S. Burkhardt: Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen

Titel
Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen. Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel


Autor(en)
Burkhardt, Stefan
Reihe
Europa im Mittelalter 25
Erschienen
Berlin 2014: de Gruyter
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 124,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Grünbart, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das 13. Jahrhundert gehört zu den interessantesten, wenngleich auch wenig – zumindest im deutschsprachigen Raum – übergreifend erforschten Zeiträumen. In der byzantinischen Geschichte (und Byzantinistik) markiert spätestens das Jahr 1204 eine Zäsur, die die Auflösung des hochmittelalterlichen Reiches und den Verlust europäischer Geltung bedeutete. Dennoch lassen sich Dynamiken und Vorstellungen gerade in dieser Zeit – im Buch wird der Begriff „imperiale Sattelzeit“ (S. 372) gewählt – greifen, die sich auf das Verständnis des oströmischen Kaisertums rückprojizieren lassen. Im Jahre 1261 war mit dem lateinischen Interregnum am Goldenen Horn Schluss, die Titel „Lateinischer Kaiser von Konstantinopel“ und „Lateinischer Patriarch von Konstantinopel“ lebten aber noch weiter. Jacques des Baux, Fürst von Tarent und Achaia, starb 1383 als lateinischer Titularkaiser, das lateinische (Titular)Patriarchat von Konstantinopel wurde erst 1964 aufgelöst.

Das Thema "lateinisches Kaiserreich" befindet sich etwas außerhalb der byzantinistischen Forschungen (das liegt aber nicht im „eigentümlichen Desinteresse“ der Byzantinisten begründet, „galten für sie doch die lateinischen Eroberer als Barbaren“ [S. 18]!). In der Betrachtung des 13. Jahrhundert wird eher die Geschichte der byzantinischen Nachfolgereiche behandelt (Epirus, Nikaia, Trapezunt) und meist nur bei direktem Kontakt mit den Lateinern auf die Verflechtungen verwiesen (grundlegend dazu die Arbeiten von Michael Angold und Donald Nicol). In der jüngsten Zeit wurden auch wirtschaftshistorische Fragestellungen behandelt.1 Die neueste Publikation, die sich mit der ersten Phase des lateinischen Kaiserreiches beschäftigt, stammt von Filip Van Tricht.2 Gerade die Fragmentierung des bis Kaiser Manuel I. Komnenos (1143–1180) zentral organisierten und territorial zusammenhängenden Reichsgebiets eröffnet vielschichtige Perspektiven auf das Verständnis von Macht, Geltung, Definition von Einfluss und neue Spielregeln der Politik. Für die Vorgeschichte des so genannten vierten Kreuzzuges und somit für die Gestaltung der politischen Landkarte unerlässlich ist das Werk von Jürgen Hoffmann; hier wird die Fragmentierung des byzantinischen Kaiserreiches umfassend thematisiert.3 Das Thema „Lateinisches Kaiserreich“ ist also sehr relevant für das Verständnis der Umbruchszeit nach dem langen 12. Jahrhundert. Die Geschichte dieser westlichen Herrschaft(sform) kann allerdings nur im Kontext, das heißt unter Einschluss der Entwicklungen seit dem Tod Kaiser Manuels, untersucht werden.4 Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel stellte eine Novität im europäischen Herrschaftsgefüge dar, da es – aus der Not der Stunde geboren – das byzantinische Kaisertum zu spiegeln oder bestenfalls abzukupfern versuchte. Die Konstruktion dieser Herrschaft stand von Anfang an auf schwachen Fundamenten, da die wirtschaftlichen Ressourcen durch die Plünderungen stark reduziert waren und aus dem Westen kaum Humankapital nachkam. Zudem wirkte sich der Exodus der byzantinischen Mittel- und Oberschicht (Richtung Mittelgriechenland und Westkleinasien) fatal auf die Infrastruktur (Verwaltung und Produktion) aus.

Die Veränderungen durch die Einsetzung eines lateinischen Kaisers wirkten sich auch auf das Verständnis von Herrschaft, Territorium und Allianzen im östlichen Mittelmeerraum aus. So nimmt es nicht wunder, dass jüngst vermehrt Forschungen zu Gefangenschaft und Geiselnahme von Herrschern und Machtträgern unternommen werden. Burkhardt präsentiert eine umfangreiche Quellenliste, in der allerdings die Werke des Michael Choniates, der als Metropolit von Athen die lateinische Eroberung miterlebte und unter der Fremdherrschaft litt, fehlen. Seine Briefsammlung erlaubt beredte Einblicke in die alltäglichen Probleme mit den neuen Herren; er thematisiert seine schwere Exilzeit auf der Insel Keos und reflektiert über die lateinischen Eroberer. Ein weiterer Text böte auch Material zum Verständnis des Anderen / der Anderen: Nikolaos Mesarites schildert als Augenzeuge die dramatischen Ereignisse um 1200 in Konstantinopel.5 Aus diesem Text gewinnt man zudem interessante Einblicke in die Dynamik und das Verständnis des Kaisertums. Die beigegebene Bibliographie ist beeindruckend, doch fragt man sich als Rezipient, warum die immer noch zu zitierende Geschichtsdarstellung von Georg Ostrogorsky zwar (nur) in der Ausgabe des fußnotenlosen Nachdrucks angeführt, aber im Text so gut wie nie zitiert wird. Anstelle dessen wird Ernst Gerlands „Geschichte der Frankenherrschaft in Griechenland“ gerne verwendet – ein Werk, das schlichtweg veraltet ist.6 Man vermisst auch die Monographie von Antonio Carile und die Überblicksdarstellung von Robert Lee Wolff.7

Der Autor widmet sich besonders den Herrschaftskonzeptionen und sucht zunächst nach Unterschieden zwischen Königtum und Kaisertum. Dabei nähert er sich einerseits von modernen Begrifflichkeiten an und bemüht sich andererseits, Ansätze für eine Scheidung der beiden in der Antike / Spätantike zu finden. Hier liegt meines Erachtens eines der größten Probleme in dieser Arbeit, denn es fließt nirgends das Konzept der Oikumene in die Argumentationskette ein. Der Begriff Oikumene bedeutet „bewohnte Welt“ und umschreibt zunächst die römisch dominierte, als zivilisiert verstandene Welt. Dieser Begriff geht nahtlos in das Herrschaftsverständnis von Konstantin dem Großen und seinen Nachfolgern über und wird christianisiert – Handschriftenilluminationen (Weltkarten) zur topographia christiana des Kosmas Indikopleustes (6. Jahrhundert) zeigen diese Vorstellungen klar. Mit dem Oikumene-Begriff formuliert das byzantinische Kaisertum Herrschaftsansprüche auf ehemals römisches Territorium (idealiter der gesamte Mittelmeerraum), welches nach Kaiser Justinian zwar schrumpfte, vom 9. bis zum 11. Jahrhundert aber wieder anwuchs. Insbesondere für die heiligen Regionen im östlichen Mittelmeerraum fühlte sich der byzantinische Kaiser als Beschützer des Christentums/der christlichen Erinnerungsorte verantwortlich. Diese Vorstellung befeuerte die byzantinische Außenpolitik – die Rückeroberung heiliger Stätten dominierte das frühe 7. (Herakleios!), 10. und 11. Jahrhundert und wurde im Zuge der Errichtung der Kreuzfahrerherrschaften wieder besonders brisant und aktuell. Dass der Oikumene-Begriff nicht immer mit der Realität in Einklang zu bringen war, stellt eine der politischen Konstanten des byzantinischen Kaisertums dar. Dies tritt auch im 9. Jahrhundert bei dem Missionswettlauf zwischen Papsttum und Patriarchat in Süd- und Mitteleuropa zutage. In dem vorliegenden Buch wird dieses Konzept so gut wie komplett ausgeblendet, wie überhaupt auffällt, dass die Entwicklung des Kaisertums von der Regierungszeit Konstantins I. bis zu Manuel I. sehr marginal vorkommt. Die byzantinischen Kaiser verstanden sich stets als globale Herrscher8, auch wenn das Selbstbewusstsein des byzantinischen Kaisertums mit Karl dem Großen arg erschüttert wurde, da sich der fränkische Herrscher den mediterranen Raum auch ideologisch einverleiben wollte.9 Zum Konzept der Oikumene, zu ihrem Verständnis und zu ihren Grenzen existieren grundlegende Studien der Byzantinisten Telemachos Lounghis, Johannes Koder und Gudrun Schmalzbauer.10 Diese Studien zusammengenommen hätten die Diskussion um das im Buch immer wieder angeführte „virtuelle Kaisertum“ befördert und abgekürzt: Das byzantinische Kaisertum stand stets zwischen Traum und Wirklichkeit – gleichzeitig ist an den Oikumene-Begriff das Kaiserverständnis geknüpft, welches ein König nie hatte, haben durfte oder zu haben wagte.

Eine weitere große Lücke liegt in der Darstellung der Entwicklungen vor der Etablierung des lateinischen Kaiserreiches. Es wird weder auf die Entwicklungen in den sogenannten Kreuzfahrerstaaten (byzantinisches „Lehnswesen“, komnenische Heiratspolitik) noch auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen in den lateinischen Quartieren Konstantinopels (1182) eingegangen. Die These, dass „einfaches Volk mit den Lateinern verbündet“ (S. 342) aufgetreten sei, ist anfechtbar und müsste wesentlich vorsichtiger formuliert werden. Nebenbei sei erwähnt, dass sogar die zweite Frau Kaiser Manuels, Maria von Antiochien, in byzantinischen Quellen normalerweise das Beiwort „Xene“ erhielt. Dies ist ein Reflex der weit verbreiteten Skepsis gegenüber den lateinisch sprechenden Europäern am Goldenen Horn.

Als zentraler Forschungsgegenstand – wie er im Untertitel aufscheint – wird das lateinische Kaisertum von Konstantinopel gewählt (1204–1261). Allerdings sucht man eine knappe Geschichte dieser Herrschaft vergeblich (eine Zeittafel wäre wünschenswert gewesen). Auch wird der Naturraum (!) nicht gebührend thematisiert. Eine geophysikalische Karte hätte der Diskussion über die Möglichkeiten der Herrschaftserrichtung und über die wirtschaftlichen Grundlagen gut getan. Die historische Topographie und Modelle der Herrschaftsorganisation zählen zum Handwerkszeug byzantinistischer Forschung. Wenig wird auf die Konstruktion von gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen und Assimilationen eingegangen. Daran anknüpfend: Wie funktionierte etwa die Geldversorgung? Warum prosperierte das Wirtschaftsleben im lateinischen Herrschaftsgebiet kaum?

Noch einige Anmerkungen zur Begrifflichkeit: In der deutschsprachigen Forschungsliteratur hat sich der Begriff „Mitkaiser“ eingebürgert. „Mitkaiser“ meint einen vom Hauptkaiser bzw. vom Patriarchen gekrönten Angehörigen der regierenden Familie. Dadurch ist aber keine Hierarchie ausgedrückt, sondern es wird damit die Mitgliedschaft zu einem Kaiserkollegium bezeichnet.11 Problematisch erscheint ferner die Formel „Realtypen imperialer Ordnungen“ (S. 224). Das soll nur an einem Beispiel gezeigt werden, dessen Diskussion man in dem Buch erwartet hätte: Was heißt es, wenn sich der normannische Herrscher Roger II. (auf dem Mosaik in der Santa Maria dell’Ammiraglio in Palermo, datiert etwa 1143, das seine Krönung durch Christus zeigt) sich selbst als rex bezeichnet, dafür aber griechische Buchstaben wählt? Dieses zeitgenössische, propagandistische Statement hätte der Diskussion um imperialen (?) Anspruch, Imitation des Kaisertums und Selbstdarstellung reichlich Stoff gegeben.

Bei manchen überlieferten Vorgängen erwartet man eine stringente, die byzantinistische Neugierde befriedigende Antwort aus westlicher mediävistischer Perspektive: Zu dem Verfahren der Kaiserwahl, das Niketas Choniates in seinem Geschichtswerk überrascht beschreibt12, findet man keine Interpretation. Bei der Erklärung der Hinrichtung des bereits geblendeten (!) und somit zum Kaiser untauglichen Alexios V. durch den Sturz von einer Säule auf dem Forum Tauri13 ist die westliche Komponente der Bestrafung viel stärker zu betonen (vgl. S. 365), denn Verräter und Mörder stürzte man in die Tiefe. Die Lateiner strafen hier nach westlichem Maßstab – effektvoll inszeniert „in Sichtweite des gesamten Volkes, weil es als angemessen angesehen wurde, dass ein so bedeutender Akt der Gerechtigkeit von der ganzen Welt gesehen werden sollte“.14 Dass der Effekt natürlich ein besonderer war, ist klar, denn normalerweise standen auch zu dieser Zeit noch Kaiserstandbilder auf manchen der Säulen in Konstantinopel.

Der sich redlich bemühende Autor verliert sich oft in Exkursen zu Ausformungen des Kaisertums und zur Geschichte des Kaisertums. Man vermisst aber zugespitzte Thesen und wird meist auf Gemeinplätzen zurückgelassen. Aus dem Moment heraus geboren konnte das lateinische Kaiserreich kaum seinen Platz in dem mediterranen Herrschaftsgefüge behaupten und scheiterte zuletzt eher zufällig. Es bleibt zu hoffen, dass sich durch die hier vorgestellte Publikation angeregt, weitere Studien ergeben, die dem Verständnis der Entwicklungen im östlichen Mittelmeerraum dienen.

Anmerkungen:
1 Ekaterini Mitsiou, Untersuchungen zu Wirtschaft und Ideologie im „Nizänischen“ Reich, Diss. phil., Wien 2006.
2 Filip Van Tricht, The Latin "renovatio" of Byzantium. The Empire of Constantinople (1204–1228). Leiden 2011. Vgl. seine kritische Rezension des Werks von Stefan Burkhardt in The Medieval Review, 21.09.2015, <http://scholarworks.iu.edu/journals/index.php/tmr/article/view/20017/26139> (19.04.2016).
3 Jürgen Hoffmann, Rudimente von Territorialstaaten im byzantinischen Reich (1071–1210). Untersuchungen über Unabhängigkeitsbestrebungen und ihr Verhältnis zu Kaiser und Reich, München 1974.
4 Gerade erschien ein Sammelband, der diese Forschungslücke füllen soll: Alicia Simpson (Hrsg.), Byzantium, 1180–1204: „The Sad Quarter of a Century“?, Athen 2015.
5 August Heisenberg / Nikolaos Mesarites, Die Palastrevolution des Johannes Komnenos, Würzburg 1907.
6 Vgl. Georg Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, 3. Aufl., München 1963; Ernst Gerland, Geschichte der Frankenherrschaft in Griechenland. Bd. 2: Geschichte des lateinischen Kaiserreiches von Konstantinopel. T. 1: Geschichte der Kaiser Balduin I. und Heinrich, 1204–1216, Homburg von der Höhe 1905.
7 Vgl. Antonio Carile, Per una storia dell’Impero Latino di Costantinopoli (1204–1261), 2. Aufl., Bologna 1978; Robert Lee Wolff, The Latin Empire of Constantinople 1204–1261, in: Kenneth Setton (Hrsg.), A History of the Crusades. Bd 2: Madison, Wisconsin 1969, S. 187–234.
8 Wie weit man bei der Interpretation dieser Vorstellung gehen kann, zeigte jüngst Alicia Walker, The Emperor and the World. Exotic Elements and the Imagining of Byzantine Imperial Power, Ninth to Thirteenth Century C.E., Cambridge 2012.
9 Zu verweisen ist hier auf die zuletzt erschienene Studie von Michael McCormick, Charlemagne's Survey of the Holy Land. Wealth, Personnel, and Buildings of a Mediterranean Church Between Antiquity and the Middle Ages. With a Critical Edition and Translation of the Original Text, Washington, D.C. 2011, in der auf der Basis des Basler Rotulus die fränkische Außenpolitik profund ausgerollt wird.
10 Telemachos Lounghis, Die byzantinische Ideologie der „begrenzten Ökumene“ und die römische Frage im ausgehenden 10. Jahrhundert, in: Byzantinoslavica 56 (1995), S. 117–128; Johannes Koder, Die räumlichen Vorstellungen der Byzantiner von der Ökumene (4. bis 12. Jahrhundert), in: Anzeiger der Philosophisch-historischen Klasse 137,2 (2002), S. 15–34; Gudrun Schmalzbauer, Überlegungen zur Idee der Oikumene in Byzanz, in: Wolfram Hörandner (Hrsg.), Wiener Byzantinistik und Neogräzistik. Beiträge zum Symposion Vierzig Jahre Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien im Gedenken an Herbert Hunger (Wien, 4.–7. Dezember 2002), Wien 2004, S. 408–440 (in diesem Beitrag werden auch die arabische Welt und das Konzept der zwei Augen der Ökumene erläutert).
11 Die umfassende Studie von Constantin Zuckerman, On the Title and Office of the Byzantine Basileus, in: Travaux et mémoires 16 (2010), S. 865–890, beleuchtet dies diachron und grenzüberschreitend. Für die Argumentation wichtig, was das Verständnis der Protagonisten im 12. Jahrhundert betrifft, wäre Otto Kresten, Der „Anredestreit“ zwischen Manuel I. Komnenos und Friedrich I. Barbarossa nach der Schlacht von Myriokephalonin, in: Römische Historische Mitteilungen 33/35 (1992/93), S. 65–110.
12 In der Apostelkirche werden vier Kelche aufgestellt, von denen einer den Leib und das Blut Christi enthält. Die Wahlwerber bekommen je einen Kelch gereicht und derjenige wird zum Herrscher bestimmt, in dessen Kelch sich das unblutige Opfer befindet. Das Verfahren wird aber vom venezianischen Dogen verworfen und man wählt mittels zehn Wahlmännern (mit Stimmenmehrheit). Vgl. Nicetas Choniates, Historia. Hrsg. von Jan Louis van Dieten, Berlin 1975, S. 596, Z. 33–41.
13 Vgl. ebd., S. 804.
14 Geoffroy de Villehardouin, La conquête de Constantinople Suivi de Sa continuation. Hrsg. von Nathalie Desgrugillers, Clermont-Ferrand 2006, S. 116.

Kommentare

Von Burkhardt, Stefan10.05.2016

Von Repliken ist normalerweise abzuraten. Allzu leicht gerät man in gefährliche Nähe zu den auf dem Feld des Rezensionswesens ausgetragenen Gelehrtenstreitigkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren Duellforderungen und Replik-Repliken. Ich werde deshalb auch an dieser Stelle nicht auf alle Einzelheiten der Rezension meines Buches durch Michael Grünbart1 eingehen – etwa die Frage, ob man den Handbuchartikel Robert Lee Wolfs seinen im rezensierten Werk zitierten einschlägigen Artikeln vorziehen sollte, welche Quellen noch hinzuzuziehen gewesen wären oder ob es wirklich sinnvoll oder nicht vielleicht doch außergewöhnlich gewesen wäre, eine Zeittafel einzufügen. Ich möchte stattdessen nur grundsätzlich als Mediävist dem Byzantinisten antworten.

Zum Glück hat die Forschung der vergangenen Jahre die strikte Trennung der Fachbereiche überwunden. Dennoch sind wir noch immer auf der Suche nach gemeinsamen Begriffen für ähnliche und auch eben nur auf den ersten Blick ähnliche Phänomene und Konzepte in „östlicher“ und „westlicher“ Hemisphäre. So unterlag – um ein Beispiel des Rezensenten aufgreifend weiterzuführen – das Konzept der Oikumene unter päpstlichem Einfluss im Bereich der lateinischen Kirche sicherlich anderen Prägungen und begrifflichen Codierungen als im Bereich der griechischen Kirche. Die Denkfigur der Virtualität kann hier einen entsprechend verbindenden Begriff bieten. Sie bietet darüber hinaus einen weiteren interessanten Anknüpfungspunkt künftiger Forschungen: Virtuelle Titel – und eben auch „Mitkaisertitel“ – konnten sehr wohl in der realen Welt Hierarchien generieren.

Die von dem Rezensenten angemahnte mangelnde Berücksichtigung der byzantinischen Geschichte des 12. Jahrhunderts ist der Standpunkt des Byzantinisten. Der archimedische Punkt bei der Bewertung des lateinischen Kaisertums von Konstantinopel liegt letztlich in der Gewichtung der Ereignisse von 1204: Traten die Lateiner in eine byzantinische Kaisertradition ein oder war diese lateinische Herrschaft vielleicht doch ein der Rat- und Erfahrungslosigkeit der Eroberer entspringendes Hybridgebilde, dessen rhizomatisch verflochtene Traditionslinien dann eben in der langen Dauer zu erklären sind, wie es der Autor des rezensierten Werkes beabsichtigte?

Ich will hier nicht auf die Diskussion eingehen, inwiefern uns die Beurteilung vergangener geomorphologischer Bedingungen zusteht. Mögen andere versuchen, den Weg Hannibals anhand von Pferdemist nachzuzeichnen. Am Sinn der Berücksichtigung „naturräumlicher Gegebenheiten“ besteht jedoch kein Zweifel, dies ist kein Privileg byzantinistischer Forschung. Im rezensierten Werk fließen diese ebenso wie andere angemahnte Aspekte über das Konzept der imperialen Ordnung in die Untersuchung der Wechselwirkung von kaiserlichem Rang und Personennetzwerken ein. Hierin, und nicht in der aufgrund der Quellenlage nicht unproblematischen, weil zu Teilen fiktiven Detailrekonstruktion lateinischer Wirklichkeit am Bosporus um 1200, lag das Ziel der Arbeit.

Anmerkung:
1 H-Soz-Kult vom 3.5.2016, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2016-2-077>.