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Titel
Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien, 1914–1945


Autor(en)
Greiner, Florian
Reihe
Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert 1
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Logemann, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Göttingen

Ob Finanzkrise oder Migrationsbewegungen, ob Währungs- oder Agrarpolitik: Europa ist eine und oft die zentrale politische und wirtschaftliche Bezugsebene aktueller medialer Debatten. Während sich Europadebatten noch vor kaum zehn Jahren mit der optimistischen Hoffnung auf einen stetig voranschreitenden Integrationsprozess verbanden, ist Europa heute zwar immer noch in aller Munde, jedoch geht es vornehmlich um Problemdiagnosen und Krisenanalysen; es mehren sich jene Stimmen, die sowohl das Auseinanderbrechen der politischen Union als auch des „imaginierten“ Kontinents prophezeien.

Vor diesem Hintergrund bietet Florian Greiners medienanalytische Studie „Wege nach Europa“ eine anregende Lektüre. Greiner stellt sich die Frage, welche Bedeutung Europa als imaginiertem Kontinent in den Jahren zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zukam, jenen krisenbeladenen Jahrzehnten also, die in der historischen Europaforschung weithin als Tiefpunkt eines kontinentalen Europabewusstseins gelten. Greiner verortet sich innerhalb dieser Geschichtsschreibung zu Europa, verfolgt aber nicht in erster Linie ideengeschichtliche Europakonzeptionen, sondern versucht das „gelebte Europa“ (R. Girault) in alltäglichen medialen Diskursen empirisch zu erfassen. Zu diesem Zweck untersucht er jeweils zwei führende Qualitätszeitungen aus Deutschland, Großbritannien und den USA systematisch nach Referenzen zu „Europa“ – und wird fündig. Europa, so ein zentrales Ergebnis der Studie, war im Denken und Schreiben zeitgenössischer Journalisten trotz – und gerade auch wegen – Krieg, Krisen und geballtem Nationalismus stets präsent.

Die Studie analysiert mediale Diskurse um „Europa“ in drei jeweils sehr umfangreichen Kapiteln. Im ersten dieser Abschnitte geht es um Europa als politischen und wirtschaftlichen Raum im „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“ (A. Mayer) zwischen 1914 und 1945. Hier setzt sich Greiner am direktesten mit jener Europageschichtsschreibung auseinander, die bisher für die Zeit zwischen den Weltkriegen Dissens und Krise in den Vordergrund gestellt hat. So zeigt er unter anderem, dass die in der Forschung viel beachtete Paneuropa-Union Coudenhove-Kalergis medial nur ein Randthema blieb. Dennoch will Greiner das Krisenbild insgesamt differenzieren: Auch wenn Rufe nach einer politischen Einigung des Kontinents marginal blieben, verhallten sie doch nicht vollends. Mit Blick auf die politischen und besonders die wirtschaftlichen Probleme der Zeit war sich die Presse in allen drei untersuchten Ländern des gesamteuropäischen Charakters der Problemlagen bewusst und immer wieder wurden auch gesamteuropäische Lösungen gefordert. Ob durch die Bildung von europäischen Kartellen oder den weithin beachteten Briand-Plan, regelmäßig gab es für die Zeitgenossen Hoffnungsschimmer für eine gemeinsame europäische Zukunft. Sogar im Kontext beider Weltkriege, so Greiner, seien europäische Gedanken stets „sagbar“ und „alltagsrelevant“ (S. 223) geblieben.

Der zweite Abschnitt der Studie schwenkt die Perspektive der Analyse auf den Blick der Medien von und nach außen, vor allem in transatlantischer und kolonialer Hinsicht. Dabei knüpft Greiner an einen wachsenden Strang der Europaforschung an, der die Konstruktion des Kontinents vor allem über die Auseinandersetzung mit dem kolonialen sowie dem amerikanischen „Anderen“ analysiert.1 Der Blick aus und auf Europa hat auch in der Zwischenkriegszeit besonders die Wahrnehmung europäischer Gemeinsamkeiten befördert. Dieses Ergebnis verschiedener Studien wird von Greiners Medienanalyse empirisch weiter unterfüttert. Der Vergleich mit der politisch und ökonomisch aufstrebenden Macht Amerika verstärkte ein Krisenbewusstsein mit Blick auf Europa, das auch durch koloniale Unabhängigkeitsbewegungen gespeist wurde. Dennoch, so Greiners Befund, blieb Europa in dieser Außenperspektive zum Teil durchaus positiv konnotiert: Europa galt weiterhin auch transatlantisch als „Qualitätssiegel“ in Bereichen wie Kultur und Wissenschaft und man verstand sich im kolonialen Kontext als Teil einer noch immer überlegenen europäischen Zivilisation. Trotz Krise des „alten Europa“ hielt die Berichterstattung weitgehend an der Vorstellung einer fortschreitenden „Europäisierung der Erde“ (S. 323) fest.

Europa blieb in Mediendiskursen eng mit Vorstellungen von Modernität verbunden, wie der dritte Abschnitt an ausgewählten Bereichen zeigt. Besonders die Integration des Kontinents durch neue Formen des Transports und der Kommunikation, von Straßennetzen über Telefone bis hin zum Radio wurden „europäisch“ verhandelt. Greiner kann hier an die neuere transnationale Historiographie zur „Europäisierung von unten“, etwa durch Infrastrukturnetze, alltägliche mediale Kommunikation aber auch durch neue Massenkonsumphänomene der Hochmoderne wie Sport oder Tourismus anknüpfen.2 Dabei wird klar, dass auch den Zeitgenossen die Bedeutung internationaler Verflechtung bei diesen Prozessen nicht entging. Mit Blick auf eben diese latenten, besonders durch neue Technologien vorangetriebene Europäisierungstendenzen (einer „hidden integration“) treten dann auch Kontinuitäten zwischen der Zwischen- und der Nachkriegszeit deutlich hervor.

Insgesamt besticht die Arbeit durch die umfangreiche Quellenauswertung, die die bestehende Forschung zu Europawahrnehmungen und -diskursen empirisch unterfüttert und kritisch zu differenzieren hilft. Die Quellenbefunde erfahren zudem eine sorgfältige historiographische Einbettung wie beispielsweise mit Blick auf neuere Forschungen zur europäischen Wirtschaftsentwicklung der Zwischenkriegszeit. Dies ist bei der Bandbreite der hier behandelten Themen eine beachtliche Leistung. Immer wieder stößt der Leser auf spannende Einzelstudien, wie etwa zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Türkei, die in den untersuchten Zeitungen fast durchgehend in den Kontext Gesamteuropas eingeordnet wurde. Schließlich bietet Greiners Blick auf die Wahrnehmungsebene eine gute Ergänzung zur wachsenden Zahl von Studien, die sich mit transnationalen Verflechtungen und Transfers im europäischen Raum beschäftigen.

Jedoch zeigen sich auch die Grenzen des medienanalytischen Zugriffs. In mancher Hinsicht durchschreitet die Arbeit zu rasch ein zu breites Themenspektrum und erliegt dabei einerseits der Versuchung, möglichst viele verschiedene journalistische Perspektiven zu präsentieren (hier wären stärkere redaktionelle Kürzungen angebracht gewesen), bleibt aber zugleich vielfach an der Oberfläche des Ereignisgeschehens hängen. Der Blick auf den journalistischen „common sense“ jener Jahre reproduziert fast notwendigerweise viel Bekanntes und birgt die Gefahr redundanter Beobachtungen. Mut zu Kürze und noch stärkere Selektivität bei einem ohnehin stark selektiven Ausschnitt transatlantischer Öffentlichkeit hätten dem Buch gut getan.

Auch die medienanalytische Perspektive wird nicht immer konsequent umgesetzt. Schade ist, dass die Studie zu selten versucht, „Europa“ als rhetorische Strategie zu fassen. Wer nutzte den Europabegriff, wann und warum? Häufig, so legen Greiners Beispiele nahe, diente „Europa“ als Deckmantel für die Verfolgung nationaler oder anderer politischer Interessen. Besonders deutlich wird dies beim Europabegriff des Nationalsozialismus, worauf Greiner auch explizit verweist. Ähnlich findet es sich aber auch in den 1920er-Jahren etwa in deutschen Klagen über die europäischen Probleme des Versailler Vertrags oder in britischen Diskussionen über die europäische Dimension der Kriegsschulden gegenüber den USA. Neben gesellschaftlichen und politischen Akteuren waren es auch die Zeitungen selbst, die im Schreiben über Europa politische Agenden und bestimmte Interessen verfolgten. Über die Strukturen medialer Öffentlichkeiten, die Korrespondentennetzwerke der Zeitungen und ihre wandelnde Rolle in dem Europa, über das sie berichteten, erfahren wir zu wenig Systematisches für eine Studie diesen Umfangs – ein kurzer Einschub zur Presse als Teil der europäischen Moderne kurz vor Ende des Buches ist da zu knapp. Europa, so wird konstatiert, wurde medial konstruiert, allerdings lernt der Leser deutlich mehr über die vermittelten Inhalte und Wertungen, als über die eigentlichen Mechanismen dieser Konstruktion.

Die Grundthese von Greiners Studie überzeugt insoweit, als dass Europa auch in der Zwischenkriegszeit politisch, wirtschaftlich und kulturell von vielen als ein gemeinsamer Raum und als „imaginierter Kontinent“ wahrgenommen wurde – dies zeigt seine Analyse deutlich. Ob sich damit jedoch eine „alternative Vorgeschichte der europäischen Einigung“ eröffnet, wie es der Klappentext suggeriert, bleibt fraglich. Was nutzen Europawahrnehmung und -verständnis, wenn es am Willen zum gemeinsamen Handeln weitgehend fehlte? Welche langfristige Auswirkung hat ein „gelebtes Europa“ tatsächlich für die Entwicklung eines auch politischen Integrationsprozesses? Hier wären wir wieder beim Rückbezug auf Europa und seine Krisen heute. Pessimistisch gelesen warnt Greiners Studie, dass es trotz weitgehender Wahrnehmung europäischer Gemeinsamkeiten und Verbundenheit in der Wirtschaft und zentralen Bereichen moderner Gesellschaft und trotz eines ausgebildeten Bewusstseins der Notwendigkeit grenzübergreifender und kooperativer Problemlösungen zu einem vollständigen Verfall politischer Zusammenarbeit und zum Kollaps der europäischen Zivilisation in den 1930er-Jahren und im Zweiten Weltkrieg kommen konnte. Optimistisch gelesen mag man dagegen festhalten, dass der „imaginierte Kontinent“ vielleicht belastbarer ist als vermutet, wenn selbst auf dem Höhepunkt von Nationalismus, Krieg und Krise „Europa“ sag- und denkbar blieb und Zeitgenossen gerade in den Krisen einen Anstoß für die weitere Vertiefung von Europäisierungstendenzen sahen. Greiner spricht dabei von einer europäischen „Dialektik von Krise und Hoffnung“ (S. 222) und es mag dieser Tage manchem überzeugten Europäer etwas Trost geben, sich dieser Dialektik zu erinnern.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Ute Frevert, Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003; Hartmut Kaelble, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, sowie jüngst das Forschungsprojekt „Transatlantic Perspectives” am DHI Washington, <http://www.transatlanticperspectives.org> (17.03.2016).
2 Vgl. z.B. Ralf Roth / Karl Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009.