B. Rathmayr: Einführung in die Geschichte der Sozialen Arbeit

Cover
Titel
Armut und Fürsorge. Einführung in die Geschichte der Sozialen Arbeit von der Antike bis zur Gegenwart


Autor(en)
Rathmayr, Bernhard
Erschienen
Leverkusen 2014: Barbara Budrich Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sabine Hering, Fachbereich 2, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Universität Siegen

Der Titel des vorliegenden Buches von Bernhard Rathmayr, in welchem der Leserschaft eine Geschichte der Armut und Fürsorge von der Antike bis zur Gegenwart angekündigt wird, klingt gewagt; und das Vorhaben – um gleich ein wenig das Resümee vorwegzunehmen – bleibt auch weitgehend ein kaum zu bewältigendes Unterfangen.

Das Wagnis beginnt mit einer gewissen Orientierungslosigkeit, weil man vergeblich nach einer Einleitung sucht, in der dargelegt wird, unter welchen Gesichtspunkten und mit welchen Auswahlkriterien die Thematik angesichts der Breite des Stoffes dargestellt werden soll. Denn: Dass Einschränkungen notwendig sind, bedarf keiner Erklärung – erklärungsbedürftig sind die zeitlichen, örtlichen und inhaltlichen Parameter, denen die Darstellung zu folgen gedenkt. Aber die gibt es nicht, wenn man von der kurzen Zusammenfassung auf der Rückseite des Buches absieht. Dass es bei der Darstellung im Grunde um eine Anklage gegen die Ursachen von Not und Elend ebenso wie die Ohnmacht der Hilfsbereiten geht, die anhand ausgewählter Beispiele aus unterschiedlichen Epochen und regionalen Kontexten dargelegt werden soll, legen die Formulierungen in der abschließenden Passage des Textes nahe: „Die vorliegende Geschichte der Sozialen Arbeit versteht ‚Armut‘ umfassend: als materielle Not, als physische und psychische Krankheit, Behinderung, Heimerziehung, Kinderarbeit, soziale Ausgrenzung, politische Verfolgung. Anhand zahlreicher historischer Dokumente lassen sich die Entwicklung der Organisation und Praxis der Mitmenschlichkeit ebenso anschaulich nachvollziehen wie die Entgleisungen der Unmenschlichkeit.“

Das erste Kapitel ist dem Thema ‚Armut und Not in der europäischen Antike‘ (S. 11–50) gewidmet, bezieht sich aber fast ausschließlich auf die Verhältnisse in Rom und dem ländlichen Umfeld, ohne den Blick auf die Breite der Völker und Kulturen zu eröffnen, die gemeinhin der europäischen Antike zugeordnet werden. Auch die bedeutenden römischen Provinzen finden keine Berücksichtigung. Die Ausnahme bilden einige kurze ‚Abstecher‘ nach Griechenland.

Bei der Darstellung der römischen Antike orientiert sich Rathmayr hauptsächlich an den Ausführungen von Marcus Prell und legt – zwar faktenreich und detailfreudig, aber ohne Berücksichtigung der über die Jahrhunderte hinweg zu verzeichnenden Entwicklungen – anhand der sozioökonomischen Verhältnisse die Bedeutung von Reichtum und Armut im ‚alten Rom‘ dar. Mit zahllosen Zitaten von Horaz, Juvenal, Seneca, Cicero, Tacitus, Lukian, Martial und vielen anderen wird die Leserschaft darüber informiert, wie groß die Abscheu und die Verachtung gegenüber Armut und den Armen in Rom war, wie wichtig es dagegen war, reich zu sein, weil sich nur dadurch Ämter und Ansehen erringen ließen – und dass es trotz der eklatanten Statusunterschiede, der Sklaverei und menschenverachtenden Bestrafungspraktiken nie „zu einem solidarischen Handeln der Unterprivilegierten“1 gekommen ist.

Über die Auswirkungen der zahllosen Kriege auf die soziale Situation der Bevölkerung und den Niedergang des römischen Reiches erfahren wir fast gar nichts, sondern vollziehen im zweiten Kapitel relativ übergangslos einen Zeitsprung ins Mittelalter und einen Ortswechsel nach Mitteleuropa. Das Thema dieses Teils der Darstellungen lautet: ‚Elend und Barmherzigkeit: Ansichten der Armut im Mittelalter und in der frühen Neuzeit‘ (S. 51–64). Weitestgehend unter Bezug auf Geremek und Sachße/Tennstedt2 legt Rathmayr in diesem Kapitel die Einflüsse des Christentums auf das Verständnis von Armut und die soziale Stellung der Armen dar: „Armut ist im christlichen Mittelalter nicht nur ein in Demut zu ertragendes Los der Armen, sondern ein gottgewolltes Schicksal.“ (S. 53) ‚Armut als Beruf‘ und ‚Almosen als Himmelsleiter‘ sind die von ihm ausgewählten Schlüsselbegriffe zur Darstellung der sozialen Praktiken des Mittelalters, um dann den Übergang zur frühen Neuzeit und der aufgrund von Pest und Kriegen veränderten bevölkerungspolitischen Lage zu thematisieren: „In einer Situation der Knappheit von verfügbaren Lohnarbeitern war die Unterstützung arbeitsfähiger Armer gesellschaftlich nicht mehr erwünscht.“ (S. 73) Die neue ‚Wohlfahrtsstrategie‘ der Herrschenden heißt: Sozialdisziplinierung durch ‚Arbeit‘. Das Betteln wird kriminalisiert, durch Zucht- und Arbeitshäuser ebenso wie durch die Einrichtung erster Gefängnisse soll die Sozialdisziplinierung umgesetzt werden. Die Beispiele, die diese Maßnahmen illustrieren sollen, entstammen unterschiedlichsten Zeitpunkten und Orten innerhalb Europas.

Die nächsten Entwicklungen, die Rathmayr in den Blick nimmt, umfassen den Zeitraum von der ‚industriellen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg‘ (S. 101–152). Die sozialen Probleme dieser Epoche (Landflucht, Kinderarbeit, Arbeitslosigkeit, mangelnde Hygiene et cetera) und gleichermaßen die ersten Schritte zum Aufbau einer staatlich gelenkten Sozialfürsorge werden wiederum hauptsächlich anhand von ‚Fallbeispielen‘ dargestellt, die mehrheitlich die Lage in Österreich skizzieren. Der „staatliche Liberalismus und die christlich-bürgerliche Wohltätigkeit“ bilden – so Rathmayr – den Rahmen einer Entwicklung, die sowohl zu einer Politisierung der Sozialen Frage auf Seiten der Arbeiterbewegung, aber auch zu ersten Schritten in Richtung Sozialstaat führt.

Die nächsten drei Kapitel sind den Themen ‚Fürsorge als Beruf: Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit‘ (S. 153–166); ‚Führerprinzip und Rassenpolitik: Zur Faschisierung des Sozialen in der NS-Diktatur‘ (S. 167–218) und ‚Von der Fürsorge zur Sozialen Arbeit: Sozialpolitik und Soziale Arbeit in der Nachkriegszeit‘ (S. 219–236) gewidmet. In diesen drei Kapiteln werden fast durchgängig die aktuell bestehenden (aber auch ältere) Publikationen zu den thematischen Schwerpunkten rekapituliert. Neue Aspekte werden nur in Bezug auf die Entwicklungen in Österreich hinzugefügt.

Auffällig sind die fehlenden Bezüge zur Rolle der Wohlfahrtsverbände und eine Kommentierung der Aufbrüche zum Wohlfahrtsstaat, wie sie in fast allen europäischen Ländern in der Zwischenkriegszeit zu verzeichnen waren und anhand der Befunde der Pariser Konferenz 1928 anschaulich darzustellen gewesen wären.

An die Darstellung der Folgen von Krieg und Faschismus sowie den Wiederaufbau des Wohlfahrtswesens in der Nachkriegszeit in Deutschland und Österreich (S. 219–236) schließt sich unmittelbar eine kritische Beschäftigung mit der Ökonomisierung der Hilfe in der Gegenwart an (S. 237–258). Damit überschlägt Rathmayr den gesamten Zeitraum der Reformjahre mit der Akademisierung der Sozialen Arbeit auf der einen Seite und dem Bottom-up-Aufbau neuer Arbeitsfelder (Frauenhäuser, Schuldnerberatung, Hilfen für Gastarbeiter/innen, Mädchenarbeit, Asylantenbetreuung et cetera).

Vor dem umfangreichen Schlusskapitel, in dem Rathmayr zahlreiche ‚Fallbeispiele‘ der sozialen Praxis im alpenländischen Raum aus unterschiedlichen Zeitaltern präsentiert (S. 259–346), zieht er auf wenigen Seiten ein Resümee seiner Studien. Dabei setzt er sich primär mit den Ausführungen von Thomas Rauschenbach zur ‚bezahlten Nächstenliebe‘3 auseinander. Er schließt sich weitgehend Rauschenbachs Überlegungen an, dass die wesentlichen Strukturelemente der heutigen Sozialen Arbeit historische Ursprünge haben, die teilweise noch den Epochen vor den Anfängen moderner Wohlfahrtspflege im 19. Jahrhundert entstammen – ein Argument, das den weiten Bogen rechtfertigen soll, den Rathmayr in seinem Buch geschlagen hat und das gut in eine Einleitung gepasst hätte.

Insgesamt ist es bedauerlich, dass Rathmayr eher eklektizistisch als komparativ verfährt. Bei einer über 2000 Jahre umfassenden geschichtlichen Darstellung, die sich (zumindest teilweise) über ganz Europa erstreckt, hätte es sich gelohnt, anhand einiger ausgewählter Fragestellungen (sowohl durch Vergleiche von Abfolgen, vor allem aber durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Probleme und Praktiken an verschiedenen Orten im gleichen Zeitraum) die Faktoren zu hinterfragen, die die jeweiligen Phänomene hervorgebracht haben. Dafür gibt es in der Sozialhistoriographie inzwischen viele Vorbilder, denen Rathmayr aber nicht gefolgt ist. Auch wenn seine moralischen Appelle gegen Unmenschlichkeit und sein Plädoyer für das Spiel mit offenen Karten anstelle von ‚Wohlfahrtstheater‘ sicherlich zu würdigen sind, hätte man sich dafür eine Einbettung in die entsprechenden aktuellen Diskurse gewünscht.

Anmerkungen:
1 Marcus Prell, Sozialökonomische Untersuchungen zur Armut im antiken Rom. Von den Gracchen bis Kaiser Diokletian, Stuttgart 1997, S. 254.
2 Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München/Zürich 1988; Chritsoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart/Berlin/Köln 1998.
3 Thomas Rauschenbach, Bezahlte Nächstenliebe: zur Struktur sozialpädagogischen Handelns, in: Sozialpädagogik, 28 (1986), 5, S. 206–218.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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