Studium Hallense e.V. (Hrsg.): Geschichte Anhalts in Daten

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Titel
Geschichte Anhalts in Daten.


Herausgeber
Studium Hallense e.V.
Erschienen
Halle (Saale) 2014: Mitteldeutscher Verlag
Anzahl Seiten
1117 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hecht, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Nach dem Tod Herzog Bernhards von Sachsen im Jahr 1212 trat dessen ältester Sohn Heinrich nicht die Nachfolge im sächsischen Dukat an, sondern übernahm die „askanischen“ Stammbesitzungen zwischen Harz und Mulde und nannte sich kurze Zeit später in einer Urkunde „princeps in Anahalt“. Das Jahr 1212 gilt daher als „Geburtsstunde“ eines eigenständigen Territoriums Anhalt, das – zunächst als Grafschaft bzw. Fürstentum, später als Herzogtum und Freistaat – bis zum 20. Jahrhundert Bestand haben sollte. Bekanntermaßen bilden runde Jubiläen eine gern genutzte Gelegenheit für historiografische Rückschauen und landeshistorische Synthesen. Während 1912 der herzogliche Archivar Hermann Wäschke eine dreibändige Gesamtgeschichte Anhalts vorlegte, die schnell zu einem territorialgeschichtlichen Standardwerk avancierte1, sah die Lage 100 Jahre später allerdings ganz anders aus: Ein von der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt geplantes Projekt einer neuen „Anhaltischen Landesgeschichte“ scheiterte an der fehlenden Finanzierung (und nach der Streichung der landeshistorischen Professuren in Halle und Magdeburg wohl auch an den personellen Ressourcen). Und so war es neben einem versteckt publizierten Tagungsband und einem informativen, aber eher populär gehaltenen Bildband2 vor allem die anzuzeigende Veröffentlichung, die das Jubiläum zum Anlass nahm, um auf 800 Jahre Anhalt zurückzublicken. Es wirft schon ein bezeichnendes Licht auf die Lage der akademischen Landesgeschichte in Sachsen-Anhalt, dass ein Buch, welches von einer Gruppe „ehemaliger und derzeitiger Studierender der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg“ (S. 10) erarbeitet wurde, durch Grußworte des Ministerpräsidenten, des Vertreters des Hauses Anhalt-Askanien und des Präsidenten des Anhaltischen Heimatbundes quasi in den Rang einer offiziellen Festschrift zum Jubiläum gehoben wird. Dabei ist das ehrenamtliche Engagement von „Studium Hallense“ ausgesprochen anzuerkennen.

Das Buch selbst stellt die Überarbeitung eines 1993 unter gleichem Namen publizierten Bandes dar3, der nun jedoch von 263 auf 1117 Seiten (!) erweitert wurde. Den Kern bildet eine jahrweise geordnete Übersicht zu allen möglichen Vorkommnissen, die sich in Anhalt ereigneten oder die einen Bezug zur anhaltischen Geschichte besitzen. Der zeitliche Rahmen reicht vom Proterozoikum vor 600 Millionen Jahren, in dem „die ältesten Gesteine Anhalts“ entstanden (S. 33), bis zum Jahr 1952, in dem das Land Sachsen-Anhalt aufgelöst wurde und damit auch Anhalt als staatliche Bezeichnung (vorerst) verschwand. Ob die Einbeziehung der prähistorischen Zeit für eine „Geschichte Anhalts“ zielführend ist, ließe sich mit guten Gründen hinterfragen. Die für das Mittelalter aufgeführten Ereignisse sind quellenbedingt stärker auf die Fürsten und ihre Taten fokussiert, während für die Neuzeit die lokal- und alltagsgeschichtlichen Nachweise zahlreicher werden. Die Vielschichtigkeit der annotierten Begebenheiten sei anhand von zwei beliebig herausgegriffenen Jahren illustriert: Zu 1576 findet sich mitgeteilt, dass Fürst Rudolf von Anhalt-Zerbst geboren wurde, anhaltische Theologen sich zu einem konfessionspolitischen Dokument aus Sachsen äußerten, der Ort Mägdesprung erstmals erwähnt wurde, in Köthen 12 Innungen existierten und in Dessau 635 Menschen an Pest und Pocken starben. Über das Jahr 1831 kann man unter anderem lernen, dass ein Fürstensohn in Dessau das Licht der Welt erblickte, in Bernburg die Errichtung einer israelitischen Schule und die Anstellung eines Rabbiners genehmigt wurden, in Köthen ein russisches Dampfbad und eine Landwirtschaftliche Gesellschaft entstanden, in Harzgerode die Münzprägung eingestellt wurde, in Edderitz sechs Menschen der Cholera zum Opfer fielen und Gernrode von Hans Christian Andersen besucht wurde. Nach welchen Kriterien die Auswahl der mitgeteilten Ereignisse erfolgte, bleibt jedoch insgesamt unklar. Offenbar bestand das Konzept darin, möglichst alle historiografisch belegten Begebenheiten zusammenzutragen; über die Relevanz der jeweiligen Information muss der Leser urteilen.

Als Hauptfrage stellt sich zweifelsohne, wie ein solches Buch benutzt werden soll. Will man es als Lesebuch für den Einstieg in eine bestimmte Epoche verwenden, wird man die fehlenden Zusammenhänge zwischen den disparaten Einzelinformationen sowie eine notwendige Kontextualisierung des Mitgeteilten vermissen. Sucht man nach konkreten Fakten (etwa: in welchen Jahren fanden Hexenprozesse statt?, oder: wann erhielten die anhaltischen Städte Anschluss an die Eisenbahn?), wird man im Zweifelsfall lange blättern müssen, um am Ende fündig zu werden. Immerhin helfen ein Personen- und ein Ortsregister bei der Erschließung der Informationsfülle. Positiv hervorzuheben sind zudem die im Anhang abgedruckten Stammtafeln, Karten und Regentenlisten. Da auf Literaturnachweise im Datenteil verzichtet wurde, kommt einer Auswahlbibliografie am Ende des Bandes die Aufgabe zu, auf weiterführende Lektüre aufmerksam zu machen.

Insgesamt handelt es sich bei der „Geschichte Anhalts in Daten“ somit um ein mit großem Aufwand und viel Akribie erarbeitetes Kompendium, das jedoch nicht im Hinblick auf jedes Erkenntnisinteresse leicht zu handhaben ist. Wenn in einem der Geleitworte allerdings der Anspruch vertreten wird, es sei ein Buch entstanden, durch das „die Zusammenhänge der Geschichte Anhalts objektiv zu betrachten“ seien (S. 12f.), dann muss doch widersprochen werden. Landesgeschichte ist – wie jede andere Form der Historiografie – nicht die Summe einzelner Fakten und Ereignisse, sondern bedarf einer auf theoretisch-methodischer Reflexion basierenden Konzeption und einer darauf aufbauenden argumentativen Struktur. Das will und kann eine Datensammlung nicht leisten. Und so bleibt – bei allem Respekt vor der fleißigen Arbeit von „Studium Hallense“ – eine zeitgemäße anhaltische Landesgeschichte nach wie vor ein Desiderat der Forschung.

Anmerkungen:
1 Hermann Wäschke, Anhaltische Geschichte, Bd. 1–3, Köthen 1912–1913.
2 Auf dem Weg zu einer Geschichte Anhalts. Tagungsband – Wissenschaftliches Kolloquium zur 800-Jahrfeier des Landes Anhalt (Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde, Sonderband) Köthen 2012; Anhaltischer Heimatbund e.V. (Hrsg.), 800 Jahre Anhalt. Geschichte, Kultur, Perspektiven, Wettin-Löbejün 2012.
3 Gerlinde Schlenker / Gerd Lehmann / Artur Schellbach, Geschichte Anhalts in Daten, München 1993.

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