J. Nießer u.a. (Hrsg.): Angewandte Geschichte

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Titel
Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit


Herausgeber
Nießer, Jacqueline; Tomann, Juliane
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
143 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Wenzel, Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung; Jürgen Bacia, Archiv für alternatives Schrifttum

Geschichte wird gemacht – klar, aber wie? Und vor allem: Wie wird sie überliefert, wie entstehen die Bilder und Erzählungen darüber, wie es wirklich gewesen ist? Die Deutungshoheit lag lange Zeit unangefochten bei der Geschichtswissenschaft, doch ist unstrittig, dass es so etwas wie die eine, gültige historische Wahrheit nicht gibt, sondern nur mehr oder weniger plausible Annäherungen daran. Aber wer nähert sich wie an?

Unter dem Begriff „Angewandte Geschichte“ machen seit einiger Zeit Ansätze von sich reden, die verschiedene Entwicklungen zusammenbringen und damit ein neues Modell zur Erlangung historischer Erkenntnisse vorschlagen. Jenseits der Universitäten, also der klassischen Orte, an denen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung stattfindet, hat sich ein buntes Spektrum von Gruppen und Initiativen gebildet, das einen anderen Zugang zu und einen anderen Umgang mit Geschichte praktiziert. Schlagwörter wie Geschichtswerkstätten, Oral History, Erzählcafés, Erinnerungskultur, Stolpersteine, Geschichte von unten, Minderheiten- und Lokalgeschichte mögen dies verdeutlichen.

Offensichtlich gibt es, so Jacqueline Nießer und Juliane Tomann, ein Bedürfnis nach „historischer Selbstverortung und öffentlicher geschichtlicher Rückversicherung“ in der Gesellschaft, das von den „nationalstaatlichen Großerzählungen“ der universitären und akademischen Geschichtswissenschaft nicht befriedigt werde. Die Herausgeberinnen vermuten, dass „die wissenschaftlich regulierte Erforschung der Vergangenheit mit den von ihr formulierten Erkenntnissen zunehmend weniger geeignet [ist], um auf die Bildungs- und Orientierungsbedürfnisse eines interessierten Laienpublikums zu reagieren“ und fragen, ob die außerwissenschaftliche Form der Beschäftigung mit Geschichte „der Geschichte als Wissenschaft bei der Suche nach Antworten auf gegenwärtige Fragen überlegen“ ist (S. 7f.).

Damit sind wir bei zentralen Fragen des Buchs angekommen: Was ist Angewandte Geschichte? Welches Verhältnis besteht zwischen ihr und der akademischen Geschichtswissenschaft? Worin besteht der Unterschied zwischen Angewandter Geschichte und Public History?

„Angewandte Geschichte hat Konjunktur.“ (S. 7) Dieser Satz aus der Einleitung von Nießer/Tomann ist zweifellos zutreffend. Richtig ist aber auch, dass der Begriff sehr schillernd ist. Der Beitrag der Herausgeberinnen über die Gruppe Angewandte Geschichte (Oder) bietet sich als erste Annäherung an Grundsätze und Merkmale Angewandter Geschichte an. Die Gruppe ist die Keimzelle, aus der das Institut für Angewandte Geschichte der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) hervorgegangen ist. Sie entstand in der Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte seit 1945. „Geografisch verortet sich diese Angewandte Geschichte […] in den Städten Frankfurt (Oder) und Slubice, kulturell in den deutsch-polnischen Beziehungen und intellektuell in den Kulturwissenschaften der Europa-Universität Viadrina.“ (S. 97) Individuelle Erinnerung und Wahrnehmung stehen gleichbedeutend neben schriftlichen und bildlichen Quellen, Geschichtsbilder und historische Erzählungen entstehen durch Aushandlung zwischen den Akteur/innen. Das „zivilgesellschaftliche Credo“ (S. 109) besagt, dass jede/r etwas beizutragen hat, Expert/innen ebenso wie Laien, es geht um reflektierte Teilhabe an Geschichts- und Erinnerungskultur. Geschichtsschreibung entsteht daher immer in Form partizipativer Prozesse und braucht Räume für Austausch und Reflektion. Selbstverständlich gelten wissenschaftliche und ethische Regeln, die Gruppe zählt zu ihren Aufgaben deshalb auch die Vermittlung diesbezüglicher Kompetenzen. Und schließlich findet sich in diesem Beitrag, kurz gefasst, die Abgrenzung zu verwandten Bereichen: Angewandte Geschichte knüpft zum Teil (etwa bei der Vermittlung von Kompetenzen) an die Geschichtsdidaktik an, legt aber im Gegensatz zu dieser kein „fertiges“ Geschichtsbild zugrunde, das es zu vermitteln gälte. Im Gegensatz zur Public History, deren Ziel ist, Geschichte in die Öffentlichkeit zu tragen, will sie die aktive Auseinandersetzung mit Geschichte in die Gesellschaft tragen.

Obwohl beide Herausgeberinnen im Institut für angewandte Geschichte in Frankfurt (Oder) ihre Wurzeln haben, bietet ihr Sammelband weit mehr als eine Darstellung dieses Zweigs der Beschäftigung mit Geschichte. An zwei Dingen ist ihnen offensichtlich sehr gelegen: Sie möchten die öffentliche Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit Angewandter Geschichte, aber auch die Diskussion mit den klassischen Geschichtswissenschaften voranbringen mit dem Ziel einer besseren Kooperation beider Zweige. Für sie stellt Angewandte Geschichte den missing link zwischen den verschiedenen grassroots-Bewegungen und der akademischen Forschung dar. Diesem Anliegen ist geschuldet, dass die ersten vier Beiträge des Buchs nicht von Mitarbeiter/innen und Aktivist/innen aus dem Bereich der Angewandten Geschichte stammen.

Marcus Ventzke, mit den Themenschwerpunkten Didaktik und Geschichtsvermittlung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt befasst, glaubt nicht, dass mit Angewandter Geschichte eine erkenntnistheoretische Innovation verbunden ist, weil die „wissenschaftlichen Prinzipien der historischen Forschung […] innerhalb wie außerhalb der Universitätsmauern“ gelten (S. 16). Auch fehle ihm „der Nachweis, dass Geschichte wirklich zu akademisch und zu abgehoben von außeruniversitären Anwendungsgebieten agiert“ (S. 33). Allerdings räumt er ein, „dass sich die akademische Geschichte als Ganzes heute viel mehr als früher legitimieren“ müsse und eine „Demokratisierung des Fachs“ anstünde (S. 34ff.). Dennoch hält er Angewandte Geschichte mit ihrem akteursbezogen-partizipativen Anspruch für eine Bereicherung. Ethik-Kodizes seien allerdings für alle einzuhalten, die sich mit der Erzeugung und Nutzung historischen Wissens beschäftigten. Die Gesetze der Wissenschaft müssten Vorrang haben vor den Gesetzen des Markts, denn es gebe keine unterschiedlichen Wahrheiten (S. 28).

Gangolf Hübinger, Professor für Vergleichende Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina, beschäftigt sich ausgiebig mit dem „doppelten Verantwortungsdruck“ (S. 37) der Vergangenheit und der Gegenwart, dem Historiker/innen ausgesetzt seien. Public History und Angewandte Geschichte hält er für „selbstbewusste jüngere Schwestern der bewährten Geschichtsdidaktik“, warnt aber vor der Gefahr, sich als reine „Dienstleister“ zum Beispiel für „Erinnerungsagenturen, Unternehmen oder Behörden“ zu verstehen: der „kritische Umgang mit Fachwissen“ dürfe nicht hinter den „Interessen des Auftraggebers“ zurückstehen (S. 40).

Der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen ist mit einem Vorabdruck aus seinem Buch „Historik“ vertreten. Die Darstellung der fünf Dimensionen der Geschichtskultur (die kognitive, die ästhetische, die politische, die moralische und die religiöse) steht ein wenig monolithisch im Kontext der anderen Aufsätze. Erhellender sind angehängte Auszüge aus einem Gespräch, das Tomann mit Rüsen geführt hat. Darin stellt er zum Beispiel fest, dass es reines Wissen, reine Erkenntnis nicht gibt, sondern Erkenntnisse immer kontextabhängig sind. In jedem historischen Denken stecke also „ein Stück Verwurzeltheit in der Praxis“ – insofern sei das historische Denken immer „applied“: „Geschichte ist von Anfang an Anwendung.“ (S. 60) Allerdings bestehe im akademischen Bereich die Gefahr, dass Wissen zum Selbstzweck werde – und genau hier könne Angewandte Geschichte ein Ausweg sein. Rüsen schlägt vor, den Begriff durch „Praktische Geschichte“ zu ersetzen, denn es gehe „um Orientierungspraxis, um Kultur als Praxis“ (S. 61).

Irmgard Zündorf, für Wissenstransfer und Hochschulkooperation zuständige Referentin am Zentrum für Zeithistorische Forschung, schildert in ihrem Beitrag ausführlich die unterschiedlichen Wurzeln von Public History und Angewandter Geschichte: Public History begann bereits in den 1960er-Jahren in den USA, führte dort in den 1970er-Jahren zur Gründung von Lehrstühlen und Studiengängen und fasste später an deutschen Universitäten Fuß, zum Teil unter dem Namen Öffentliche Geschichte. Public History verstehe sich als Teil der Geschichtswissenschaft und wird von Zündorf definiert als „jede wissenschaftlich fundierte Form öffentlicher Geschichtsdarstellung, die außerhalb von Schulen und wissenschaftlichen Institutionen stattfindet und unter anderem das Ziel hat, Geschichtskenntnisse zu vermitteln“ (S. 69). Angewandte Geschichte in Deutschland hat ihre Wurzeln „in den Geschichtswerkstätten der 1980er-Jahre“ und verstehe sich als Teil außeruniversitärer Bewegungen. Zündorf bezeichnet Angewandte Geschichts als „die praktische Erschließung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse unter Einbeziehung von Zeitzeugen und der Kulturlandschaft als Quellen und Bezugsrahmen sowie der interaktiven Zusammenarbeit aller Beteiligten“ (S. 73).

Auch Robert Traba, Direktor des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, setzt sich mit der unklaren Begrifflichkeit auseinander. Da Public History im polnischen Diskurs eher als Gesellschaftsgeschichte verstanden wird, bevorzugt er den Begriff Angewandte Geschichte (historia stosowana): „Angewandte Geschichte schreibt sich somit in den Prozess des aktiven Lernens aus der Geschichte ein. Ihre Anwendung beruht dabei auf dem Einbezug von Zeitzeugen (Gedächtnis) und der Kulturlandschaft sowie der Interaktion innerhalb der Gruppe.“ (S. 112) Auch in Polen habe in den letzten Jahrzehnten „die Geschichtswissenschaft ihr Vorrecht auf das Erzählen der Vergangenheit verloren“; zeitgemäßer seien Netzwerke von „Individuen und Gruppen, die im öffentlichen Raum Erzählungen“ schaffen (S. 113). Spannend bei Traba sind auch die Schilderungen der vielfältigen Aktivitäten, die es in Polen zur Rettung des kulturellen Gedächtnisses gibt.

Gerhard Obermüller und Thomas Prüfer betreiben als gelernte Historiker eine Geschichtsagentur und beleuchten in ihrem Beitrag das Spannungsfeld von Geschichte und Geschäft, also das inzwischen weite Feld der Kommerzialisierung von Geschichte. Sie heben dabei den Unterschied hervor zwischen Geschichtsagenturen, deren Angebote, auch wenn sie kommerziell ausgerichtet sind, auf eindeutig festgelegten wissenschaftlichen und ethischen Ansprüchen beruhen, und Marketingagenturen, für die Geschichte eine Ware wie jede andere ist, die möglichst gewinnbringend verkauft werden soll. Die Deutungshoheit von Geschichte liegt für sie nicht allein an den Universitäten, sondern sei zunehmend im gesellschaftlichen Alltag verankert; entsprechend müssten gesellschaftliche Gruppierungen vielfältig miteinbezogen werden. Am anschaulichen Beispiel der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg in Österreich berichten sie von dem langen Prozess, in dem die Geschichte dieser Institution aufgearbeitet wurde. Spannend wäre, hier auch einmal ein gelungenes Beispiel aus der privaten Wirtschaft vorgestellt zu bekommen.

Angewandte Geschichte hat Konjunktur. Institute oder Studiengänge für Angewandte Geschichte und/oder Public History belegen dies genauso wie die 2012 gegründete Arbeitsgemeinschaft für Angewandte Geschichte/Public History im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands. Erste Workshops dieser AG haben sich mit den Themen Geschichtswissenschaft und Praxisbezug (Heidelberg 2013), Angewandte Unternehmensgeschichte (Wolfsburg 2013) und Ethik-Code (Frankfurt am Main 2014) beschäftigt. Für die laufenden Diskussionen über das Selbstverständnis Angewandter Geschichte ist der Sammelband von Nießer/Tomann eine Bereicherung, weil er die wichtigen Fragen nach Chancen und Grenzen, ethischen Grundsätzen und wissenschaftlichem Handwerkszeug stellt.

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