M. Silk u.a.: The Classical Tradition

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Titel
The Classical Tradition. Art, Literature, Thought


Autor(en)
Silk, Michael; Gildenhard, Ingo; Barrow, Rosemary
Erschienen
Chichester 2014: Wiley-Blackwell
Anzahl Seiten
XIII, 536 S.
Preis
€ 119,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Lessenich, Institut für Anglistik, Universität Bonn

Die beiden Autoren und eine Autorin, die alle 35 Abschnitte dieses mächtigen Bandes gemeinsam verfasst haben, entscheiden sich mit guten Gründen für den nicht ins Deutsche übersetzbaren Begriff 'Classical Tradition' und gegen die Begriffe 'Antikenrezeption' (reception) und 'Nachleben der Antike' (afterlife). Die griechische und lateinische Antike war durch Heterogenität, Prozessualität und Streitkultur geprägt, was eine Unterscheidung einer Antike von ihrem Nachleben nicht erlaubt. Zudem entwirft die moderne Kulturwissenschaft nur wechselnde Bilder von der Antike, die sich ebenfalls nur wechselnde Bilder von sich selbst machte. Insbesondere Jacques Lacan hat mit seiner Spiegelphasen-Theorie auf das Kulturell-Imaginäre und den Konstruktcharakter aller Selbsterkenntnis und Erkenntnis hingewiesen, und Jerome John McGann gibt zu bedenken, dass das Studium der Literatur einer Epoche durch ihre Selbstkonstitution in artes poeticae doch nur die Konstruktion einer Konstruktion ist.

Als Gilbert Highet 1949 "The Classical Tradition"1 veröffentlichte, waren solche theoretischen Ansätze der Postmoderne unbekannt, und befasste sich die Literaturwissenschaft ausschließlich mit der gebildeten literarischen Hochkultur (polite culture), den elitären litterae humaniores, ohne die Präsenz der Antike in der Volkskultur (popular culture) zur Kenntnis zunehmen. Erst der Neuhistorizismus schaffte mit seiner Demokratisierung kultureller Produkte die Hierarchie des Elitären und damit den Kanon ab. Mit dem Diskurs-Begriff wurden Gattungshierarchie und Gattungsgrenzen in Frage gestellt. Auch spielten bei Highet die griechischen und lateinischen Einflüsse auf philosophische, theologische und staatstheoretische Schriften kaum eine Rolle, geschweige denn auf die bildenden Künste. Highet verstand Western Literature im alten minimalistischen Sinne von belles lettres, wovon sich der vorliegende Band distanziert (S. 278–279). Silk – Gildenhard – Barrow begreifen Literatur nicht nur im weiteren Sinne allen Schrifttums, sondern betten sie auch in einen umfassenden kulturtheoretischen Rahmen ein. War schon Highet mit seinem Anspruch überfordert, was ihm den Vorwurf willkürlich selektiver Literaturgeschichtsschreibung eintrug, sind es Silk – Gildenhard – Barrow umso mehr. Hoch- und Volkskultur, Architektur und Malerei und Musik, Politik und Sport, Recht und Stadtplanung, romanische Sprachen und modernes Griechisch, aus dem Altgriechischen und Lateinischen entlehnte Begriffe der modernen Naturwissenschaften und deren Eindringen in die Alltagssprachen hatten in der Classical Tradition von der Antike bis zur Postmoderne ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten sowie "Reflexe" (unbewusste Auswirkungen), die auf 560 Seiten nur exemplarisch behandelbar sind, ohne Anspruch auf Historiographie. So verstanden gibt es kaum etwas, das der ununterbrochenen Classical Tradition nicht zuzuordnen wäre, und demzufolge fehlt jede Eingrenzung des Gegenstands: "Visible or invisible, the continuity remains" (S. 431).

Im Kontrast zu diesem breiten Anspruch steht, dass der Band sich auf die Classical Tradition in der anglophonen Welt sowie in Deutschland, Italien und Frankreich beschränkt. Wer sich über ihr Nachleben etwa in den Niederlanden, Polen, Spanien und Lateinamerika unterrichten will, muss nach wie vor zu Craig Kallendorfs "Companion to the Classical Tradition"2 oder Anthony Graftons, Glenn Mosts und Salvatore Settis' Enzyklopädie "The Classical Tradition"3 greifen – ebenfalls einbändigen Werken, die zwar weiter gespannt, aber doch übersichtlicher strukturiert sind.

Die Breite des postmodernen Anspruchs erklärt den verwirrenden Aufbau des vorliegenden Bandes, in dem von Lyotard geforderten Verzicht auf den grand récit, den Highet noch versuchte. Zuerst wird in einem Überblick (Teil I Seiten 1–248) mit einer Vielzahl von Abschnitten (paragraphs) versucht, die Classical Tradition modern theoriegeleitet neu zu kartographieren: Perioden, Erziehung, Autorität, Wissensvermittlung, Stilmodelle, Ethik, Erotik, individuelle Selektion, bildende Künste, Volkskultur, Sprachen, Motive, Vorzüge und Affinitäten, Übersetzung, Wissenschaft und Sensibilität, Geschichtsschreibung "and the Rest" (S. 241–248). Letzteres ist das Eingeständnis der Tatsache, dass die Classical Tradition die gesamte abendländische Kultur so durchwirkt, dass sie auch dort behandelt werden müsste, wo sie entweder nicht mehr sichtbar ist wie in Brechts "Bettleroper" oder sich programmatisch gegen sie absetzen will wie in der romantischen Forderung nach Originalität und unverfälschter Natur oder in Jackson Pollocks Spontanbildern. Aber selbst wenn der vorliegende Band auf eine Behandlung dieses Rests verzichtet, bleibt nach dem schlaglichthaften Überblick noch genug übrig, das dann unter vier Sonderaspekten mit einem Epilog abgehandelt wird (Teile II–V Seiten 249–431): Archetypen (Universalien mehr als das kollektive Unbewusste Carl Gustav Jungs) wie die Kuppel, der Held, die genera orationis und Gattungen; das Kulturell-Imaginäre wie Mythos, Rom, Weltordnung; Foucaultsche Diskursgründer im kontrastiven Paarvergleich wie Petrarca und Winckelmann, Vitruvius und Longinus, Machiavelli und Richard Wagner; schließlich Kontraste und Vergleiche einzelner Autoren in Malerei, Politik und Dichtkunst. Man hätte sich gewünscht, die übergeordneten Gesichtspunkte auf einer homogeneren Ebene mittlerer Abstraktion zu wählen und den Überblick des ersten Teils, der mehr als die Hälfte des Bandes einnimmt, unter diesen Gesichtspunkten aufzulösen.

Dass es bei der gewählten heterogenen Subsumption zu Überschneidungen kommen muss, etwa in der Behandlung politischer oder rhetorisch-poetologischer Schriften, und dass zahllose Querverweise erfolgen müssen, verwundert nicht. Begreift man die Classical Tradition so maximalistisch von den frühesten Zeugnissen griechischer Kultur bis zur neuesten Boulevardpresse, Unterhaltungsfilmindustrie und Werbetechnik, entsteht eine amorphe Masse kultureller Repräsentationen und Konflikte, die zur Leserorientierung nach einer Systematik post rem verlangt. Hier gilt ähnlich wie in Gattungskonstruktion und im Bibliothekswesen: die schlechteste Ordnung ist immer noch besser als keine Ordnung.
Dass auch in der Gestaltung der einzelnen nur wenige Seiten umfassenden Abschnitte kaum eine historisch orientierte Darstellung möglich ist, verwundert ebenfalls nicht. Einige historische Ordnungskategorien ("pre-classicizing ages" wie das Mittelalter, "truly classicizing ages" wie das Zeitalter Samuel Johnsons, "post-classicizing ages" mit Einsetzen der Romantik) werden immer wieder bemüht, strukturieren die Darstellung des Gegenstands jedoch nur ansatzweise. Jeder der in die fünf Teile subsummierten 35 Abschnitte ist ein eigenständiger Essay mit dem typisch eigenwillig assoziativen Gedankenaufbau eines Essays. Dazu passt auch der diskursive Stil von Kongressvorträgen oder Vorlesungen. Das Einzige, was diese Essays von ihrer Gattung unterscheidet, ist ihre enorme Gelehrsamkeit und oft verwirrende Datenfülle. Typisches Beispiel ist der Abschnitt 21 'The Hero', abgehandelt unter Universalien (Teil II). Auch wenn man diese Universalie auf eine maximalistisch begriffene Classical Tradition eingrenzt, den männlichen Helden von Homer über die attischen Tragödien und ciceronianschen Geschichtsgrößen sowie Shakespeare, Dryden und in der Malerei Jacques-Louis Davids 'Marat' und in der Musik Beethovens 'Eroica' sowie das Massentod-Heldentum des Ersten Weltkriegs bis hin zu den dummen Bizeps-bepackten und Sexappeal-intensiven Terminators der modernen populären Filmindustrie und kommerziellen Reklameplakate, ist eine Formgebung dieser Masse unmöglich. Hinzu kommt die Polysemie des Helden-Begriffs, so der Anti-Held und der Held als Protagonist, wobei dann noch die Heldin (Emily Brontës Jane Eyre wird genannt) nicht fehlen darf. Nur in Ansätzen wird eine historische Strukturierung dieser Vielfalt versucht (S. 273–274), etwa durch Beispiele einer graduellen Entmaskulinisierung vom Ödipus des Sophokles bis hin zu modernen feministischen Bildern von Männlichkeit, wenngleich der Herkules-Typ bis heute weiterlebt. Hier vermisst man den 'man of feeling' der Empfindsamkeits-Literatur des 18. Jahrhunderts, in dem Männlichkeit und Weiblichkeit konvergieren, sowie andererseits den femininen Dandy der Décadence mit seinem Kult der Kälte. So ist der Essay in seiner Materialfülle zwar einerseits verwirrend, andererseits notwendigerweise lückenhaft, aber äußerst anregend für weitere und besser fokussierte Forschung zum Heldentum der Classical Tradition.

Jeder einzelne der 35 Essays einschließlich der Vorworte zu jedem der fünf Teile lohnt die Lektüre, auch wenn die Erwartung häufig eine andere ist als der Titel verspricht. Abschnitt drei 'Eras' (S. 15–31) etwa lässt Ausführungen über die Problematik der unterschiedlichen Periodenkonstruktionen in der Literatur- und Kunstgeschichte und Möglichkeiten der Periodendefinitionen aus wechselnden Sichtweisen der Classical Tradition erwarten. Die Problematik wird an zahlreichen Beispielen aufgezeigt: Petrarcas 'Erfindung' eines Mittelalters, Burckhardts 'Erfindung' einer Renaissance, die schon aus der Antike übernommene Lebenszeit-analoge Unterscheidung von früh-, hoch- und spät- oder Reife und Niedergang, die wegen des allgegenwärtigen Synkretismus anfechtbare Unterscheidung von heidnisch und christlich. Das Alles ist nicht neu, und die sprunghaften Ausführungen zur Auseinandersetzung der Romantik einschließlich der vorromantischen Kulturphilosophen wie Herder und der romantischen Geschichtsschreiber wie Leopold von Ranke mit der Classical Tradition (S. 24–30) sind nicht auf den neuesten Stand der Forschung. Man denke an die Infragestellung des ancien régime, sozialer Privilegien und der litterae humaniores Griechisch und Latein an Schulen und Universitäten, die nur Männern zugänglich waren, im Zusammenhang mit dem Kampf der Vorromantiker und Romantiker gegen das Universalgültigkeit beanspruchende Monopol der Classical Tradition durch Hinzuziehen germanischer, keltischer, indischer, chinesischer Traditionen, Mythen und ästhetischen Normen sowie durch neue imaginative Mythenbildungen wie bei James Thomson, William Blake und Leigh Hunt. "The one great exception here, though, is romanticism: not a historical movement in any politico-historical or socio-historical sense […]" ist eine schlichtweg falsche Aussage (S. 24–25). In dem gesamten Abschnitt wäre auch auf nur 15 Seiten eine korrektere, systematischere und präzisere Darstellung der Epochen-prägenden Rolle der Classical Tradition in den einzelnen eras möglich gewesen.

Ein anderes Beispiel ist der Abschnitt 24 'Myth' (S. 292–305), abgehandelt unter dem Kulturell-Imaginären (Teil III). Dass Weltwahrnehmung nach Lacan Selektion und Bildmontage ist, also Welt-Bild, und dass Mythen Welt veranschaulichen, leuchtet auch ohne Theoriejargon ein. Dies erklärt aber nicht das angesprochene Problem des Überlebens insbesondere der antiken Götter bis in die Wissenschaftsterminologie und die Pop- und Kommerzkultur: den Ödipus-Komplex, die Nike-Sportkleidung, den Mars-Riegel oder die Apollo-Weltraummission der NASA. Jean Seznec hat in "La survivance des dieux antiques"4 das Überleben der antiken Götter in die Renaissance historisch nachvollzogen; der vorliegende Artikel bleibt eine solche historische (statt der angebotenen allgemein psychoanalytischen) Begründung schuldig. Sie wäre auf den 14 mit "Bulfinch's Mythology", Rowlings "Harry Potter", Eliots "Waste Land", Boccaccio, Keats, Coleridge, Kant, Hölderlin, Yeats, Racine, Sarah Kane und dazu noch Giorgio de Chirico et alii et aliae vollgepackten Seiten auch nicht schreibbar. Nichtsdestoweniger kommt man sehr materialbereichert aus der Lektüre, zum systematischeren Weiterforschen ermutigt, erinnert an ein berühmtes Zitat aus Eliots "Waste Land": "These fragments have I shored against my ruin".

Als letztes Beispiel für die Vorzüge und Nachteile des Bandes sei Abschnitt 31 'Ideas and Action' genannt, abgehandelt unter Diskursgründern im Paarvergleich (Teil IV 'Making a Difference'). Das schon in der Antike etwa vom verbannten Cicero durchdachte Verhältnis von vita activa und vita contemplativa in einem Vergleich von Machiavelli und Richard Wagner abzuhandeln, mutet selbst dann kühn an, wenn man bedenkt, dass die drei Autoren Macht besaßen, Macht verloren und aus der Erfahrung der Verbannung Macht reflektierten. Machiavellis Auseinandersetzung mit Cicero und Livius sowie seine wechselnde politische Sympathie im Principe und den Discorsi sind zum mindesten Romanisten zur Genüge bekannt, nicht jedoch die Verflechtung der germanischen und keltischen Mythen sowie mittelalterlicher Geschichte verpflichteten Wagner in der Classical Tradition. In der Tat verfasste der junge, noch republikanischen Idealen anhängende Komponist im Sommer 1849 in Dresden eine Schrift "Die Kunst und die Revolution", gefolgt im Züricher Exil von "Das Kunstwerk der Zukunft" (1850) und "Oper und Drama" (1852)5, die seine Orientierung am griechischen Drama offenbaren, besonders an der Orestie-Trilogie des Aischylos. Es ist wenig bekannt, dass Wagners Konzept eines Gesamtkunstwerks und insbesondere seines "Ring des Nibelungen" von seiner Konstruktion einer Aischylos-zeitlichen Athenischen öffentlichen Kunst und kommunaler Mythenschöpfung inspiriert ist, also nicht nur aus romantischer Esemplasie und Lacanschem Ganzheitsstreben erklärt werden muss. Dazwischen schweift der Essay nach langen Werkaufzählungen in Wagners wechselnde philosophische Loyalitäten ab, von Ludwig Feuerbach zu Schopenhauer und Nietzsche – sowie dem zum Scheitern verurteilten Versuch, diese Positionen in einem Weltbild zu versöhnen. Das alles ist sehr informativ, gar spannend zu lesen. Fragt man sich am Schluss des Essays, was der Vergleich von Machiavelli und Wagner für das bessere Verständnis beider Autoren gebracht habe, kommt man trotz Bereicherung zu keinem Resultat. Ähnliches gilt für den Vergleich der staatstheoretischen Schriften von Karl Popper, Leo Strauß und Hannah Ahrendt (S. 402–410) oder der poetologischen Äußerungen mit den dichterischen Praktiken von Milton, Tennyson und T.S. Eliot (S. 411–426). Die Classical Tradition ist und bleibt ein unermesslicher Fundus, aus dem sich jede Periode und oft genug jeder Autor steinbruchartig anders bediente (siehe Teil I Abschnitt 10 'Special Relationships').

Der vorliegende Band bietet eine postmodern auf Geschichtserzählung weitgehend verzichtende, bewusst desorientierende, in ihrer verwirrenden Datenfülle bestens recherchierte, in einzelne Essays zersplitterte Neudarstellung der Classical Tradition. In jedem Falle ist jeder einzelne Essay – isoliert in seiner Exemplarität – lesenswert und anregend, wobei auch ein mit der Materie vertrauter Leser mehr als einen Essay pro Tag nicht aufnehmen kann.

Anmerkungen:
1 Gilbert Highet, The Classical Tradition. Greek and Roman Influences on Western Literature, Oxford 1949.
2 Craig W. Kallendorf (Hrsg.), A Companion to the Classical Tradition, Blackwell Companions to the Ancient World 18, Oxford 2007.
3 Anthony Grafton / Glenn W. Most / Salvatore Settis (Hrsg.), The Classical Tradition, Cambridge Mass. 2010.
4 Jean Seznec, La survivance des dieux antiques, Studies of the Warburg Institute 11, London 1940.
5 Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen, Leipzig 1911.

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