Cover
Titel
Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt


Autor(en)
Heider, Ulrike
Erschienen
Berlin 2014: Rotbuch Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Massimo Perinelli, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Ulrike Heider verfolgt mit ihrer aktuellen Publikation eine Ideologiekritik des Sexuellen von den 1950er-Jahren bis heute. Methodologisch führt sie eine Diskursanalyse durch, die unterschiedliche Quellengattungen – Artikel, Filme, Bücher – miteinander verknüpft und die sie mit biografischen Erzählungen abgleicht. Dabei gelingt ihr ein überzeugendes Bild der sogenannten Sexuellen Revolution der späten 1960er-Jahre. Heider beschreibt und verteidigt den sexuellen Aufbruch der Jahre 1967 und 1968, an dem sie selbst Teil hatte. Sie verteidigt diesen Aufbruch vor allem gegen ein vom Feuilleton bis zur Historiografie betriebenes „68er-Bashing“ und räumt dabei mit einigen Mythen auf. Damit stellt Heiders Buch die einzige – noch dazu weibliche – Stimme dar, die das, was als sexuelle Revolution benannt wird, als einen gelungenen Beginn einer Befreiung aus repressiven Gesellschaftsstrukturen beschreibt. „Prügelpädagogik“, Sexualfeindlichkeit und schuldvoll erlebter schlechter Sex, aber auch Demokratiefeindlichkeit und eine harsche Geschlechterordnung kennzeichneten die Adenauer-Ära, in der die Autorin – Jahrgang 1947 – selber aufwuchs und auf die sie „mit einem zornigen Blick“ zurückschaut. Noch einmal lässt sie die Sittenwächter sowie die Sexskandale der 1950er-Jahre Revue passieren, analysiert politische Verordnungen, Mediendiskurse und kulturelle Übergangsformate Anfang der 1960er-Jahre. Dagegen macht Heider den humanistischen Gedanken der wenige Jahre später einsetzenden sexualpolitischen Offensive stark, in dem ein sozial gerechtes und harmonisches Miteinander möglich werden sollte und dies auch in Ansätzen gelang. Sie referiert die „konkrete Utopien“ von Charles Fourier, Wilhelm Reich und Herbert Marcuse einer „friedlichen, harmonischen und lustvollen Welt“ und deren Umsetzung in der rebellierenden Schüler/innenbewegung, der schwulen Subkultur und der undogmatischen Linken der späten 1960er-Jahre. Auch die bekannten Schriften der damals entstandenen Kommunen wie der K1 und K2 werden kritisch befragt. Immer wieder gleicht Heider ihren Befund mit eigenen Erfahrungen ab, ohne dabei in die Falle einer falschen Unmittelbarkeit zu gehen. Die Auseinandersetzungen im SDS um Helke Sanders Rede auf der Delegiertenkonferenz im Herbst 1968 als Gründungssignal der Zweiten Frauenbewegung relativiert sich in Heiders Sicht als Teil eines internen Machtkampfs innerhalb des dogmatisch organisierten SDS. Damit stellt sie den Kern des Entstehungsmythos der Zweiten Frauenbewegung in Frage, was sie automatisch in eine denunziatorische Position gegenüber der organisierten Frauenbewegung rückt. Denn diese hatte sich im Übergang zu den 1970er-Jahren zunehmend in geschlechtergetrennten Gruppen organisiert und dies unter anderem mit frustrierenden Erfahrungen mit gemischtgeschlechtlicher Sexualität der späten 1960er-Jahre begründet. Diesem Begründungszusammenhang wird aber von Heider konsequent widersprochen, indem sie die befreienden Momente der gelebten Sexualität in der Linken dieser Zeit stark macht. Für Heider ist das Argument, dass die sexuelle Revolution auf Kosten der Frauen ablief, nicht nur eine machtpolitische Finte bestimmter Figuren aus dem inner circle des SDS, sondern auch eine „Beleidigung jener mutigen Frauen, die sich der antiautoritären Linken angeschlossen hatten“ (S. 92). „Nie jedenfalls hat ein politisch bewusster Mann mich sexuell unter Druck gesetzt […]. Nur auf dem Boden vollständiger Freiwilligkeit, glaubte man, könnte das Glück einer besseren Zukunft entstehen.“ (S. 64) Dies ist der Kern ihres Buches.

Heider beginnt ihre Analyse des Niedergangs des sexuellen Aufbruchs mit den entstehenden dogmatischen K-Gruppen im Übergang zu den 1970er-Jahren, für die Sexualität kaum mehr als ein Nebenwiderspruch sein konnte. Die gleichzeitig aufkommende Frauenbewegung betonte, um ihren Machtkampf gegen das Patriarchat zu legitimieren, zunehmend die Biologie des Mannes als ursächlich für dieses Herrschaftsverhältnis. Um die Suche nach einem weiblichen Selbst jenseits einer männlichen Sexualität zu begründen, wurde der männliche Körper zunehmend auf seinen Penis reduziert, der als Phallus verstanden und als Waffe definiert wurde. Die sexuelle Lust der Männer konnte dadurch nur mehr Wille zur Unterwerfung der Frau sein; letztlich eine Lust auf Vergewaltigung. Hier untersucht Heider vor allem feministische Bestseller der Zeit wie Simone de Beauvoir, Barbara Sichtermann, Verena Stefan, Cora Stephan oder Kate Millet. In dieser Literatur macht Heider eine Biologisierung des Geschlechterverhältnisses sowie eine „Absage an die Vernunft zugunsten von Spiritualität, Weiblichkeitsmythen, weiblicher Religion und neuem Heidentum“ aus, die im Laufe der späteren Frauenbewegung immer stärker um sich greife.

Eine große Stärke des Buches ist sein besonderes Augenmerk auf die bundesdeutsche Schwulenbewegung, der sich die Autorin persönlich verbunden fühlt. Sie beschreibt ausführlich deren Auseinandersetzungen um Sexualität und betont die Bedeutung der antagonistischen Figur der Tunte als „Schrecken des Spießers und des angepassten Schwulen“ für eine radikale Sexualbefreiung in den 1970er-Jahre, derer sich die Schwulenbewegung im konservativen und maskulinistischen Umschlag zu den 1980er Jahre entledigte.

Die Umschreibung von Sexualität von etwas Befreiendem in den 1960ern zu etwas genuin Gewaltvollem und Unterdrückendem im Verlaufe der 1970er und darüber hinaus ist also das bestimmende Thema des Buches. Dabei rechnet Heider nicht nur mit der neuen Frauenbewegung ab, sondern auch mit deren Gegnerinnen, die sich im Übergang zum „Sexualkonservatismus“ der 1980er-Jahren zu formieren begannen, namentlich die sogenannten Libertinen, mit denen sie sich bereits 1986 in einer Publikation auseinandergesetzt hatte. 1 Sexualität sollte in diesem Kontext kein weiblich-spiritueller und vor allem penetrationsfreier Kuschelsex mehr sein, vielmehr wurde nun provokativ eine neue Härte im Sex vertreten. Nun las man in der Linken Michel Foucault und Jean Baudrillard und verabschiedete sich von der Vorstellung, dass so etwas wie Befreiung überhaupt möglich sei. Treffend kritisiert Heider eine Foucault-Rezeption, die das kritische Reden über Sex als Aspekt einer Biomacht abtat. Innerhalb wie außerhalb der Unis begriff man mit Foucault den Sex als eine Technologie der Macht, die nicht wirklich verändert werden könne und deren Unterwerfungsmechanismen akzeptiert werden müssten. Was bleibe, sei ein Spiel mit besonderen Regeln, das es gestatte, den Herrschaftscharakter im Sex zu transformieren. Foucaults Verweis auf die schwulen und lesbischen SM-Praktiken in San Francisco und New York stand hierbei Pate. In den 1980er Jahren kam solchermaßen nicht nur in der Linken eine neue Vorstellung von Sex auf, die diesen zunehmend als ekstatische Schmerzlust-Ökonomie begreifen konnte. Symptomatisch für diese neue Zeit, wenn auch jenseits der Linken, sieht Heider die zeitgleich aufkommende harte Gewaltpornografie. Die Autorin bindet diese Entwicklung gesamtgesellschaftlich vor allem an die soziale Entsicherung der 1980er-Jahre und versteht diese Zeit als ein Jahrzehnt der Angst. Hinzu kommen im konservativen Backlash die Diskurse um AIDS, die vollends den Sex mit dem Tod verbanden, ganz so, wie es die Apologeten der libertinen Sexualität, allen voran George Bataille, propagierten. Diese Angst schien die als naiv wirkenden alten Vorstellungen von Sex als etwas Schönem und Menschlichem zu verdrängen und stattdessen mit Kriegsmetaphern zu versehen.

Mit dieser doppelten Kritik wendet sich die Autorin sowohl gegen die Zweite Frauenbewegung als auch gegen deren Gegner aus der libertinen Ecke. Beiden Seiten sei laut Heider die Sicht zu eigen, dass Sex vor allem gewaltförmig sei, egal ob man die Gewalt wie in den PorNo-Kampagnen von Alice Schwarzer verurteile, oder in Formen des SM und der Schmerzlust-Erotik begrüße. Für Heider bedeutet die Einschreibung der Gewalt in das Feld des Sexuellen die Einstimmung der Menschen auf dauerhafte, antidemokratische Kriegs- und Ausnahmezustände. Dass SM-Praktiken durchaus mit Vorstellungen von Zärtlichkeit zusammen gedacht wurden und dass Foucault in dieser Hinsicht in den USA anders als in Deutschland rezipiert wurde, wird von der Autorin wenig differenziert.

Ihre weitere Geschichtsdeutung bis zu den heutigen Tagen fällt entsprechend düster aus. Zwar begrüßt sie das Aufkommen von queerer Theorie um die Theoretikerin Judith Butler, die sich ebenfalls gegen Naturvorstellungen einer weiblichen Sexualität richtet und stattdessen ein radikales „politisches Eingreifen ermöglichen“ will. Dennoch bleibt in der ausweglosen Diskursschleife kaum Raum für eine wirkliche Utopie eines radikal anderen Lebens, wie es die Autorin am Ende der 1960er-Jahre innerhalb der damaligen revolutionär gestimmten Bewegung in zaghaften Ansätzen erspürte. Filme und Bücher wie Helene Hegemanns Roman Axolotl Roadkill, E. L. James‘ Shades of Grey oder Charlotte Roches Feuchtgebiete sind für Heider nur noch verschärftere Effekte einer Vorstellung von Sex als genuin gewaltförmig. Trauriger Höhepunkt schließlich stellt für die Autorin die „Kontrasexualität“ der gegenwärtig in akademischen Gender- und Queer-Kreisen angesagten Philosophin Beatriz Preciado dar, eine Vermischung von „de Sades Erbe mit dem des Puritanismus und einem Schuss Stalinismus […], ein Menetekel der schlimmsten Art“ (S. 275). So fällt ihr Gesamtfazit hoffnungslos aus. Es bleibt das Plädoyer für einen „neuen Befreiungsdiskurs“, in dem „kulturelle und sexuelle Revolution“ verbunden wären und „Sexualität vielleicht wieder zusammen mit Lebensfreude und Genuss gedacht werden könnte“ (S. 312).

Mit diesem Ausblick verteidigt Heider ihre eigene Geschichte und die unzähliger anderer Mitstreiter/innen gegen Angriffe gewendeter Zeitgenossen wie z.B. Reimut Reiche oder Wolfgang Kraushaar, die heute nicht davor zurückschrecken, den gesamten Komplex der sogenannten sexuellen Revolution in Begriffen des Kindesmissbrauches und der sexuellen Ausbeutung von Frauen zu denunzieren und die sexualpolitische Bewegung als unsinnige „Schuldverschiebung“ einer postnazistischen Kindergeneration oder gleich als dem Nationalsozialismus wesensähnlich zu diffamieren. 2 Heider weiß besser, sowohl biografisch als auch durch ihre sehr genaue Quellenlektüre, welches gesellschaftstransformierende Potential und welche hedonistische Ernsthaftigkeit in den Versuchen lagen, mit einer neuen Form gelebter Sexualität zu einer anderen, egalitären Gesellschaft zu kommen. Dieses Buch schließt keine Forschungslücke, sondern eröffnet sie erst. Es ist eine Aufforderung, durch die Mauer der heutigen auch akademischen Ressentiments hindurch eine ernsthafte Forschung dieser Zeit zu betreiben. Ein erster Schritt ist mit Ulrike Heiders Publikation getan – es sollte in keiner Leseliste fehlen, in der es um eine historische Auseinandersetzung mit ‚68‘ und um die Geschichte der Sexualität geht.

Anmerkungen:
1 Ulrike Heider (Hrsg.), Sadomasochisten, Keusche und Romantiker. Vom Mythos neuer Sinnlichkeit, Hamburg 1986.
2 Reimut Reiche, Sexuelle Revolution – Erinnerung an einen Mythos, in: Lothar Baier u.a. (Hrsg.), Die Früchte der Revolte. Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung, Berlin 1988, S. 45–71. Wolfgang Kraushaar, „Die befreite Gesellschaft“, in: Die Welt, 16.05.2010.

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