M. H. Yavuz u.a. (Hrsg.): War and Nationalism

Cover
Titel
War and Nationalism. The Balkan Wars, 1912–1913, and Their Sociopolitical Implications


Herausgeber
Yavuz, M. Hakan; Blumi, Isa
Reihe
Utah Series in Middle East Studies
Erschienen
Salt Lake City 2013: The University of Utah Press
Anzahl Seiten
884 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Müller, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Anlässlich des 100. Jahrestags der Balkankriege 1912/13 wurden mehrere internationale Tagungen veranstaltet, deren Ergebnisse in der Regel jedoch noch nicht gedruckt vorliegen. Eine Ausnahme stellt der vorliegende Band dar, der aus einer maßgeblich von der Turkish Coalition of America finanzierten Konferenz an der Universität Utah hervorging und pünktlich zum Jahrestag veröffentlicht wurde. Trotz des imposanten Umfangs des Vorhabens – rund 30 Autoren und Autorinnen in vier Sektionen und annähernd 900 Druckseiten samt Index und Bibliographie – handelt es sich bei dem Sammelband keineswegs um den Versuch einer multiperspektivischen Analyse. Vielmehr werden die Balkankriege nahezu ausschließlich aus der Perspektive und bezüglich des Osmanischen Reiches dargestellt. Für die Entscheidung, die anderen Kriegsteilnehmer Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland sowie auch Rumänien im Zweiten Balkankrieg weitgehend zu ignorieren, sind wissenschaftsimmanente oder forschungspraktische Gründe denkbar, wenn solche Begründungen jedoch fehlen, drängt sich der Eindruck außerwissenschaftlicher Vorannahmen unweigerlich auf.

Lediglich Richard C. Hall, der Autor des jüngsten Standardwerks zu den Balkankriegen1, thematisiert mit Bulgarien ausdrücklich einen der vier südosteuropäischen Staaten, während eine Handvoll weiterer Autoren die klassischen Themen südosteuropäischer Historiographien lediglich streifen. In der ersten Sektion „The Origins of the Balkan Wars“ analysiert Francesco Caccamo die Bedeutung des osmanisch-italienischen Libyen-Krieges (1911/12) als eine der Katalysatorfaktoren des Balkankriegs. Tamara Scheer bietet eine exzellente Mikrostudie über den Sandžak von Novi Pazar, der sich von 1879 bis 1908 unter gemeinsamer Verwaltung des Osmanischen und Habsburger Reiches befand, von zwei multiethnischen Staaten, die sich vom Aufstieg der balkanischen Nationalbewegungen und Staaten bedroht sahen. In einem weiteren verflechtungsgeschichtlich argumentierenden Text geht Garabet K. Moumdjidan der von Bulgarien unterstützten Zusammenarbeit armenischer und makedonischer Freischärler gegen das Osmanische Reich nach, die schließlich in der Aufstellung einer armenischen Kompanie mündete, die auf Seiten der bulgarischen Armee in den Balkankriegen kämpfte. Die Sektion wird mit Beiträgen von Mehmet Hacisalihoğlu, des Co-Herausgebers M. Hakan Yavuz sowie von Gül Tokay abgerundet. Alle drei Autoren verweisen auf das Jahr 1908 als Knotenpunkt mehrerer Ereignisse, die auf die Balkankriege hinführten: der Sturz von Sultan Abdülhamid II durch die jungtürkische Bewegung, gefolgt von der Unabhängigkeitserklärung Bulgariens sowie die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch das Habsburger Reich einen Tag später. Das unabhängige Bulgarien trat nun mit erhöhtem Nachdruck an die Seite Serbiens und Griechenlands in deren Auseinandersetzung um die Frage, wer die balkanischen Provinzen des Omanischen Reiches – nach dem dreifachen Krisenjahr 1908 als kurz bevorstehend eingeschätzt – seinem Nationalstaat einverleiben sollte. Während Hacisalihoğlu die Schwierigkeiten und Widersprüche der jungtürkischen Regierung bei der Umsetzung ihres Reformprogramms zwischen staatsbürgerlichem Anspruch und zentralisierender Politik ausgewogen darstellt und Tokay auf das Krisenjahr 1908 fokussiert, ist es ausgerechnet der Co-Herausgebers M. Hakan Yavuz, der in Stil und Inhalt einen sehr problematischen Text vorlegt.

Im Text von Yavuz „Warfare and Nationalism: The Balkan Wars as Catalyst for Homogenization“ ebenso wie in der gemeinsamen Einleitung mit Isa Blumi wird das Osmanische Reich in gewisser Hinsicht naturalisiert, das heißt seine Existenz wird ahistorisch als Normalmodus der Staatlichkeit auf dem Balkan gesetzt, als es unter dem Ansturm der balkanischen Nationalismen im Verein mit der imperialistischen Politik der europäischen Großmächte im Laufe des 19. Jahrhunderts zunächst in die Defensive geriet und dann in den Balkankriegen kollabierte. Yavuz schreckt nicht davor zurück, von „genocidal tactics in the Greek nation-state formation“ zu sprechen, ja sogar davon, dass „the hundred years between 1821 and 1921 were a century of ethnic cleansing and mass killing, and even genocide, in the Balkans“ (S. 37f.). Dass er damit ausschließlich die Kriegsführung der balkanisch-christlichen Freischärler und Armeen meint, nicht aber das Vorgehen osmanischer regulärer bzw. Hilfstruppen – auch nicht dasjenige gegen die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reiches 1915/16, das international in der Tat als Genozid firmiert – wird von Yavuz nicht ausdrücklich gesagt, unterliegt aber keinem Zweifel. So leitet er mit folgenden Sätzen von den für das Osmanische Reich katastrophal verlaufenden Balkankriegen zu den Lehren über, die die jungtürkische Partei daraus für die Politik gegenüber der christlichen, insbesondere der armenischen und griechischen Gruppen zog: „In fact the Ottoman state was a wounded lion surrounded by scavenging hyenas that were just waiting for the moment to devour the carcass. The ailing lion was in desperate conditions and in search of an ally for survival but also capable of savage retaliation itself” (S. 59). Im gesamten Band wird der Genozid des Osmanischen Reichs an den Armeniern lediglich von Erik Jan Zürcher als solcher bezeichnet und als Teil des Phänomens interpretiert, dass sehr große Teile der türkischen Republikseliten vom Balkan stammten und nun aus Rache oder aus Furcht, das Szenario der Balkankriege könne sich in Anatolien wiederholen, die Griechen und die Armenier in ethnischen Säuberungen aus dem Land trieben bzw. ermordeten. In der Einleitung des Bandes bieten Blumi und Yavuz ein Erklärungs- und Verlaufsmodell für das „lange 19. Jahrhundert“ in Südosteuropa an, in dem Akteure wie irregeleitete Kinder verantwortungslose Taten vollbringen: Nationalismus, Volkssouveränität, der Nationalstaat und das Prinzip der Selbstbestimmung in Südosteuropa basierten sämtlich auf fremden, nämlich „euro-amerikanischen“ Modellen, seien sorglos von ihren sozialen und historischen Ursprüngen abstrahiert und dann solange imitiert worden, bis sie internalisiert gewesen seien. Dass sich diese Erkenntnis nicht schon längst durchgesetzt hat, wird in der Einleitung wiederholt mit dem Einfluss der „Euro-American academic tradition“ (S. 3) mehr beschworen, denn belegt.

Ignoriert man diese aufgesetzte Deutungshilfe der Herausgeber, lesen sich zahlreiche Texte mit Gewinn, insbesondere diejenigen, die sich mit den militärischen, politischen und gesellschaftlichen Gründen für die schnellen und umfassenden Niederlagen der osmanischen Truppen beschäftigen. Feroze Yasamee analysiert die unrealistischen Einberufungs- und Aufmarschpläne der Armee, den schlechten taktischen Ausbildungsstand der Offiziere und die ungenügende Bewaffnung der Truppen. Dazu kam die von Oya Dağlar Macar aufgezeigte schlechte Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und sanitären und medizinischen Gütern, die zusammengenommen dazu führten, dass mehr als die Hälfte der Kriegstoten auf osmanischer Seite durch Epidemien ums Leben kamen. Aus der Niederlage entstanden intensive Krisendiskurse wonach die Gründe dafür – wie von Melis Hafez analysiert – in der gesellschaftlichen Konstruktion des „osmanischen Körpers“ als schwach und unkriegerisch zu finden seien. Dazu passen die von Serpil Atamaz rekonstruierten Diskurse und Praktiken der weiblichen Selbstermächtigung noch während der Balkankriege, die sich in der Zeit der Republik verstetigten. Auf der Ebene der hohen und mittleren Armeeführung wird von Doğan Akyaz und Preston Hughes insbesondere der hohe Grad der Politisierung der Offiziere sowie deren politischer Aktivismus in Parteien und der Presse als Gründe identifiziert, mit denen die Zeitgenossen das Versagen der Armee erklärten. Aus der Niederlage und den Krisendiskursen, aber auch aus der von Nedim İpek dargestellten Ansiedlung der Flüchtlinge in Anatolien folgte eine von Intellektuellen (im Band von Funda Selçuk Șirin untersucht), in Schulbüchern (der Beitrag von Nazan Çiçek) und von Politikern gleichermaßen betriebene Rekonstruktion einer türkisch-muslimischen Nation mit Anatolien als Ursprungslandschaft (der Beitrag von Mehmet Arɩsan). Parallel dazu ist die Analyse des Diskurses im arabischen Teil des Osmanischen Reiches von Eyal Ginio sehr interessant, wo die Lehren aus der Kriegsniederlage als empfohlener intellektueller Rückzug aus Europa und als Neubesinnung auf muslimische Wurzeln gezogen wurden.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Vilayet Makedonien sowie den konkurrierenden bulgarischen, serbischen und griechischen Ansprüchen auf diese Region, respektive auf ihre Einwohner. Die sich vornehmlich damit beschäftigenden Texte von Tetsuya Sahara, Fatme Myuthar-May sowie Neriman Ersoy-Hacisalihoğlu fördern allerdings nur wenig Neues bezüglich der makedonisch-bulgarischer Freischärler sowie der kurzlebigen forcierten Christianisierungsmaßnahmen Bulgariens zu Tage. Ebenso wie in Amir Duranovićs Text über die serbische Propaganda in Bosnien und der Herzegowina herrscht die genannte Perspektive vor, wonach alles Übel von außen in die Region und ins Osmanische Reich getragen wurde.

Drei weitere Aufsätze von Pamela J. Dorn Sezgin, Patrick J. Adamiak und Jonathan Schmitt beschäftigen sich – in der Perspektive der Saidschen Orientalismuskritik sowie des Foucaultschen Macht-Wissens-Komplexes – mit europäischen und amerikanischen Repräsentationen der Balkankriege. Adamiak und Schmitt unterziehen insbesondere die Autoren des Carnegie „Report on the Causes and Conducts of the Balkan Wars 1912/13“ einer scharfen Kritik. Diese Texte bilden einen Teil der unglücklich konzipierten Sektion III (Assessing local, regional and international reactions to the war), denn daneben finden sich Texte, die keiner territorialen Logik folgend (Beitrag von Melis Hafez) oder der ob seiner Kürze und seines repetitiven Charakters gänzlich verzichtbare von Sevtap Demirci.

Es ist ein besonderes Verdienst des Bandes eingeschätzt werden, dass verschiedene Autoren, insbesondere Arɩsan und Zürcher, darauf hinweisen, dass das Osmanische Reich – im Selbstverständnis seiner Eliten sowie real – wesentlich ein südosteuropäisches Herrschaftsgebilde war, bevor es nach Anatolien, in den Nahen Osten und nach Nordafrika expandierte. Weiterhin sei der Text Isa Blumis hervorgehoben, in dem er anders als in der ideologisierten Einführung, in dem räumlich kleinen, albanischsprachigen und zwischen Kosovo, Serbien und Montenegro gelegenen Malësigebiet akteurszentriert die Optionen und Aktionen dreier Politiker und Anführer von Freischärlern auslotet und analysiert. Dabei wird deutlich, dass politische und militärische Loyalitäten und Gefolgschaften auf lokaler und regionaler Ebene in den Balkankriegen keineswegs trennscharf (etwa zwischen christlich und muslimisch) verliefen, dass sie vielmehr kontingent waren, im Dialog mit Entscheidungszentren auch außerhalb der Region entschieden wurden, und zwar nach sich wandelnden Opportunitäten. Eine solche ergebnisoffene Analyse – wie sie für die Albaner auch von Çağdaş Sümer vorgelegt wird – hätten auch die anderen Ethnien und Kombattanten in den Balkankriegen verdient.

Anmerkung:
1 Richard C. Hall, The Balkan Wars, 1912–1913: Prelude to the First World War, New York 2000. Vgl. auch Kathrin Boeckh, Von den Balkankriegen bis zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan, München 1996.

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