M. Pasdzierny: Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben

Cover
Titel
Wiederaufnahme?. Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben nach 1945


Autor(en)
Pasdzierny, Matthias
Reihe
Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit
Anzahl Seiten
983 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alfons Söllner, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz

Dieses Buch, als Dissertation an der Berliner Universität der Künste entstanden, ist nicht nur aufgrund seines Umfangs ein Schwergewicht, wie schon der 300-seitige Anhang zeigt: Dieser enthält unter anderem die gut recherchierten Biografien der Musikschaffenden, die, vom Hitler-Regime ins Exil getrieben, als „musikalische Rückkehrer“ identifiziert werden konnten. Allein der Blick in diese Personengalerie, die mit Paul Abraham beginnt und mit Eduard Zuckmayer endet, zeigt die fachliche Bandbreite der Komponisten, Dirigenten, Sänger, Instrumentalisten und Musikpädagogen, aber auch die Schwierigkeit, das Schicksal dieser Kohorte aus den politischen Verwerfungen der Epoche herauszudestillieren. Der nüchternen Statistik zufolge sind in die westlichen Besatzungszonen bzw. nach Westdeutschland (ohne Berlin und DDR!) dauerhaft oder temporär immerhin ca. 260 Musikschaffende zurückgekommen – keine geringe Zahl also, die das Musikleben der Bundesrepublik maßgeblich mitgestaltet, auf der anderen Seite aber doch nur ca. 15 Prozent derer ausgemacht hat, die vor 1945 aus Hitler-Deutschland vertrieben worden waren. Was heißt das für die Auslotung eines bislang wenig bekannten kulturpolitischen Feldes der deutschen Nachkriegsgeschichte, für das die musikalischen Remigranten gleichsam als Schlüssel dienen?

Es geht um eine langwierige und verwickelte, vor allem aber um eine politisch verminte Geschichte: Aus künstlerischen Karrieren, aus musikalischen Kompetenzen und Ambitionen wurden Lebensläufe, die sich ohne Bezug auf die politischen Brüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert nicht erzählen lassen. Es macht die Qualität der vorliegenden Arbeit zur westdeutschen Musikgeschichte nach Hitler aus, dass sie mit derartigen Ambivalenzen und Widersprüchen produktiv umzugehen vermag. Der Musikwissenschaftler Matthias Pasdzierny stellt eine „starke These“ auf: Er spricht von der „vergangenheitspolitischen Sonderrolle der Musikkultur für den ideellen Wiederaufbau in Westdeutschland“, die einen vermeintlich „unpolitischen Raum der Versöhnung, aber auch einen der wenigen vermeintlich unbeschädigten Kernbestände deutscher Identität“ zur Verfügung stellte (S. 9, S. 14). Damit wird das für die Exilforschung verbindlich gewordene Akkulturationskonzept folgenreich modifiziert: Remigration und Rückwirkung nach 1945 treten in jene kulturpolitische Konfliktzone ein, von der die deutsche Nachkriegsgeschichte durchgehend geprägt war – die Frage der „Vergangenheitsbewältigung“.

Das erste Kapitel des Buches ist so etwas wie eine Ouvertüre, in der zentrale Topoi der „musikalischen Vergangenheitspolitik“ durchgespielt werden. Sehr geschickt arbeitet der Autor an den „Trümmerkonzerten“ und am populären Film „Botschafter der Musik“ (1951) heraus, wie von der „Stunde Null“ bis weit in die 1960er-Jahre hinein als Leitthema präsent blieb, aber auch variiert wurde, dass in der „Universalie Musik“ und besonders in ihrer klassischen Tradition so etwas wie das unzerstörbare „deutsche Wesen“ verkörpert sei – wodurch ihr politischer Missbrauch entweder von vornherein als ausgeschlossen galt oder sie zumindest im Nachhinein als Unterpfand zur Verfügung stand, aus dem Trost und Vergessen zu gewinnen seien. Die kurz vorher verübten Brutalitäten von Vertreibung und Völkermord, aber auch deren Fortwirken in den Disputen zwischen „inneren“ und „äußeren Emigranten“, schließlich die aktuellen Fragen von Wiedergutmachung und Rückberufung schienen damit in die Watte eines „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe) eingepackt zu sein, das zu zerreißen der Verfasser sich vornimmt.

Dieses kritische Unternehmen kommt gut auf den Weg, nicht zuletzt durch die passende Auswahl der Beispiele. So zeigt Pasdzierny im zweiten Kapitel, dass deutsche Behörden und Institutionen zwar konkrete Rückberufungen betrieben, dass diese aber meist nur an die wirklich Prominenten wie Paul Hindemith gerichtet waren, während sich etwa die Frankfurter Verhandlungen mit Ernst Krenek endlos hinzogen (was ihn nicht daran hinderte, als Vertreter der Zwölfton-Komposition bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt präsent zu sein). Dienten bei der Mehrzahl der weniger Prominenten angeblich „rein künstlerische Qualitätsbewertungen“ häufig als Vorwand, um legitime Rückkehransprüche abzuwehren, so verblieben selbst die „ersten Konzerte“, bei denen „rassisch vertriebene“ Dirigenten wie Otto Klemperer oder Fritz Busch mit dem Konzertpublikum ein enthusiastisches Comeback feierten, im Zwielicht von Verdrängung und Wiedergutmachung. Ambivalenzen wie diese zu dokumentieren und subtil zu interpretieren macht es möglich, die umstrittene These vom „kommunikativen Beschweigen“ auf dem Feld der Musikgeschichte sowohl zur Anwendung zu bringen als auch kritisch zu modifizieren: Die Rückkehr aus dem Exil war in jedem Fall ein konflikthafter, aber auch kommunikationsvermittelter Aushandlungsprozess eines kollektiven Geschehens (vom Emigranten und Exilforscher David Kettler mit dem Konzept des „bargaining“ beschrieben1).

Das dritte Kapitel – mit über 300 Seiten der Schwerpunkt des Buches – dokumentiert den konstruktiven Beitrag der Remigranten zur Musikkultur in der Bundesrepublik und ist damit insgesamt positiver gestimmt. Jetzt lässt der Verfasser die bisher vorherrschende Einzelfallbetrachtung hinter sich und begibt sich auf die Ebene der Institutionen. Dabei sind zunächst die staatlichen Musikhochschulen und Konservatorien zu nennen, von denen Pasdzierny einen instruktiven Überblick gibt, indem er auflistet, welche Remigranten zu welcher Zeit und mit welcher Verbindlichkeit (Dauer- oder befristete Anstellung) dort an der praktischen Musikerausbildung mitgewirkt haben. Zeigt sich hier eine gewisse Präsenz von Remigranten an nahezu allen Musikhochschulen, so stechen schon quantitativ vor allem drei Städte hervor: München, Stuttgart und vor allem Köln, das als „Zentrum der Rückkehr aus der Emigration“ erscheint (S. 328).

Ein ähnlich geschichtetes, aber ebenfalls positives Bild ergibt sich aus der Analyse der westdeutschen Rundfunksender: Waren Remigranten in ihnen schon deswegen präsenter, weil die Funkhäuser zumindest in der Aufbauphase der Kontrolle durch die Besatzungsmächte ausgesetzt waren, so finden sich zum Beispiel in den Musikabteilungen des Südwestfunks Baden-Baden gleich drei Emigranten in prominenter Position. Und aus den Archiven des (N)WDR Köln lässt sich im einzelnen belegen, dass dort über die ganzen 1950er- und 1960er-Jahre hinweg mit einer Vielzahl von Emigranten und Remigranten nicht nur Kontakt gepflegt wurde, sondern dass sie immer wieder entscheidenden Einfluss auf die Programmgestaltung nahmen. Dazu zählten zum einen die legendären musikalischen Nachtprogramme, zum anderen auch ganze Serien von Aufführungen und Emigranten-Dirigaten sowie nicht zuletzt Auftragswerke für die „Neue Musik“. Stilbildend wurden in diesem Kontext die Konzerte unter Hermann Scherchen, der bereits ab 1947 die Darmstädter Ferienkurse maßgeblich mitgeprägt hatte.

Der am meisten aussagekräftige Stoff des ganzen Buches kommt im Kapitel III.2 zur Darstellung. Mit den Bayreuther Festspielen und der „deutschen Jugendmusik“ treten die beiden „Bewegungen“ in den Vordergrund, deren vergangenheitspolitische Brisanz deswegen am größten war, weil sie sich am tiefsten mit dem NS-Regime eingelassen hatten. Dementsprechend stark und emotional aufgeladen mussten sowohl die Widerstände als auch die gegenläufigen Anstrengungen sein, ihnen das Überleben in die Bundesrepublik hinein zu sichern. Dass dies möglich war, ist bekannt. Aber wie es möglich wurde, das erklärt Pasdzierny unter anderem durch raffinierte Allianzbildungen zwischen den (häufig belasteten) „Dagebliebenen“ auf der einen und den (unbelasteten) Rückkehrern auf der anderen Seite – eine Konstellation, für die er die instruktive Kapitelüberschrift „Auf dem Tandem“ gewählt hat.

Es bereitet geradezu ein detektivisches Vergnügen, im Einzelnen nachzuvollziehen, wie in dem heftigen Tauziehen zwischen den Generationen des Wagner-Clans, den Bayreuther Lokalpolitikern und der zunächst keineswegs willigen bayerischen Kultusbürokratie am Ende einem versöhnungseifrigen Remigranten, nämlich Karl Würzburger, die Schlüsselrolle für die Wiederöffnung der Festspiele im Jahr 1951 zufiel, ebenso wie für deren künstlerische Neuorientierung zwei weitere Remigranten bedeutsam wurden – Erich Engel und Hermann Weigert –, und zwar ausgerechnet durch den vermittelnden Rückgriff auf Interpretationstraditionen vor 1933. Mussten die Ergebnisse solcher „Musikdiplomatie“ gleichsam den Augen einer internationalen Öffentlichkeit standhalten, so konnten sich die Vertreter der Jugendmusik flächendeckender und geräuschloser in die Bundesrepublik integrieren, selbst wenn es an prominenten Gegenstimmen nicht fehlte (wie der mahnenden von Adorno oder der aggressiven von Heinz-Klaus Metzger). Und vielleicht ist es zuviel des Exemplarischen, wenn im absichtsvollen Doppelportrait eines musikpädagogischen NS-Karrieristen (Wolfgang Stumme) und einer 1933 geborenen jüdischen Remigrantin, die es in den 1990er-Jahren bis zur Vizepräsidentin des Deutschen Musikrates brachte (Lore Auerbach) die ausschlaggebende Tandemstruktur für die Kontinuität des „deutschen Musizierens“ vom „Singkreis“ bis zu den (gegenwärtig wieder bedrohten) Kreismusikschulen identifiziert wird.

Die weiteren Teile des dritten Hauptkapitels stehen unter dem weniger rigiden Motto „Parallelwelten“ und beleuchten drei eher marginale Orte der westdeutschen Musikgeschichte: die zeitweilige Erfolgsgeschichte des „Seventh Army Symphony Orchestra“, die Internationalen Jugendmusikwochen auf Schloss Weikersheim sowie die modernistische Wendung der völkischen Lebensreformbewegung um Johannes Müller auf Schloss Elmau. Dass hier einzelne Remigranten zu prägenden Figuren werden konnten, ist entweder auf den mehr oder weniger durchschlagenden politischen Kontext zurückzuführen oder ging mit der allgemeinsten aller kulturellen Tendenzen in Westdeutschland konform: mit der schrittweisen Öffnung auch der Musikkultur nach außen, mit dem, was man heute ihre Internationalisierung nennen würde. Als regionale Variation dieses Themas wird abschließend das Saarland behandelt, das, durch die französische Besatzungsherrschaft zum „Emigrantenstaat“ gemacht, auch in der Musikpolitik zeitweilig auf die Annäherung zwischen deutscher und französischer Ausbildung setzte.

Was ist Musikkultur, was Kulturpolitik oder gar politische Kultur? Matthias Pasdziernys Buch gibt auf diese Fragen keine theoretische Antwort, sondern demonstriert an einer Fülle von Beispielen, wie vielfältig, widersprüchlich oder auch destruktiv sich die genannten Pole zueinander verhalten können. So erweist sich die in der Einleitung beschworene „Schnittstelle zwischen Musikwissenschaft, historischer Migrationsforschung und Zeitgeschichte“ (S. 13) als ein Vermessungspunkt, um in die Gründerjahre der westdeutschen Musikgeschichte begehbare Pfade einzuzeichnen. Die Biographien der emigrierten und remigrierten Musikschaffenden werden nicht nur nach ihrer fachlichen Leistung sowie nach Recht und Unrecht bilanziert, sondern erweisen sich als sensible Sonden, um das weite und reiche Feld zwischen Politik und Kultur zu beackern. Eine ausgewogene Musikgeschichte der Bundesrepublik ist dies natürlich noch nicht, aber es wird interessant sein, wie sich das Gesamtbild noch einmal verändert, wenn Berlin und die DDR hinzutreten – letztere kam bekanntlich viel stärker und expliziter als „Remigrantenstaat“ auf den Weg.

Anmerkung:
1 Siehe etwa Detlef Garz / David Kettler (Hrsg.), Nach dem Krieg – Nach dem Exil? Erste Briefe / First Letters. Fallbeispiele aus dem sozialwissenschaftlichen und philosophischen Exil, München 2012.