M. Pfaffentaler u.a. (Hrsg.): Räume und Dinge

Cover
Titel
Räume und Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
Pfaffenthaler, Manfred; Lerch, Stefanie; Schwabl, Katharina; Probst, Dagnar
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 38,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Ananieva, Queen Mary University of London

Der Sammelband „Räume und Dinge“ fokussiert zwei Forschungsfelder, die fachübergreifend eine bereits seit einiger Zeit anhaltende Aufmerksamkeit genießen. Durch den kulturwissenschaftlichen Impuls verstärkt, haben inzwischen sowohl Raumwissenschaften als auch Dingforschung einen festen Platz in der Forschungslandschaft für sich behaupten können. Dabei haben sie bis heute weder ihr interdisziplinäres Potential eingebüßt noch ihre impulsgebende Kraft für einzelne Fächer erschöpft, wovon laufend unter anderem zahlreiche Ankündigungen von Tagungen und Workshops zeugen.

Der Sammelband „Räume und Dinge“ geht ebenfalls auf eine solche kollektive Arbeitsform zurück. Die Publikation dokumentiert die Beschäftigung mit den beiden titelgebenden Themenfeldern, die von den Grazer Promovierenden initiiert und in Form einer internationalen Graduiertentagung im Sommer 2012 in Graz realisiert worden ist. Die Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes gewähren Einblick in die Gesprächswerkstatt von damals, deren selbsterklärtes Ziel lautete, Räume und Dinge „vor allem auch in ihren Verhältnisses und Beziehungen zueinander“ zu diskutieren (S. 13). Den offenen Charakter des Gesamtprojekts unterstreicht die in der Einleitung von Manfred Pfaffenthaler geäußerte Hoffnung, dass die in dem Buch versammelten Studien für weitere Diskussion über diese komplexen Wechselbeziehungen anregend sein werden. Auf einen Versuch, ein gemeinsames analytisches Rahmenkonstrukt oder einen beitragsübergreifenden Fragenkatalog zu entwerfen, verzichtet das Herausgeberteam. Die methodische und theoretische Standortbestimmung unternehmen die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes jeweils für sich selbst, sodass der Band in der Summe aller Beiträge einen sehr breit gefächerten Diskussionsstand abbildet. In der Einleitung zum Band wird die gewählte gemeinsame Themensetzung in Bezug auf die Schlüsseltexte der Raum- und Dingforschung nur ganz knapp abgesteckt; diesen einleitenden Bemerkungen folgt eine ausführliche Vorstellung von insgesamt 16 Fallstudien, die in dem Sammelband enthalten sind.

Die überwiegende Mehrzahl der Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes situiert ihre Studien im Feld der etablierten kulturwissenschaftlichen Raumforschung. Mit Blick auf politische und ästhetische Konstruktionen von realen und imaginären Räumen führen sie vor, dass im Zuge des „spatial turn“ ein reiches und flexibles Instrumentarium entwickelt worden ist. Dieses findet seine Anwendung bei der Untersuchung von geopolitischen Raumkonstruktionen im Zusammenhang mit den herrschaftlichen Praktiken der römischen Antike (Stefanie Lerch), der frühneuzeitlichen Reisekultur europäischer Eliten am Beispiel der Schweiz (Florian Schmitz) und der hebräischen Kolonisationsbewegung in Palästina des frühen 20. Jahrhunderts (Patrizia Gruber, Matthew Handelman). Diese unter der Kapitelüberschrift „Verhandlungsräume“ versammelten Studien analysieren historische Fallbeispiele von territorialer Machtausübung und bringen sie in Verbindung mit den jeweiligen historisch verankerten Fragen von Wissensordnungen und Wissensproduktion oder analysieren sie unter dem Gesichtspunkt der identitätsstiftenden und gemeinschaftsbildenden Erinnerungskultur. (Die Reihe dieser Fallbeispiele könnte innerhalb des Bandes bis in die Gegenwart verlängert werden, wenn man die Ergebnisse der Studie von Claudia Rückert zum neoliberalen Zugriff auf die städtischen Lebensräume in Graz aus dem letzten Buchabschnitt berücksichtigt.) Dingliche Objekte wie Münzen, Bilder, Schriftstücke oder Karten sind, wie die Studien dieses ersten Buchabschnitts zeigen, an den Prozessen der Raumkonstruktion beteiligt; eine explizite Reflexion ihrer spezifischen geopolitischen Funktion bzw. ihrer raumbildenden Effekte leistet allerdings keine dieser Studien.

Der Untersuchung von Strategien und Mitteln, die bei der Konstruktion von Räumen im Medium der Literatur zum Einsatz kommen, widmen sich die Beiträge des zweiten Buchabschnitts. Die drei unter der Überschrift „Ästhetische Räume“ versammelten literaturwissenschaftlichen Fallstudien beschäftigen sich mit Texten des 20. Jahrhunderts und zeigen insbesondere auf, wie räumliche Dimensionen in den fiktionalen Texten eines deutschsprachigen, eines französischen und eines britischen Autors entstehen und welche Funktionen die erzählten Räume erfüllen. So verwendet Joseph Roth die beschriebene räumliche Umgebung (Zimmer, Haus, Stadtplätze usw.) als ein bevorzugtes Mittel für die individualisierte Charakterisierung von Protagonisten. Seine literarisch erzeugten Raumbilder lassen auch die Bezüge zur vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnungen herstellen und wirken dadurch modellbildend in sozio-kultureller Hinsicht, wie Lukas Waltl mit Blick auf den Roman „Das Spinnennetz“ resümiert. Die Flüchtigkeit von Raumkonzepten entwickelt sich zu einer der zentralen poetologischen Kategorien in drei frühen Texten von Nathalie Sarraute („Tropismes I“, „Portrait d’un inconnu“ und „Le Planétarium“). In kritischer Auseinandersetzung mit der realistischen Schreibweise thematisiert sie, wie Astrid Wlach detailreich belegt, die Auflösung von öffentlichen und privaten Räumen, indem sie die Empfindung von Instabilität in den erzählten räumlichen Situationen (Wohnzimmer) evoziert. Mit einer strukturgebenden Bedeutung werden die Motive von Haus und Wohnung bei Ian McEwan versehen, wie Johannes Wally in seiner Analyse des Romans „Enduring Love“ zeigt. Das Atelier des Barockmalers Johann Carl Loth als Raum der Kommunikation und der Kunstproduktion wird im einzigen kunsthistorischen Beitrag dieses Buchabschnitts eingeführt, wobei das konkrete Beispiel der Studie im Venedig des 17. Jahrhunderts verortet ist. Der Beitrag ist künstlerbiografisch interessiert und bleibt es trotz der naheliegenden Fragestellung nach der Konstitution von Räumen im Bildmedium, analog zu den literarischen Räumen, oder einer potenziellen Untersuchung der Wechselverbindung von Bild und Raum beispielsweise in Hinblick auf ihre Materialität, Produktion, Funktion, Transferprozesse usw. In einem anderen Abschnitt des Buches findet sich dagegen eine Studie, in der sich Eva Klein ansatzweise mit diesen Fragen beschäftigt, indem sie die Plakatkunst um 1900 und ihre „ästhetischen Räume“ analysiert.

Der Komplexitätsgrad der Untersuchungen steigert sich in der zweiten Hälfte des Bandes, in der das titelgebende Begriffspaar „Räume und Dinge“ zunehmend in Verbindung zu einander gebracht und systematischer analysiert wird. Dabei sticht der literaturwissenschaftliche Beitrag von Nils Kasper hervor, der den dritten Buchabschnitt „Über Räume und Dinge“ eröffnet. Kasper nimmt sich die Textsorte der Zimmerreisen vor und bringt das raffinierte Spiel der Einbildungskraft, das für die Situation von imaginierten Raumdurchquerungen um 1800 grundlegend ist, in Verbindung zu dem geografischen Diskurs der Zeit. Aus der gegenseitigen Bezugnahme von Literatur und Kartografie, die Kasper u.a. in Hinblick auf Praktiken wie Flächenvermessung, Erstellung und Lektüre von Karten analysiert, bestimmt er ein Koordinatensystem der literarischen Zimmerreise, in dem die materielle Ausstattung eine entscheidende Rolle spielt. Möbel, Bücher, Kleidungsstücke dienen als Orientierungspunkte für die literarische Vermessung des bereisten Raums; zugleich werden die im Raum versammelten Dinge erst durch die Bewegung während der imaginären Reise in ihrer Gestalt und Bedeutung erzeugt. Eine umgekehrte Situation – eine durch den geografischen Raum in dinglicher Gestalt tatsächlich gereiste Sammlung von Schriftstücken – befindet sich im Mittelpunkt des Beitrages von Evelyn Knappitsch. Hier wird ein durchaus spannendes Ensemble aus einer eisernen Kassette, Gedichten und Briefen kurz vorgestellt, das von der Kaiserin Elisabeth von Österreich als eine Art „Zeitkapsel“ angelegt und für die Veröffentlichung im Jahr 1950 vorgesehen war. Man darf gespannt sein auf die weitergehende Untersuchung dieses in seiner Gesamtheit bislang weder analysierten noch publizierten Materials.

Die Bewegung der Dinge durch den Raum thematisiert auch die den Band abschließende Untersuchung von Manfred Pfaffenthaler, wenn er auch wesentlich größere dingliche Gegenstände – Eisenbahn und Automobil – in den Blick nimmt. Diese Studie zählt zu denjenigen, die auf eine überzeugende Weise die gegenseitige Konstituierung von Dingen, dingbezogenen Praktiken und sozialen wie geografischen Räumen thematisiert und sich durch einen historischen Zugang sowie durch konzeptuelle Klarheit auszeichnet. Zwei ebenfalls gut gelungene Beiträge, die methodische Perspektiven skizzieren, befinden sich in dem letzten Abschnitt des Bandes unter der Überschrift „Räumliche Ordnungen und Ordnung der Dinge“. Anamaria Depner setzt sich mit der Frage nach der materiellen Verankerung von Wohnräumen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auseinander. Von der neueren Raumsoziologie inspiriert, fokussiert die Autorin das Wohnen als eine spezifische Handlung, deren Routinen raumkonstituierende Folgen haben und im praktischen Umgang mit den Dingen realisiert werden. (Hier lassen sich interessante Parallelen zu dem oben vorgestellten literaturwissenschaftlichen Befund von Nils Kasper erkennen.) Mit Blick auf Raumproduktion beleuchtet Depner das Zusammenspiel von Dingen in ihrer materiellen Präsenz mit dingbezogenen Handlungen und fasst diese Wechselbeziehungen in einem konzeptuellen Entwurf zusammen. Die Operationalisierung von existierenden ding- und raumbezogenen theoretischen Zugängen für die geschichtswissenschaftliche Untersuchungen hat sich Wolfgang Gödele zur Aufgabe gemacht. In seinem Beitrag geht er der Frage der materiellen Dimension des Raumes nach, wobei er die österreichische Volkszählung von 1869 zur Analyse heranzieht. Er zeigt auf, dass das Konzept von „zirkulierenden Referenzen“ von Bruno Latour für die analytische Erfassung der Prozesse fruchtbar gemacht werden kann, die den ersten modernen Zensus der Habsburger Monarchie begleiten. Gödele erläutert, welche methodischen Aspekte der Akteur-Netzwerk-Theorie für den „Umgang mit der materiellen Dimension historisch-sozialer Wirklichkeiten“ (S. 299) als gewinnbringend betrachtet werden können. In seiner als „Experiment“ bezeichneten Studie (S. 317) demonstriert er, wie aus den schriftlich erfassten und in ein Zahlenwerk überführten Zetteldaten die Idee von der „Bevölkerung“ und ihrer geografischen Verräumlichung hervorgebracht wird.

Bei der Untersuchung von Wechselbeziehungen von Räumen und Dingen stellt man sich den Herausforderungen von fachübergreifenden Fragestellungen und komplexer internationalen Forschungslage. Der Sammelband „Räume und Dinge“ demonstriert das richtige Gespür der an der Publikation beteiligten Nachwuchswissenschaftlerinnen und –wissenschaftler für aktuelle methodische Diskussionen und innovative Zugänge, eine Fähigkeit, die gerade in der Promotionsphase wegweisende Bedeutung haben kann. Das inhaltliche Ungleichgewicht zwischen der größeren Anzahl der raumbezogenen Beiträge im Vergleich zu den dingbezogenen bzw. vergleichenden Studien wird von dem Herausgeberteam durchaus selbstdiagnostiziert (S. 13). Dieses Ungleichgewicht bildet in gewisser Weise jedoch auch den Forschungsstand von spatial turn und thing studies in dem deutschsprachigen Raum ab, wo das Interesse für die Dinge der akademischen Aufmerksamkeit für die Räume mit einem deutlichen zeitlichen Abstand gefolgt ist.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension