V. Sellin: Das Jahrhundert der Restaurationen

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Titel
Das Jahrhundert der Restaurationen. 1814 bis 1906


Autor(en)
Sellin, Volker
Erschienen
München 2014: de Gruyter
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Nolte, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Volker Sellin will die deutsche und europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts gegen den Strich bürsten. Zeitalter der Revolutionen, der liberalen Verfassungsbewegung, des „von unten“ erkämpften demokratischen Fortschritts? Gegen solche konventionelle „Whig History“ zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg setzt der Heidelberger Neuzeithistoriker jedoch keine kulturgeschichtliche Sichtweise und entwickelt keine postmoderne Auflösung der Meistererzählung in ein Bild fragmentierter Widersprüchlichkeit. Vielmehr bleibt er den klassischen Kategorien der Deutung dieser Epoche treu – man könnte sagen: er stülpt sie um und wertet dabei die klassischen politikgeschichtlichen Narrative und verfassungstheoretischen Argumente auf. Zumal für die deutsche Geschichte, aber darüber hinaus für weite Teile Kontinentaleuropas ließ sich das 19. Jahrhundert in der Abfolge der „Großen R“ erzählen: Revolution – Reform – Restauration – wieder Revolution (nämlich 1830 und 1848/49) – Reaktion – Reichsgründung. In liberaler wie in marxistischer Sichtweise (zum Beispiel in Eric J. Hobsbawms Trilogie zum 19. Jahrhundert) vollzog sich diese Entwicklung nach dem Schema „zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück“: Das Drängen auf Fortschritt aus Revolution und sozialer Bewegung wurde immer wieder von den traditionellen Kräften abgebremst, ohne sich doch ganz aufhalten zu lassen.

Nicht so bei Volker Sellin. Für ihn ist die Restauration, nicht die Revolution der Schlüssel zur europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, und die Monarchie des Gottesgnadentums der zentrale Akteur. Bereits in zwei früheren Büchern hat Sellin, konzentriert auf die ursprüngliche, antinapoleonische Restauration von 1814 sowie auf die Institution der Monarchie, das zu zeigen versucht.1 In diesem schlanken Buch, von ihm selber als „Essay“ bezeichnet (S. 14), spitzt er seine These begrifflich-theoretisch zu und führt sie an sechs Fallbeispielen vor, denen jeweils ein Kapitel von rund zwanzig Seiten gewidmet ist: Frankreich 1814, Polen 1815, Deutschland 1815–1848, Spanien 1834, Italien 1848 sowie Russland 1906. Nicht anders, mit Land und Jahreszahl, sind die Kapitel ganz lakonisch überschrieben. So entsteht ein beeindruckend weites Panorama europäischer Geschichte, das von Madrid bis St. Petersburg den Kontinent umgreift und sich dabei (mit der gewissen Ausnahme des Deutschland-Kapitels) auf einen Schlüsselmoment konzentriert. Dieser Moment lässt sich für Sellin, dem Oktroi der „Charte constitutionelle“ durch Ludwig XVIII. folgend, präzise bezeichnen als die Gewährung einer Verfassungsurkunde (Konstitution) und eines Parlaments (Repräsentation) durch monarchischen Oktroi und unter Wahrung bzw. Wiederherstellung der monarchischen Alleinsouveränität. Restauration reagiert auf revolutionäre Bedrohung, auf „Krisen der monarchischen Legitimität“ (S. 10). Diese Restauration aber, das ist die beinahe schon geschichtsphilosophische Pointe Volker Sellins, blockierte nicht die Verfassungs- und Freiheitsentwicklung ihrer Nationen, sondern machte sie überhaupt erst möglich. Immer wieder beruft er sich dabei auf den von Joseph Maria von Radowitz 1850 verwendeten Begriff der „organischen Restauration“ (S. 13): Im unbedingten Festhalten am monarchischen Standpunkt wird der Konstitutionalisierung als evolutionärem Prinzip die Tür geöffnet. Das ist eine diskussionswürdige, wenn auch keineswegs ganz neue These, deren quasi-hegelianische Überhöhung Sellin sich allerdings besser sparen sollte: „Durch den Oktroi einer Verfassung wurde Restauration zu einem Akt, der dem Fortschritt der Freiheit diente“ (S. 138), zumal seine eigene Strategie der Plausibilisierung in den sechs Fallstudien ganz auf eine dichte, empirische politische Ereignisgeschichte setzt, hinter der die analytischen Kategorien wieder in den Hintergrund treten.

Die zugespitzte Begriffsdefinition und die Thesenstärke gehören ebenso zu den Vorzügen dieses Buches wie die kompakt und informativ geschriebenen Fallstudien, in denen jedoch, angesichts der These kaum verwunderlich, die Dynamik der sozialen Bewegungen und gesellschaftlichen Akteure etwas blass im Hintergrund bleibt. Das Beispiel Russlands in seiner ersten Revolution von 1905 fällt aus dem zeitlichen und sachlichen Rahmen heraus, denn in den anderen fünf Fallstudien ist der unmittelbare historisch-genetische Zusammenhang evident: nämlich der Nexus zu Französischer Revolution und Napoleonischer Herrschaft, bzw. zu den wiederum von Frankreich ausgehenden europäischen Folgerevolutionen von 1830 und 1848. Und man könnte fragen, wie sich die Überlegung vom monarchisch-restaurativen „Freiheitsfortschritt“ zu denjenigen Monarchien Europas verhält, die aus der Sicht der Geschichte des 20. Jahrhunderts viel eher als die von Sellin behandelten ein Bündnis mit der Demokratisierung eingingen (und nicht zuletzt deshalb bis heute überlebten, in Großbritannien, den Niederlanden und Belgien sowie in Skandinavien). Noch profunder und anregender läse sich das Buch, wenn Sellin einschlägige ältere und neuere Forschungen einbezogen hätte. So fühlt man sich ständig an die alte Kontroverse um die konstitutionelle Monarchie erinnert: eigenständiger Verfassungstyp (Ernst-Rudolf Huber2) oder instabiles Transitorium (Ernst-Wolfgang Böckenförde)?3 Die Forschungen von Martin Kirsch zum monarchischen Konstitutionalismus Europas im 19. Jahrhundert sind nicht herangezogen worden.4

Bemerkenswert ist, mit welcher geradezu dezisionistischen Entschlossenheit Volker Sellin seine Definition von „Restauration“ zu Grunde legt. Wenn man ihm darin folgt, werden viele seiner Beobachtungen plausibel. Aber man bewegt sich dann in einem engen verfassungspolitischen Horizont, der die weitere politische, gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung von „Restauration“ ausblendet, wie sie nicht nur in großen Teilen der Historiographie verwendet wird, sondern auch für die Zeitgenossen weithin geläufig war. Trotz der europäischen Fallstudien spielt das internationale System der Restauration, das sich zwischen 1815 und 1820 etablierte, bis zur Julirevolution 1830 bestand und sogar bis 1848 die große Provokation der liberalen und radikalen Bewegungen überhaupt blieb, in diesem Buch fast keine Rolle: das „System Metternich“, die Karlsbader Beschlüsse, die Wiener Schlussakte von 1820. Mit den Worten von Thomas Nipperdey: „Die Karlsbader Beschlüsse sind 1824 erneuert worden, formal haben sie bis 1848 gegolten; sie kennzeichnen die 20er-Jahre, ja im weiteren Sinne die Zeit bis 1848 als Zeitalter der Restauration.“5 Gewiss, Sellin geht es nicht um ein „Zeitalter der Restauration“, sondern um das „Jahrhundert der Restaurationen“, aber so radikal lässt sich beides nicht trennen. Und das Verhältnis von Revolution und Restauration lässt sich inzwischen vielschichtiger und dialektischer fassen als in der alten Dichotomie, an der Volker Sellin in seinem anregenden Essay trotz der „Umstülpung“ mancher Kategorien festhält.6

Anmerkungen:
1 Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001; ders., Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011.
2 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart 1963, S. 4–20
3 Vgl. zu beiden Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, Köln 1972, S. 146–170.
4 Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999.
5 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 284. Ganz ähnliche Sichtweisen findet man in anderen renommierten Darstellungen der Epoche, bei Hans-Ulrich Wehler, Wolfram Siemann und vielen anderen.
6 Etwa jüngst bei Anna Karla, Revolution als Zeitgeschichte. Memoiren der Französischen Revolution in der Restaurationszeit, Göttingen 2014.

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