H. Klemann u.a.: Occupied Economies

Cover
Titel
Occupied Economies. An Economic History of Nazi-Occupied Europe, 1939–1945


Autor(en)
Klemann, Hein; Kudryashov, Sergei
Reihe
Occupation in Europe
Erschienen
London 2012: Berg Publishers
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 25,85
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Scherner, Department of Historical Studies, Norwegian University of Science Email:

Ebenso wie zur Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reiches hat es auch zu den von NS-Deutschland besetzten Gebieten in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl neuer wirtschaftshistorischer Einzeluntersuchungen gegeben, die sich mit verschiedenen Aspekten der Besatzungsherrschaft beschäftigt haben. Während über die NS-Wirtschaft in Deutschland mit Adam Toozes „Wages of destruction“ seit bald zehn Jahren eine Gesamtdarstellung vorliegt, in der die besetzten Gebiete allerdings – verständlich angesichts Toozes Fragestellung - nur eine untergeordnete Rolle spielen, fehlt eine entsprechendes, auf neusten Ergebnissen beruhendes Werk für die besetzten Länder. Diese Lücke schließt Hein Klemanns und Sergej Kudryashovs „Occupied Economies“. Der Zugriff des Buches auf den Untersuchungsgegenstand erfolgt dabei auf verschiedene Weise: zum einen stellt es eine Synthese der Forschungsergebnisse zu den verschiedenen besetzten Ländern dar, wobei auch eigene Befunde einfließen, und zum anderen ordnet es diese in einer vergleichenden Perspektive ein. Dabei ist es nicht überraschend, dass das Buch kein vollständiges Bild im Sinne einer gleichgewichtigen Berücksichtigung der besetzten Gebiete liefern kann, weil es letztlich seine Grenzen in dem unterschiedlichen länderspezifischen Forschungsstand findet.

Aus der erwähnten komparativen Perspektive werden, strukturiert in die drei großen Teile „Exploitation“, „Economic Life“ und „Economic Consequences“, die jeweils in eine Reihe von Kapiteln untergliedert sind, alle wesentliche Bereiche der Besatzungsherrschaft aus wirtschaftshistorischer Sicht abgedeckt: die verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren, die deutsche Aneignung von Ressourcen und des Produktionsfaktors Arbeit, darunter insbesondere der Zwangsarbeiter, gesamtwirtschaftliche Größen wie Produktion, Inlandsverbrauch, und Außenhandel, die Lebensbedingungen der Bevölkerung auf der Grundlage der Ernährungssituation und geeigneter Indikatoren, etwa demographischer Art, und schließlich die finanzielle Ausbeutung. Im Zusammenhang mit letzterem Punkt werden präzise und umfassend die Instrumente beschrieben, derer sich die Besatzer bedienten, und darauf hingewiesen, dass die Tribute, welche die besetzten Länder zu zahlen hatten, klar die Bedürfnisse der Besatzungstruppen überschritten, und damit gegen geltendes Völkerrecht verstießen. Hervorgehoben werden auch der durch die finanzielle Ausbeutung hervorgerufene Inflationsdruck und die daraus resultierenden langfristigen Folgen der Besatzung. Dazu zählen etwa Steuerreformen und eine Erhöhung der Steuerquote in einzelnen Ländern, die wiederum nach dem Krieg beibehalten wurden und dem Ausbau des Sozialstaats dienten.

Gegenstand der Betrachtung sind auch die Entwicklung der Importsubstitution, die infolge der britischen Blockade und der Ausrichtung der Handelsströme im besetzten Europa an deutschen Bedürfnissen notwendig wurde, und die Frage nach den Spielräumen und dem Verhalten von Unternehmen in besetzten Gebieten. Dabei zeigt sich, dass die Bereitschaft für eine Kollaboration neben anderen Faktoren in einem nicht unbeträchtlichen Maß von der Erwartung abhing, ob Deutschland den Krieg gewinnen würde oder nicht. Zudem spielte der Umstand eine Rolle, ob Konkurrenten zur Mitarbeit bereit waren. Letzteres Verhalten ähnelte dem deutscher Unternehmen, was angesichts vieler vergleichbarer Rahmenbedingungen in Deutschland und den besetzten Gebieten, etwa der Abhängigkeit von einer staatlichen induzierten Nachfrage und Rohstoffbewirtschaftung nicht allzu überraschend ist.

Vollkommen zu Recht nehmen die klandestinen wirtschaftlichen Aktivitäten, welche in einer Kriegswirtschaft, die ja immer auch eine Mangelwirtschaft ist, oftmals eine bedeutende Rolle spielen, einen besonders großen Raum ein. Dabei kann festgestellt werden, dass etwa in bestimmten besetzten Gebieten Schwarzmarkthandel mit geringerer Intensität betrieben wurde, also Rationierungen und Regulierungsvorschriften bereitwilliger befolgt wurden, als in anderen. Klemann und Kudryashov begründen dies sowohl mit Unterschieden in der politischen Kultur und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den jeweiligen besetzten Ländern als auch mit der größeren Legitimität gerade solcher Regulierungen, für welche die ersten Grundlagen in einigen Gebieten bereits vor der Besatzung geschaffen worden waren. Diese Erklärungen erscheinen durchaus plausibel, sollten aber dennoch durch weitere Forschung überprüft werden. Unstrittig ist aber, dass die Implikationen der Schwarzmärkte vielschichtig und bedeutsam waren. So machen Klemann und Kudryashov klar, dass angesichts hoher Schwarzmarktpreise und des Umstands, dass auf offiziellen Märkten nur ein Teil des Einkommens ausgegeben werden konnte, die Reallöhne in den besetzten Gebieten tatsächlich noch wesentlich stärker fielen, als wenn man den offiziellen Preisindex verwenden würde. Von besonderer Bedeutung ist, dass versucht wird, die in den bisherigen Schätzungen zum Sozialprodukt bisher nicht berücksichtigte Schwarzmarktproduktion zu quantifizieren, soweit dies bei der schwierigen Datenlage möglich ist. Im Anbetracht der so ermittelten beträchtlichen Höhe des klandestinen Outputs schließen die Verfasser überzeugend, dass die Kontrolle der Besatzer über die Wirtschaft infolge der vielfältigen Informationsasymmetrien zwischen Produzenten und Behörden beschränkt war, und demzufolge die deutsche Regulierung der Wirtschaft „all but watertight“ gewesen sei (271f.). Zudem wird bezweifelt, ob es angesichts dieser umfangreichen Schwarzmarktproduktion überhaupt in manchen Sektoren einen massiven Einbruch während des Krieges und demzufolge ein Nachkriegsproduktionswunder gegeben habe. Auch das hat Implikationen – für die schlechte Versorgungslage in Europa ist demnach nicht in erster Linie die Blockade, sondern die Verteilung der Nahrungsmitteln innerhalb und zwischen den Ländern verantwortlich zu machen.

Trotz ihrer unzweifelhaften Verdienste hätte die Studie von einer intensiveren Auseinandersetzung mit der neueren, insbesondere deutschsprachigen Literatur profitiert. So verbleibt die Darstellung, was die Bewertung der deutschen Kriegswirtschaft und ihrer Ausbeutungsstrategien anbelangt, der in den letzten Jahren verstärkt in Frage gestellten konventionellen Deutung verhaftet, nach der es erst in der zweiten Kriegshälfte unter Albert Speer eine „richtige“, konsequente und rationale Umstellung gegeben habe. Und wenn auch den Befunden, dass die Ausbeutungsstrategien sowohl ideologisch als auch zweckrational geleitet waren, wobei es unterschiedliche Interessen zwischen den deutschen Besatzungsbehörden und Berlin gegeben habe, zuzustimmen ist, so hätte u.a. ein Studium deutscher Akten gezeigt, dass es, anders als behauptet, gerade im wirtschaftlichen Bereich durchaus Raum für Debatten und Diskussionen bei Entscheidungsprozessen innerhalb der reichsdeutschen Behörden gab.

Trotz der oben genannten Kritikpunkte muss unterstrichen werden, dass die thematische Ausgewogenheit des Buches und sein komparativer Ansatz seine besondere Stärke sind. Ebenso positiv hervorzuheben ist die Tatsache, dass es den Blick auf bisher oftmals vernachlässigte Elemente der Besatzungsherrschaft richtet, wie die bereits erwähnte Frage der Schwarzmärkte, oder den Umstand, dass die deutsche Nachfrage, wenigstens zeitweise und in bestimmten Gebieten, sogar ein belebendes Element sein konnte. Insgesamt ist das Buch ein unverzichtbarer Beitrag für alle, die sich mit der wirtschaftlichen Ausbeutung der von NS-Deutschland besetzten Gebiete und ihren Folgen beschäftigen. Für zukünftige Forschung bietet das Werk einen wertvollen Ansatzpunkt.

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