian Wirth, die Polizeikommandos der „Aktion Euthanasie“ geleitet hatten (S. 300–304).

Das Gros des Netzwerks bestand jedoch aus ehemaligen Psychiatriepflegern, die 1939/40 mit ihrem Einverständnis zum Krankenmord rekrutiert worden waren. Zwar übte ein Teil des Netzwerks in den Vernichtungslagern dieselben Tätigkeiten aus wie vordem in den Tötungsanstalten der T 4-Organisation. Insgesamt unterschieden sich die Bedingungen und Gegebenheiten in den Lagern der „Aktion Reinhardt“ jedoch stark von ihren Vorläufern. Die Allgegenwart von Leichen, die Vorgesetztenfunktion der Massenmörder über den inneren Kreis der „Trawnikis“ und jüdischen Häftlinge, nicht zuletzt die schiere Zahl der umgebrachten Männer, Frauen und Kinder – alles dies war neu und prägte das Handeln der Täter stärker als ihre vorangehende Gewöhnung an den Giftgasmord.

Berger hebt hervor, dass in Bełżec, Sobibór und Treblinka von strikten Befehls- und Unterstellungsverhältnissen innerhalb des Stammpersonals keine Rede sein konnte, obgleich Wirth als notorischer Gewalttäter bekannt und bei seinen Untergebenen gefürchtet war. Die Legende vom objektiven Befehlsnotstand ist schon lange widerlegt; subjektiv war er nur bei wenigen Männern vorhanden. Das Gros des Netzwerks tat aus freiem Willen mit. Der Führungsstil war eher vom Appell an Kooperationsbereitschaft und Improvisationsvermögen als von militärischer Kommandogewalt geprägt, zumal die Täter überwiegend von der Legalität, ja sogar Legitimität ihres Tuns überzeugt waren (S. 312–315): Die „höchste Stelle“ hatte die Sache gut geheißen; damit erübrigte sich vermeintlich die Frage nach der eigenen Verantwortung. Da auch in der räumlichen Umgebung der Lager und unter ihren vielen Außenkontakten keine Kritik am Massenmord zu vernehmen war, sahen sich die Mörder durch ihre Umwelt in dem Wahn bestätigt, die jüdische Minderheit sei die Urheberin einer Weltverschwörung, der man nur durch die Tötung der Verschwörer beikommen könne (S. 317–321).

Arbeitsteilung, die Gewöhnung an den täglichen Ablauf des Mordens, Kameraderie und der Gruppendruck, nicht als „weich“ zu gelten, Raublust, Alkoholexzesse, nicht zuletzt das befriedigende Gefühl, Herren über Leben und Tod zu sein, kamen als Faktoren hinzu, um aus Menschen Massenmörder zu machen. Insgesamt (S. 346 ff.) verdichteten sich Gewalt und Einsatzbereitschaft zu jener „Effizienz“ des Tötens, die Berger wiederholt hervorhebt. Das Netzwerk setzte sich aus einer Minderheit überzeugter, grenzenlos grausamer Massenmörder in Führungsfunktionen (23 Personen), funktional gewalttätigen Adjutanten und Helfern im zweiten Glied (15 Personen), einer nicht geringen Zahl von Exzesstätern (20 Personen) und der mit Abstand größten Gruppe von „Tätern nach Vorschrift“ (47 Personen) zusammen. Immerhin 16 Männer entzogen sich durch erfolgreiche Versetzungsgesuche dem mörderischen Geschehen.

Insgesamt liegt mit Sara Bergers Studie die bisher komplexeste und facettenreichste Gesamtgeschichte der „Aktion Reinhardt“ einschließlich ihrer Vor- und Nachgeschichte vor. Wer glaubte, über dieses Massenverbrechen schon alles Wesentliche gewusst zu haben, wird sich von diesem Buch eines Besseren belehren lassen. Vor allem über das Jahr 1943 erfährt man aus Bergers Studie viel Neues. Dies gilt auch für die Kollektivbiographie des deutschen Stammpersonals, die Berger erstmals im Detail nachgezeichnet hat. Die Verfasserin arbeitet überzeugend heraus, dass die Mordlager der „Aktion Reinhardt“ keine isolierte Welt für sich darstellten, sondern mit dem NS-Staat vielfältig verknüpft waren, von der Kanzlei des Führers über die Beuteverwertung durch den Fiskus bis hinab zum lokalen Lager-Tourismus.

Bei allen Verdiensten um die historische Rekonstruktion des Geschehens und die Täterforschung sind Schwächen der Argumentation jedoch nicht zu übersehen. Die von Berger verwendete Methode der Netzwerkanalyse neigt per se zur Betonung flacher Hierarchien, da sie horizontale Expansion, weniger aber vertikale Abhängigkeiten beschreibt. Der Begriff des „T 4-Reinhardt-Netzwerks“ erscheint zu amorph, um substanzielle Unterschiede zwischen eindeutigen Vordenkern der Vernichtung wie Viktor Brack, führenden Funktionären wie Christian Wirth und ausführenden Tätern in den Blick zu bringen. Streckenweise vermittelt Bergers Darstellung den Eindruck, als habe das Netzwerk selbst gehandelt, ohne dass klar wird, wer initiierte, vermittelte, ausführte. Bergers Typologie der Täter kommt bezeichnenderweise ohne den Netzwerkansatz aus. Von daher wird man kritisch hinterfragen, ob das T 4-Netzwerk tatsächlich eine zentrale Rolle spielte, die es gleichsam autonom gegenüber der Kanzlei des Führers einerseits, den regionalen SS- und Polizeiinstanzen andererseits ausfüllen konnte (S. 9, 37 u. ö.). Berger unterschätzt die ausschlaggebende Bedeutung Globocniks und seines nicht weniger als 450 Personen umfassenden Stabes, dem die T 4-Leute, wie die Verfasserin selbst konstatiert, unterstellt waren.4

Robert Kuwałek und Sara Berger haben auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Methoden unsere Kenntnisse über die „Aktion Reinhardt“ bedeutend erweitert. Viel mehr wird man über den äußeren Verlauf dieses brutalen Vernichtungsfeldzugs und die Vorgänge in den Lagern kaum erfahren können. Insoweit markieren die beiden hier rezensierten Bücher einen gewissen Abschluss der Forschung über den Judenmord im Generalgouvernement. Es wird höchste Zeit, dass die „Aktion Reinhardt“ in der öffentlichen Wahrnehmung und Erinnerung größeren Stellenwert erhält und die heutigen Gedenkstätten in Bełżec, Sobibór und Treblinka in den schulischen Exkursionskanon aufgenommen werden. In diesen Lagern wurde unbarmherzig und mit einem Höchstmaß an Gewalt gemordet, von Männern, die zu guten Teilen Überzeugungstäter waren, und einer großen Schar ausländischer Helfer, die ihnen hierbei zur Hand gingen. Metaphern wie „Fließband des Todes“ verschleiern die grausige Wirklichkeit eines Völkermords, dem allein in den drei Lagern der „Aktion Reinhardt“ bis zu 1,6 Millionen wehrlose Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen.

Anmerkungen:
1 Andrzej Kola, Belzec. The Nazi Camp for Jews in the Light of Archeological Sources. Excavations 1997–1999, Washington 2000; Peter Witte / Stephen A. Tyas, A New Document on the Deportation and Murder of Jews during „Einsatz Reinhardt“ 1942, in: Holocaust and Genocide Studies 15 (2001), H. 3, S. 468–486; Michael Tregenza, Belzec – Okres eksperimentalny. Listopad 1941-Kwiecien 1942, in: Zeszyty Majdanka 21 (2001), S. 165–209.
2 Adalbert Rückerl (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno, München 1977; Günter Morsch / Bertrand Perz (Hrsg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, Berlin 2011 (vgl. http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16118 [29.07.2015]); Patricia Heberer, Eine Kontinuität der Tötungsoperationen. T4-Täter und die „Aktion Reinhard“, in: Bogdan Musial (Hrsg.): „Aktion Reinhardt“. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944, Osnabrück 2004, S. 309–352.
3 Bełżec 434.508 (Höfle bei Witte/Tyas [Anm. 1])/453.021 (Kuwałek, S. 244)/zwischen 467.000 und 596.200 (Berger, S. 254); Sobibór: 101.370 (Höfle)/bis zu 154.600 (Berger). Treblinka: 713.555 (Höfle)/bis zu 870.100 (Berger). Demnach wären bis Ende 1942 nicht, wie von Höfle mitgeteilt, rund 1,3, sondern bis zu rund 1,6 Millionen Juden im Giftgas erstickt worden.
4 Vgl. dazu demnächst Bertrand Perz, The Austrian Connection. The Staff of the Office of the SS and Police Leader Odilo Globocnik in the Lublin District, in: Holocaust and Genocide Studies 29 (2015), H. 3.

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