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Titel
Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan


Autor(en)
Kindler, Robert
Reihe
Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Erschienen
Anzahl Seiten
381 S., 14 Abbildungen, 3 Karten
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolaus Katzer, Deutsches Historisches Institut Moskau

Das dramatische Geschehen in Kasachstan in den 1920er-Jahren und frühen 1930er-Jahren, das Robert Kindler in seiner systematischen Studie darlegt und deutet, ist sehr vielschichtig und erst in jüngerer Zeit Gegenstand einer noch recht punktuellen wissenschaftlichen Debatte geworden.1 Einige historische Kontexte, etwa die widersprüchliche koloniale Situation im späten Zarenreich und im Ersten Weltkrieg, sind unlängst am Beispiel des Aufstands von 1916 erörtert worden.2 Ihre Kenntnis lässt die Unterschiede ermessen, die das gigantomanische sowjetische Assimilationsprojekt von Konzepten imperialer Kolonialpolitik in der Steppenzone trennen, die teils ebenfalls hoch ambitioniert waren, aber Theorie geblieben sind.3 In wenigen Jahren wurde einer jahrtausendealten Kultur, die zuvor bereits einer schleichenden Aushöhlung ausgesetzt war, ein gewaltsames Ende gesetzt.

Nach einer knappen Skizze der Ausgangsbedingungen (S. 31–41) strebt der Verfasser zügig seinem Hauptanliegen zu – die stalinistische Gewaltpolitik gegenüber den Steppennomaden zu entschlüsseln. Der stringenten Komposition kommt zugute, dass die Einleitung nicht mit methodischen und theoretischen Erörterungen überfrachtet wird. Stilsicher werden die Grundzüge der Debatte über die Kollektivierung referiert, in der die nomadische Steppenzone und speziell die Hungerkatastrophe in Kasachstan lange unberücksichtigt blieben. Das Ziel der Arbeit ist anspruchsvoller, als die Ausgangshypothese glauben machen könnte, dass nämlich „für nomadische Viehhirten kein Platz“ in der „(sowjetischen) Moderne“ gewesen sei (S. 13). Denn es bedarf eines hohen Recherche-Aufwands, um die überstürzten Entscheidungen und Maßnahmen zu rekonstruieren, mit der politische Akteure aus Partei, staatlichen Zentralbehörden und regionalen Exekutivorganen vollendete Tatsachen in einem Raum schufen, der geographisch, infrastrukturell und sozialökonomisch von der Utopie einer implantierten Industriegesellschaft denkbar weit entfernt war.

Reiternomaden lebten seit Urzeiten in der eurasischen Steppenzone. Die ausgedehnten Weiten boten zunächst kleinen, erst mit der Klimaveränderung anwachsenden menschlichen Gemeinschaften offene Räume für ihre traditionell mobile Lebensweise. Mitsamt ihren Viehherden passten sie sich den Naturmächten an. Um zu überleben, unterwarfen sie sich einer strikten patriarchalischen Ordnung, die einerseits durch den Familienverband, andererseits durch eine straffe militärische Gliederung geprägt war.4 Zu allen Zeiten wurde diese eigenartige Welt durch äußere Mächte bedrängt, ohne dass diese die Grundstrukturen insgesamt gefährdet hätten. So schränkten etwa seit der Frühen Neuzeit Kosaken mit ihrer zunehmend sesshaften Lebensweise die ausgedehnten Lebensräume der Nomaden ein, unterbrachen vertraute Routen oder zwangen Teile von ihnen zur Subordination und Adaption. Doch blieben große Übergangszonen zwischen sesshaften und mobilen Lebensformen bestehen, auch wenn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine ungebundene bäuerliche Wanderung und staatliche Kampagnen zur Kolonisierung von Neuland die Konflikte verschärften.5

Äußerer Druck und Gewalt waren den Nomaden also nicht fremd, als die Bolschewiki unter Stalins Führung darangingen, ihre Herrschaft mittels eines brutalen Programms zur erzwungenen Sesshaftigkeit durchzusetzen. Der vehemente Widerstand konnte indessen erst durch eine erbarmungslose Hungerpolitik gebrochen werden. Angesichts der Massivität dieses Überfalls, der ungleichen Waffen und der gewaltigen Opfer mag es erstaunen, wie stark die menschlichen Beharrungskräfte und die widerstrebenden Realitäten waren. Letztlich musste die Utopie einer kollektivierten Steppe unvollendet bleiben. Sie reiht sich ein in das Verzeichnis ruinöser Vorhaben des sowjetischen Sozialismus. Unter den Erkenntnissen, die Kindlers Studie bereithält, sticht deshalb diejenige hervor, die diese (Teil-) Kapitulation vor den Verhältnissen herausarbeitet. Ohne sie wäre es wohl kaum gelungen, die verheerende Hungerepidemie zu Beginn der 1930er-Jahre in den Griff zu bekommen. Sie erklärt auch, warum rudimentäre Praktiken nomadischen Wirtschaftens überdauerten. Diese allein gewährleisteten in der riesigen Steppenzone eine intensive Viehhaltung.

Eingehend widmet sich der Verfasser dem Jahrzehnt nach der Revolution, als die Sowjetmacht in die Welt der Steppe vordrang. Zunächst war ihr Kurs unentschieden, spiegelte Verstörung und Unsicherheit. Die Emissäre übertrugen die ihnen aus der urbanen oder doch zumindest „sesshaften“ Zivilisation vertrauten Begriffe auf eine ihnen zutiefst fremde und unverständliche Lebensweise. Sie versuchten, die Klan-Beziehungen mit den Netzwerkstrukturen der Partei in Einklang zu bringen. Bauernsiedler aus dem europäischen Landesteil sollten die Rolle von Mediatoren beim Aufbau des Sozialismus übernehmen. Noch herrschten pragmatische Lösungen vor, begnügten sich Funktionäre und Aktivisten fürs erste mit der Erfüllung eingeübter sowjetischer Rituale im Alltag. Sie standen für ein Mindestmaß an Loyalität, auch wenn traditionelle Praktiken unübersehbar fortdauerten („Bedingungen“, S. 42–108).

Die Kernstücke der Arbeit sind mit Schlüsselbegriffen überschrieben: „Attacken“, „Aufruhr“ und „Hunger“. In diesen Kapiteln analysiert Kindler den Versuch der Bolschewiki, die Nomaden mit massiver, brutaler Gewalt gefügig, das heißt sesshaft zu machen (S. 109–178), ihren spontanen Widerstand gegen die Bedrohung „von außen“ zu brechen (S. 179–231) und sie schließlich in der staatsverschuldeten Ernährungstragödie sich selbst zu überlassen, das heißt endgültig zu brechen (S. 232–311).

Das Aufeinanderprallen bewaffneter Brigaden mit unzureichend wehrfähigen Aulen war ein ungleicher Kampf mit absehbarem Ausgang. Nostalgische Reminiszenzen an den „Oktober“ mochte die junge Generation von Aktivisten darin bestärken; ihre Raubzüge folgten dem revolutionären Impetus von 1917. Sie verhinderten nicht, dass die „Entkulakisierung“ der Nomaden, die Landverteilung und erzwungene Sesshaftmachung Opfer selbst unter Kämpfern der ersten Stunde forderten. Kaum war aber die heiße Phase des Überfalls vorüber, sahen sich die Eindringlinge in der ihnen feindlichen Umgebung in die Defensive gedrängt. Unfähig, das selbst geschaffene Chaos zu beherrschen, überließen die überforderten Parteistellen das Geschehen seinem Lauf. An der Wende zu den 1930er-Jahren stellte ein Agrarexperte fest, er habe auf dem Weg zu einer vormals viehreichen Farm nicht ein einziges Tier gesichtet. Es handelte sich um seine Umschreibung für die Hungerkatastrophe.

Das Leben nach dem verzweifelten Abwehrkrieg gegen die Eindringlinge und ihre Verbündeten, die diese unter den Einheimischen gefunden hatten, konnte nicht mehr werden wie zuvor. Für den Aufbruch in eine andere Zukunft fehlten aber die Voraussetzungen. Als der erbitterte Bürgerkrieg abebbte und der Höhepunkt der Hungerepidemie vorüber war, die alle sozialen Bindungen zersetzt hatte, begann ein improvisierter Neuanfang auf den Trümmern der zerstörten Kultur („Optionen“, S. 312–337). Er bewegte sich auf bescheidenstem Niveau und changierte zwischen „sowjetischer Existenzform“ und camoufliertem „Nomadismus“. Ohne argwöhnische Kontrolle ging auch dies nicht. Im Agrarsektor waren nach der Kollektivierung notgedrungen Kleinwirtschaften geduldet worden, die das Überleben eines Großteils der Bevölkerung sicherten. Vergleichbar sorgten in der zerrütteten Viehzucht der Steppe die Rudimente der patriarchalischen nomadischen Lebenspraxis nicht zuletzt mit „fiktiven Kolchosen“ (S. 325) dafür, dass sich die Produktion stabilisierte. Ein Kapitel für sich war die nachträgliche Verteilung von Schuld und Verantwortung und die Suche nach Sündenböcken für die Exzesse.

Es ist der Quellenlage geschuldet, dass letztlich die Perspektive „von oben“ und „von außen“ überwiegt. Wenn die Moskauer Führung von Krieg sprach, dann hatte sie die Abrechnung mit „Banden“ im Sinn. Einen legitimen Widerstand konnte es aus ihrer Sicht nicht geben. Wie sich aber die zahlreichen, oft unverbundenen Abwehrfronten selbst rechtfertigten, spiegelt sich in den meist offiziellen Dokumenten nicht in adäquater Weise. Wie in einem Bauernkrieg, verfügten die Einheimischen nicht über moderne Waffen, sondern mussten sich mit Speeren, Äxten und Säbeln behelfen. Trotz aller Detailverliebtheit einiger offizieller Berichte ist die Kluft zwischen der Wahrnehmung voreingenommen teilnehmender Beobachter auf der einen Seite und der von letztlich stummen Akteuren auf der anderen unüberbrückbar.

Selbstverständlich sind „Stalins Nomaden“ nicht wirklich Stalins Nomaden. Was der Diktator über die wandernden Bewohner der Steppe und ihre Kultur dachte bzw. wusste, ist kaum bekannt. Ist es auch entbehrlich? Immerhin konnte er aus den Berichten von den Orten des Geschehens entnehmen, wie widerspenstig die Realitäten waren. Schrecken ließ er sich nicht. Geleitet von einem Gestus der Überlegenheit, ging es ihm wohl – wie der bolschewistischen Elite insgesamt – darum, Durchsetzungsstrategien zu entwickeln, die den vormodernen Herrschaftsverhältnissen angepasst waren. Dabei kam das von Ethnographen, Anthropologen und Demographen über Jahrzehnte angehäufte Wissen zupass. Aus der Fernsicht des Zentrums bedurfte es lediglich entschlossener Emissäre und kooperationswilliger Helfer vor Ort, um die „rückständigen“ Strukturen auszuhebeln. In eine ausweglose Rivalität untereinander oder gegenüber den ansässigen Bauernsiedlungen und Kosaken-Dörfern gedrängt, ließen die orientierungslosen Nomaden angestammte Solidarprinzipien fahren und stürzten sich in einen Überlebenskampf jeder gegen jeden.

Um die archaische Bevölkerungsgruppe zu überrumpeln, einzuschüchtern und zu unterwerfen, reichten technisch geringfügig überlegene Gewaltmethoden aus. Weitere Untersuchungen für die post-stalinistische und post-sowjetische Zeit müssen klären, was von den traditionellen Bindungen letztlich überdauerte. Hingegen stoßen mikrohistorische Studien über die Binnendynamik in der örtlichen Gesellschaft während der Terror- und Hungerjahre wegen des Quellenmangels an Grenzen. Die Formel der 1920er-Jahre lautete, die soziale Revolution in der Steppe müsse – etwa bei Wahlen oder beim Kommissionswesen – sowjetisch in der Form sein, könne inhaltlich aber traditionell bleiben (S. 44–60). Diese Formel ist letztlich zu allgemein, um das Spektrum realer Verhältnisse einzufangen. Die damit bezeichnete hybride Gesellschaft, deren Segmente sich angewöhnten, auf je eigene Weise vorgegebene rituelle Normen zu erfüllen, blieb heterogen und widersprüchlich. Ihre Alltagspraktiken waren situativ angepasst. Sie änderten aber nichts daran, dass die kollektive ländliche Wirtschaft einerseits nicht funktionstüchtig wurde, ein Rückwechsel in traditionelle Lebensformen andererseits abgeschnitten war.

Wie die Bauern in den Anbaugebieten des sowjetischen Kernlandes verloren auch die Steppennomaden im Zuge der Kollektivierungspolitik größtenteils ihre Fähigkeit, eine selbstbestimmte Erwerbsökonomie zu praktizieren. Sie wurden abhängig von den Wohltaten übergeordneter Behörden. Auch als spezifisches Opferkollektiv unterlagen sie der nivellierenden Konsequenz, dass sie sich allein durch ihre Vergangenheit von anderen unterschieden.

So gesehen, handelt es sich also nicht bloß um eine Variante des antibäuerlichen Furors. Es handelt sich um ein eigenständiges Kapitel in der in ihren eigentlichen Zielen höchst strittigen Zivilisierungsmission der Bolschewiki. Robert Kindler hat es stringent und auf breiter Materialgrundlage rekonstruiert und in die Geschichte der Gewalt im Stalinismus eingebettet. Solange die Historiographie der postsowjetischen zentralasiatischen Staaten diesem konstitutiven, aber hinsichtlich der Betroffenen weitgehend stummen Teil ihrer Geschichte nicht durch einen Koordinatenwechsel etwa mittels systematischer Befragungs- und Erinnerungsprojekte begegnet, wird mehr als das hier Gebotene schwer an den Tag zu fördern sein.

Anmerkungen:
1 Siehe Niccolò Pianciola, Interpreting an insurgency in Soviet Kazakhstan. The OGPU, Islam and Quazaq “Clans” in Suzak, 1930, in: ders. / Paolo Sartori (Hrsg.), Islam, Society and States across the Quazaq Steppe (18th – Early 20th Centuries), Wien 2013, S. 297–340, und die Einleitung der Herausgeber, S. 9–25.
2 Jörn Happel, Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart 2010.
3 David Moon, The Plough that Broke the Steppes. Agriculture and Environment in Russia’s Grasslands, 1700–1914, Oxford 2013.
4 Fred Scholz, Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise, Stuttgart 1995.
5 Willard Sunderland / Nicholas B. Breyfogle / Abby Schrader (Hrsg.), Peopling the Russian Periphery. Borderland Colonization in Eurasian History, New York 2007.

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