S. Zwies (Hrsg.): Das Kloster Fulda und seine Urkunden

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Titel
Das Kloster Fulda und seine Urkunden. Moderne archivische Erschließung und ihre Perspektiven für die historische Forschung


Herausgeber
Zwies, Sebastian
Reihe
Fuldaer Studien. Schriftenreihe der Theologischen Fakultät 19
Erschienen
Freiburg im Breisgau 2014: Herder Verlag
Anzahl Seiten
XI, 381 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hiram Kümper, Historisches Institut, Universität Mannheim

Über die Bedeutung der im Jahre 744 im Auftrag des Heiligen Bonifatius gegründeten Abtei Fulda, insbesondere für die Geschichte des Früh- und Hochmittelalters, muss man keine großen Worte verlieren.1 Dass sich diese Bedeutung auch in einem umfassenden, weit zurückreichenden Urkundenbestand manifestiert, ist im Grunde auch nichts Neues.

Seit ihrem Bestehen hat die Historische Kommission für Hessen die Bearbeitung der Urkunden zu ihrer Aufgabe erklärt. Schon Edmund Ernst Stengels erster, in drei Teilen erschienene Band des Fuldaer Urkundenbuches von 1956/58 stellte über 500 Stücke allein für die Zeit bis auf das Jahr 802 zusammen.2 Dass er dabei seinen ursprünglichen Plan, alle Urkunden bis auf das Stichjahr 1150 zu bearbeiten, nicht erreichte, liegt nicht so sehr an der an sich schon bemerkenswerten Anzahl von Originalurkunden, sondern mehr noch in der breiten Kopialüberlieferung begründet, die erst zeigt, wie viele Deperdita ursprünglich neben den noch immer überlieferten, knapp anderthalbtausend Urkunden allein des Mittelalters vorhanden waren. Entsprechend schwer tat man sich, einen Nachfolger für Stengels anspruchsvolles Projekt zu finden. Wenigstens der berühmte Codex Eberhardi aus der Amtszeit Abt Marquards I. (1150–1165) konnte nach immerhin rund zehn Jahren Bearbeitungszeit 2007 vollständig vorgelegt werden.3 Ansonsten aber blieb die Mammutaufgabe einer grundsätzlicheren Erschließung des Fuldaer Urkundenfonds über ein halbes Jahrhundert auf Eis.

Erst nach der Jahrtausendwende zeichnete sich mit den fortschreitenden technischen Möglichkeiten eine zumindest befriedigende Lösung für das Dilemma zwischen Bedeutung und mangelnder archivischer Erschließung ab: die Verbindung ausführlicher Vollregesten mit leicht greifbaren Urkundenabbildungen mittels digitaler Bereitstellung. Genau das ist dann 2007/08 auch in Angriff genommen – und nach nur knapp dreijähriger Bearbeitungszeit stehen seit Ende 2010 nun 2.439 Urkunden nicht nur in hochauflösenden Digitalisaten mit entsprechenden Siegelabbildungen, sondern auch vollständig durch Vollregesten erschlossen zur Verfügung.4 Welche Perspektiven dieses riesige, nun leicht greifbare Korpus der Forschung bietet, stand als Frage über der Fuldaer Tagung, die der vorliegende Band dokumentiert.

Den Anfang des Bandes macht eine eingehende, gut nachvollziehbare Projektvorstellung. Die darauf folgenden 15, umfassend mit Farbabbildungen vor allem aus dem Urkundenbestand selbst illustrierten Beiträge lassen sich dann in zwei große thematische Linien unterscheiden.

Den ersten, ausgesprochen spannenden Teil machen allgemeinere und programmatische Beiträge zur Lage und Entwicklung der Diplomatik aus, die jeweils an Fuldaer Beispielen exemplifiziert werden. So handelt etwa Mark Mersiowsky (S. 17–45) anhand der Fuldaer Überlieferung über „Diplomatik im analogen Zeitalter“ und zeigt damit auch die neuen Möglichkeiten auf, die durch die nun digitale Verarbeitung der Urkunden eröffnet worden sind. Sein Beitrag fügt sich gut zu Francesco Robergs anschließendem Referat über „Chancen und Gefahren EDV-gestützter Diplomatik“ (S. 46–60). Wen dieser Untertitel Allgemeinplätze fürchten lässt, der wird eines dankenswert Besseren belehrt, denn Roberg ist angenehm konkret in seinen sehr klaren Unterscheidungen, etwa wenn es um die unterschiedlichen Bedürfnisse von Archiv und Forschung geht. An die Großperspektiven dieser beiden ersten Beiträge schließen enger gefasste Studien zu einzelnen hilfswissenschaftlichen Gegenständen und Formen an: zu Urkunden, Akten und Libelle (Thomas Vogtherr, S. 63–83), Papst- (Thomas Frenz, S. 84–100 und Andreas Meyer, S. 101–118) und Notarsurkunden (Irmgard Fees und Magdalena Weileder, S. 144–164) sowie Siegeln (Andrea Stieldorf, S. 119–143) und – sehr spannend, weil breit überliefert – frühneuzeitlichen Grenzrezessen (Holger Thomas Gräf, S. 165–182). Sie alle arbeiten sich vorbildlich konsequent am Fuldaer Material ab und erreichen damit ein hohes Maß an Anschaulichkeit und Verbindung untereinander. Durch ihre Perspektive vom Konkreten hin zum Allgemeinen, also vom Fuldaer Beispiel hin zur allgemeinen Quellenkunde, sind sie aber durchaus nicht nur für diesen engeren geographischen Bezugspunkt interessant – im Gegenteil. Stieldorfs Forschungen passen sich gut in die gegenwärtige Erweiterung der Sphragistik zu einer Bild- und Kulturwissenschaft ein, und Vogtherr liefert mit seinem Beitrag die im Grunde überhaupt erste gründliche Quellenkunde des Libell als spezifische Quellengattung am Übergang vom Urkunden- zum Aktenzeitalter. Übergangsphänomene beschreiben auch Fees und Weileder in den Mischformen der Fuldaer Notariatsinstrumente.

Im zweiten Teil des Bandes werden die bereit gestellten Urkunden dann auf ihre Bedeutung für die Kloster- und Landesgeschichte befragt. Hier geht es etwa um die klösterliche Grundherrschaft und Wirtschaftsführung, das Verhältnis zum stiftischen und zum benachbarten Adel oder das Gerichtswesen im Fürstentum.

Während Spätmittelalter und frühe Neuzeit den deutlich größten Teil ausmachen, wertet Enno Bünz systematisch den eingangs erwähnten Codex Eberhardi aus und kann dabei zeigen, welche neuen Erkenntnisse über die früh- und hochmittelalterliche Klosterwirtschaft die nun zugänglichen Urkunden gegenüber dem bisher gedruckten Material zulassen (S. 185–219). Der darauf folgende Beitrag von Bettina Braun dagegen sucht dann neben den weltlichen auch die geistlichen Funktionen des Fuldaer Abtes in der Frühen Neuzeit in den Blick zu bekommen (S. 220–230). Deutlich wird dabei vor allem das Ringen der Äbte um bischöfliche Rechte bis zur Bistumserhebung 1752 und auch noch danach. Insgesamt aber bleibt ihr Fazit ernüchternd: „Um die geistliche Amtsführung der Fuldaer Äbte und Bischöfe genauer zu untersuchen, müsste man vor allem Aktenüberlieferung […] konsultieren“ (S. 229).

Naturgemäß spielen neben den im Mittelpunkt der Tagung stehenden Urkunden regelmäßig auch andere Quellengruppen eine mitunter sogar fast prominentere Rolle. Alexander Jendorffs ansonsten sehr lesenswerter Beitrag über die Adelsgeschichte des Hochstifts (S. 251–267) etwa thematisiert keine einzige der digitalisierten Urkunden, um die es doch eigentlich gehen sollte. Stattdessen plädiert er – das allerdings mit gutem Grund – für eine Digitalisierung auch der frühneuzeitlichen Aktenbestände des Stiftes. Was man daran sehen könnte, zeigt er auf breiter Materialgrundlage: Den Wandel nämlich einer im Wesentlichen protestantischen, auf die Region fokussierten Adelsgesellschaft des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hin zu einer stark katholisch geprägten, auf den Fürstabt einerseits hingerichteten, andererseits aber auch stark überregional agierenden Ritterschaft. Dass aber auch in der Frühen Neuzeit noch die Urkunden neben den Akten wichtige Zeugnisse für das Gerichtswesen im Fürstentum Fulda darstellten, zeigt eindrücklich der Beitrag von Ludolf Pelizaeus (S. 290–308), der unter anderem ihre fortgesetzte Wichtigkeit auf unterschiedlichen Ebenen symbolischer Kommunikation betont. Ein Schwerpunkt bildet dabei das Prozessieren vor den höchsten Reichsgerichten. Dazu fügt sich gut der vergleichende Beitrag von Johannes Merz über die frühneuzeitlichen Privilegienvergaben in den Fürstentümern Fulda und Würzburg (S. 231–247), der neben deren rechts- und verfassungshistorischen regelmäßig auch ihre symbolische Dimension hervorstreicht.

Auch Christine Reinle macht in ihren Ausführungen über die Fehden der fuldrischen Ritterschaft (S. 268–289) in starkem Maße von dem nun digitalisierten Material Gebrauch. Sie zeigt die Fehden des stiftischen Adels als im Wesentlichen „typisch im Vergleich zu anderen Territorien des Reichs“ (S. 284). Eine Besonderheit stelle dagegen der Fürstabt selbst dar, der – im Gegensatz zu vielen seiner Standesgenossen – offenbar keine gezielte Fehdepolitik zur Konsolidierung seiner Landesherrschaft betrieb.

Der Band wird abgerundet von einem Resümee Mark Mersiowskys (S. 323–327), das die Stränge der Einzelbeiträge zu einer konzisen Gesamtwürdigung zusammenwebt, und einem ausführlichen Register, das auch sämtliche genannten Urkunden verzeichnet. Schon an der schieren Menge der Belegstellen kann man gut sehen: Die Bedeutung dieses Bestandes ist in diesem Band nicht nur – erwartungsgemäß – stetig betont, sondern auch tatsächlich praktisch demonstriert worden. Darüber hinaus bietet der Band eine Reihe lesenswerter Grundsatzbeiträge zu Fragen der Quellenkunde und der historischen Hilfswissenschaften, die auch jenseits der geographischen Provenienz ihrer Beispiele Interesse beanspruchen dürfen.

Anmerkungen:
1 Vgl. jüngst etwa noch Janneke Raaijmakers, The Making of the Monastic Community of Fulda, c. 744 –c. 900, Cambridge 2012.
2 Urkundenbuch des Klosters Fulda, bearb. von Edmund Ernst Stengel, 3 Bde., Marburg 1956/58.
3 Der Codex Eberhardi des Klosters Fulda, hg. von Heinrich Meyer zu Ermgassen, 3 Bde., Marburg 1995–2007.
4 Leider ist der Zugriffspunkt seit der Drucklegung umgezogen, sodass der im Band noch regelmäßig gedruckte Verweis auf HADIS (<http://www.hadis.hessen.de>) inzwischen veraltet ist; vgl. nun statt dessen <https://arcinsys.hessen.de> (04.04.2015). Die Königs- und Kaiserurkunden des Bestandes sind im Übrigen auch über das online-Angebot der Regesta Imperii <http://www.regesta-imperii.de> (04.04.2015) recherchierbar.