C. Wünsch u.a. (Hrsg.): Handbuch Medienrezeption

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Titel
Handbuch Medienrezeption.


Herausgeber
Wünsch, Carsten; Schramm, Holger; Gehrau, Volker; Bilandzic, Helena
Erschienen
Baden-Baden 2014: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Göttlich, Lehrstuhl für Allgemeine Medien- und Kommunikationswissenschaft, Zeppelin Universität Friedrichshafen

Handbücher versprechen einen geschlossenen Überblick über ein Forschungs- oder Problemgebiet. Selten sind Forschungsgebiete aber in sich geschlossen. Die Rezeptionsforschung ist ein multi- und interdisziplinäres Feld, das keineswegs nur einer Disziplin vorbehalten ist. In ihrer Entstehung verweist die Rezeptionsforschung auf unterschiedliche Problemhorizonte, angefangen bei der Literatur über das Theater, die Musik und das Kino bis hin zu den Medien der Massenkommunikation, also der Presse, dem Radio, dem Fernsehen und den neuen digitalen Medien. Nicht ohne Grund lassen sich daher eine literatur- und kulturwissenschaftliche Erforschung der Medienrezeption von einer pädagogischen, soziologischen, psychologischen sowie kommunikationswissenschaftlichen Ausrichtung unterscheiden. Diese unterschiedlichen Zugänge haben sowohl fachgeschichtliche als auch gegenstandsspezifische Gründe, und die Medienrezeptionsforschung wurzelt zweifelsohne auch in der Literatursoziologie. Aber diese Verbindung ist schon lange nicht mehr präsent.

Betrachtet man das vorliegende Handbuch vor diesem verzweigten Hintergrund, so ist mit Medienrezeption hier vor allem eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive gemeint, die durch die thematische und inhaltliche Ausrichtung der meisten der insgesamt 26 Beiträge zudem einen deutlichen (medien-)psychologischen Zuschnitt aufweist, sowohl in theoretischer als auch in methodischer Hinsicht. Die Behandlung und Analyse der Rezeption in diesem Handbuch nimmt ihren Ausgang somit von deutlich spezifischen, bisweilen einseitigen psychologischen Aspekten, Faktoren und Problemstellungen. Rezeption wird hier überwiegend als von psychischen Motiven und Voraussetzungen mitbestimmt angesehen.

Diese Einengung der Rezeptionsforschung auf psychologische Aspekte oder Fragen hat eine spezifische Tradition in der Kommunikationswissenschaft und auch im Kreis der Fachgruppe „Rezeptions- und Wirkungsforschung“ der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK), auf den sich die vier Herausgeber beziehen und stützen. Jedoch wird dem Leser die Genese dieses typischen Zugriffs bis auf einige kryptische Floskeln über die Abgrenzung der Wirkungs- von der Rezeptionsforschung (vgl. S. 5) keineswegs theoretisch begründet dargelegt. Zugleich unterbleibt auch eine Auseinandersetzung damit, wie sich die überwiegend hilfswissenschaftliche Beleihung der Psychologie zur Entwicklung einer eigenständigen kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung verhält, die international gesehen breiter und auch heterogener ausfällt als in dem vorliegenden Handbuch dargelegt. Die Begründung, dass sich Wirkungsforschung mit mittel- bis langfristigen Medieneffekten befasst, während die Rezeptionsforschung von Fragen der unmittelbaren Auswahl und Zuwendung bis hin zu Aneignung reicht, überzeugt jedenfalls weder fachgeschichtlich noch theoretisch (vgl. S. 5). Und schon gar nicht, wenn man die Perspektive des Handbuchs in den einleitend dargestellten Entwicklungsrahmen der Rezeptionsforschung stellt.

Mit dieser Anlage des Handbuchs wird dem angezielten „breiten Fachpublikum aus „Kommunikationswissenschaft und angrenzenden Disziplinen“ (S. 5) sowie studentischen aber auch fachfremden Lesern leider kein theoretisch elaborierter oder begründeter Schlüssel für die Auswahl der jeweiligen, fast schon an Lemmata erinnernden 26 Beiträge an die Hand gegeben. Auch die weitere Anordnung der Artikel in den vier Hauptkapiteln: „I. Grundlagen der Rezeption“ (S. 13–80), „II. Selektion und Zuwendung“ (S. 83–173), „III. Phänomene und Erlebnisweisen“ (S. 177–320), „IV. Kontexte der Rezeption“ (S. 323–423), wird nicht weiter erläutert. Dass es auch semiotische, diskursanalytische sowie ideologiekritische und sozial-konstruktivistische, auf das Textverstehen und die Bedeutungsproduktion abhebende Traditionen der Medienrezeptionsforschung gibt, davon wird in der Konzeption des Handbuchs sogar gänzlich abgesehen. Und wenn Probleme wie z.B. das der Handlung, doch einmal im Zentrum stehen, wie im Beitrag von Denise Sommer (S. 45–60), dann dringt der Versuch einer notwendigen Unterscheidung von Verhalten und sozialem Handeln nicht in die übrigen, sich auf psychologische Theorien stützende Artikel ein bzw. wird dort nicht weiter aufgenommen. Das ist symptomatisch für das Handbuch, in dem die derzeit dominante psychologisch geprägte kommunikationswissenschaftliche Sichtweise unhinterfragt bleibt, auch wenn einige der Artikel – zu „Diffusion und Domestizierung“ (S. 83–98) oder „Alltag und Routinen“ (S. 99–112) sowie „Kultur“ (S. 395–409) – über diese Perspektive hinauszublicken suchen.

Der (medien-)psychologische Zuschnitt des Handbuchs erklärt schließlich auch, weshalb von einer tiefer gehenden Behandlung einschlägiger Theorien oder Modelle – wie z.B. dem dynamisch-transaktionalen Ansatz, dem Modell der parasozialen Interaktion mit seinen Spielarten oder dem Referenzmodell der Mediennutzung, aber auch dem grundlegenden verhaltenstheoretisch ausgerichteten Uses and Gratifications Approach und weiteren einschlägigen Modellen – abgesehen werden kann. Diese Rezeptionsmodelle sind dem psychologischen Kontext derart inhärent, dass sie mit Blick auf das angezielte Fachpublikum offenbar erst gar nicht zur weiteren Behandlung ausgeschrieben werden müssen. Dadurch aber bleiben viele Fragen zur Entwicklung von Modellen der Rezeptionsforschung in dieser Tradition und der dahinter stehenden Theorien für das interessierte breite Fachpublikum offen, was der notwendigen Einordnung in den interdisziplinären Rahmen der Rezeptionsforschung somit im Wege steht.

Gehen wir exemplarisch auf die Inhalte der ersten vier Beiträge ein, so finden sich in dem Beitrag zur „Kognition“ (Jörg Matthes) vorwiegend Fragen von Wahrnehmungsschemata in psychologischer Perspektive behandelt, in dem Artikel zu „Emotionen“ (Werner Wirth) wird deren Rolle auf begrifflicher und theoretischer Ebene beleuchtet und in dem schon erwähnten Beitrag „Handlung“ (Denise Sommer) findet sich eine Auseinandersetzung mit psychologischen und soziologischen Handlungstheorien. Der Beitrag von Jens Woelke zu „Kanalspezifika“ als Voraussetzung der Rezeption bzw. Wahrnehmung von Medieninhalten wäre wegen der Kontextdimensionen sogar sinnvoller im vierten Kapitel behandelt worden. Bei der deutlich hervorzuhebenden profunden Kenntnis aller Beiträge des Handbuchs ist auffällig, dass der Textaufbau und damit die Behandlung der jeweiligen Aspekte oder Gegenstände nicht aus der Perspektive der Rezeptionsforschung mit ihren jeweiligen Problemen erfolgt, sondern dass die Begriffe zunächst aus vorwiegend psychologischer Perspektive dargestellt und verhandelt werden und erst in einem weiteren Schritt, in den Artikeln zudem auf uneinheitliche Art und Weise, auf Medienrezeption appliziert werden. Dies wirkt schlechterdings nur additiv und mitunter auch beliebig. Exemplarisch lässt sich das am Text von Werner Wirth verdeutlichen. Erst im letzten kurzen Unterkapitel des Beitrags, das mit „Affektforschung in der Rezeptions- und Wirkungsforschung“ (S. 38) überschrieben ist, wird dezidiert ein Bezug zur Medienrezeption hergestellt. In den übrigen Unterkapiteln des Beitrags werden zwar kurze wechselseitige Bezüge aufgezeigt, die aber konzeptuelle Fragen der Rezeptionsforschung offen lassen. Dieser Aufbau zieht sich trotz inhaltlicher Abweichungen durch alle an psychologischen Fragen und Problemen orientierten Beiträge. Am Ende eines jeden Beitrags finden sich dann ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie, in einem gesonderten Kasten, besondere Literaturempfehlungen des Autors.

Im zweiten Kapitel wird das Thema der „Selektion und Zuwendung“ in weiteren sechs Beiträgen behandelt. Einige Inhalte überschneiden sich in gewissem Sinne mit dem vierten Kapitel, in dem sieben Beiträge die „Kontexte der Medienrezeption“ behandeln. Gerade „Domestizierung“ in dem Artikel von Maren Hartmann aber auch „Alltag und Routine“ in dem Beitrag von Ralph Weiß hätten diesem letzten Kapitel ohne Probleme zugeschlagen werden können. Mit Gewinn zu lesen sind beide Beiträge. Die psychologische Problemstellung von „Selektion und Zuwendung“ wird unter den Einträgen „Einstellung“ (Merja Mahrt), „Persönlichkeit“ (Andreas Fahr), „Motivation“ (Marco Dohle) und „Stimmung“ bzw. Mood Management (Holger Schramm) behandelt.

Das dritte Kapitel richtet seinen Fokus dann auf „Phänomene und Erlebnisweisen“, womit die unmittelbare Frage der Bedeutungsproduktion und Aneignung angesprochen ist, die erneut allein mit dem Fokus auf psychologische Zugänge behandelt wird. „Urteilsbildung und Bewertung“ (Christian Schemer), „Verstehen“ (Stephan Schwan), „Emotionales Erleben“ (Anne Bartsch) sowie „Empathie und Identifikation“ (Carsten Wünsch) neben „Parasoziale Interaktion und Vergleich“ (Uli Gleich) oder „Spannung“ (Matthias R. Hastall), „Immersion“ (Helena Bilandzic) und die Frage des „Realismus und dessen Wahrnehmungsvoraussetzungen“ (Özen Odağ) sowie schließlich „Ästhetisches Erleben“ (Monika Suckfüll) werden detailliert behandelt. Zwar kommen Fragen des ästhetischen Erlebens in der Medienrezeption vermehrt eine bedeutendere Rolle zu, jedoch werden in diesem Handbuch solche Problemstellungen durch die inhaltliche Anordnung der kleinteiligen, sich vielfach inhaltlich auch überschneidenden aber dennoch unverbunden nebeneinander stehenden Artikel leider nicht weiter ersichtlich. Was der aktuelle Entwicklungsstand der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung ist, bleibt gerade auch durch diese Textanordnung offen.

Das vierte Kapitel „Kontexte der Rezeption“ versucht wahrscheinlich auch deshalb eine Verortung der zuvor behandelten Dimensionen und Aspekte in ‚kulturelle’ und ‚soziale’ Zusammenhänge, welche die Rezeption mitbestimmen. Folgerichtig geht es um Hintergründe und Rahmenbedingungen der Rezeption, die sich etwa mit Blick auf Lebensphasen unterschiedlich ausprägen (Elizabeth Prommer). Daneben finden sich spezielle Engführungen mit Blick auf Menschen mit physischen und psychischen Einschränkungen und deren Rezeptionsweisen (Nina Haferkamp). Einflüsse von Gruppen als Bezugspunkte der Rezeption (Volker Gehrau) und Rezeption in öffentlichen Räumen (Joachim R. Höflich) sind weitere Randbedingungen oder Kontextfaktoren, die spezifiziert werden mit Fragen zur Vergemeinschaftung durch Medienrezeption (Andreas Hepp) oder generelle kulturvergleichende Aspekte und Herausforderungen (Uwe Hasebrink) sowie einem historischen Überblick über den Wandel der Medienrezeption seit dem 18. Jahrhundert unter dem Stichwort „Epoche“ von Stefanie Averbeck-Lietz.

Mein Fazit über das Handbuch fällt zwiespältig aus. Betrachtet man es aus der Perspektive der Kommunikationswissenschaft, so ist das Moment des additiven und unverbundenen vordergründig, wodurch der gegenwärtige internationale Entwicklungsstand der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung nicht zum Tragen kommt. Sieht man das Handbuch aus der Perspektive eines interessierten Publikums aus verwandten Bereichen der Rezeptionsforschung, so finden sich jenseits der psychologischen Konzepte kaum theoretische Verbindungspunkte für eine interdisziplinäre Erweiterung oder Verbindung. Für medienkulturwissenschaftliche Perspektiven, die sich etwa für die Erforschung historischer oder semiotischer Rezeptionsphänomene interessieren, ergibt sich daraus eine fehlende Anschlussfähigkeit. Für Fachstudenten der Kommunikationswissenschaft ist das Handbuch zweifellos eine wichtige Ressource zur Orientierung über die psychologische Forschungsliteratur. Aber auch für diese Gruppe vermittelt es keine Beispiele, welche die Leistungen der Rezeptionsforschung für die Erklärung der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutungsproduktion durch Medien aufzeigen.

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