Cover
Titel
Vorbilder. Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland


Autor(en)
Hermand, Jost
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
310 S., 12 SW-Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Ploenus, Historisches Seminar, Technische Universität Braunschweig

Die intellektuelle Produktivität des in Madison/Wisconsin und Berlin lehrenden Kulturwissenschaftlers Jost Hermand, der im April seinen 85. Geburtstag feiert, ist beeindruckend. Und das nicht nur eingedenk der kaum zu überschauenden Fülle von Monographien, Aufsätzen und Herausgeberschaften – Hermand legt praktisch Jahr für Jahr (mindestens) einen neuen Band vor –, sondern vor allem in Bezug auf das weite Spektrum seiner Forschungsinteressen. Das verdient gehörigen Respekt und ist im heutigen hochspezialisierten Wissenschaftsbetrieb geradezu vorbildhaft.

Vorbilder sind denn auch das Thema seines 2014 erschienenen gleichnamigen Buches, das elf biographische Skizzen politisch links stehender Wissenschaftler aus Ost und West enthält, namentlich Richard Hamann (Kunsthistoriker), Werner Krauss (Romanist), Jürgen Kuczynski (Wirtschaftshistoriker), Wolfgang Abendroth (Politikwissenschaftler), Georg Knepler (Musikhistoriker), Hans Mayer (Germanist), Helmut Gollwitzer (Theologe), Robert Jungk (Futurologe), Walter Grab (Historiker), Hans Heinz Holz (Philosoph) und Werner Mittenzwei (Literaturwissenschaftler). Zusammengehalten wird die ebenso illustre wie disparate Schar, über deren Zustandekommen der Leser erst im knappen Schlusswort (S. 277) informiert wird, durch den eigenartigen Terminus „Partisanenprofessor“, mit dem einst Jürgen Habermas den Marburger Wolfgang Abendroth charakterisierte. Geprägt durch den antifaschistischen Kampf seien jene streitbaren Geister, so Habermas 1966, nicht nur in besonderer Weise politisch engagiert, sondern „unprätentiös und eigentümlich unberührt von professioneller Eitelkeit, Prestigedenken oder privatem Ehrgeiz“, ferner „naiv, und darum von entwaffnender Unerschrockenheit gegenüber institutioneller Autorität“1, mithin also eher unangepasste Außenseiter in einer Gesellschaft von Mitläufern. Damit ist der Tenor gesetzt, der auch das vorliegende Buch prägt.

Im einleitenden historischen, aber doch vielmehr kulturkritischen Abriss (S. 7–29) erläutert Hermand sein Verständnis von gesellschaftspolitischen Vorbildern mit Blick auf die Besonderheiten der jüngeren deutschen Geschichte respektive der deutsch-deutschen Teilungssituation. Ein Vorbild ist demnach ein Mensch, dessen Leitidee „weder der weltanschauliche freischwebende Individualist westlicher Prägung noch der linientreue, allen Beschlüssen des Zentralkomitees der SED folgende Parteigenosse [ist], sondern ein kritisch eingestellter Aufklärer, der trotz seines Engagements für eine politische und sozioökonomische Umgestaltung des gesamten Staatsgefüges keineswegs auf jene freiheitlichen und kulturellen Errungenschaften verzichten wollte, für die sich die progressiv eingestellten Bürger seit dem 18. Jahrhundert eingesetzt hatten“ (S. 22). Hermand beklagt den Bedeutungsverlust, ja das Verschwinden revolutionär gestimmter Geister aus öffentlichem Diskurs und Bewusstsein spätestens seit der „Wende“ von 1989. Während früher noch Bilder von Ernst Bloch, Ho Chi Minh oder Che Guevara in studentischen Wohnungen gehangen hätten, so seien es heute „fast nur noch Posters von irgendwelchen Beautiful People mit zum Selbstgenuß aufreizenden Gesichtern“ (S. 24).

Unverständnis zeigt er über repräsentative Umfragen, die „neben Jesus und John F. Kennedy vor allem Dieter Bohlen, Sean Connery, Prinzessin Diana, Bill Gates, Günther Jauch, Kurt Schumacher und Mutter Teresa“ herausstellten, „während sich frühere Geistes- und Kulturgrößen wie Karl Marx, Thomas Mann oder Bertolt Brecht, falls sie überhaupt auftauchten, in der üblichen Rangfolge mit Platz 104, 111 oder 150 begnügen“ müssten (S. 25f.). Eine Historisierung, Demokratisierung oder Diversifizierung von Vor- und Leitbildern vermag Hermand darin nicht zu erkennen, sondern vielmehr das Symptom einer weitgehend entpolitisierten Öffentlichkeit, die sich mit den Verhältnissen abgefunden habe und von gesellschaftlichen Alternativmodellen nichts wissen wolle. In diese Richtung geht denn auch seine Kritik am aktuellen akademischen Betrieb, dessen Mandarine (hier folgt er Bourdieu) mehr denn je systemimmanenten Sachverwaltern glichen, die vergessen hätten, was ein Professor im Sinne des Wortes eigentlich sein sollte, nämlich ein Bekenner. Als Bekenner aber müsse er ein theoretisch wie praktisch Eingreifender sein, da die mannigfaltigen Krisen des Kapitalismus „mit den Mitteln der momentan herrschenden Status-quo-Vorstellungen nicht zu bewältigen sind“ (S. 29). Man kann dagegenhalten: Mehr Systemkritik als heute war selten, auch wenn die von Hermand offenbar erhoffte Revolution darüber ausbleibt.

Vom aus dieser Kritik abgeleiteten und überzeichneten Idealtypus des engagierten Partisanenprofessors werden die anschließend Porträtierten geradezu erdrückt – und regelrecht entrückt. Als geistige und politisch-moralische Instanzen deklariert, die sich mit ganzer Kraft für die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse in die Bresche geworfen hätten, sind sie beinahe durchweg erstaunlich blutleer gezeichnet. Dabei ist jede dieser Biographien ein individueller Bildungsroman, der die großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts facettenreich bis in die Trivialitäten des alltäglichen Lebens hinein erzählt. Hermand aber hat sich, um es zuzuspitzen, für die Hagiographie entschieden. Selten erlaubt sich der Autor jenseits allgemeiner biographischer bzw. werk- und positionsbezogener Informationen einen anekdotischen Seitenblick, selten eine menschlich-allzumenschliche Nuance. Hans Mayers Eitelkeit, um nur ein Beispiel zu nennen, wird zwar en passant erwähnt – aber nicht, dass seine krasse Selbstbezogenheit bis zum regelrechten Empathieverlust reichen konnte.2 Keiner jener teilweise dezidiert kommunistischen Professoren erscheint zudem angekränkelt von den Auseinandersetzungen um das stalinistische Erbe, keiner, sofern er ihn erlebte, vom Epochenbruch 1989. Zuschreibungen wie standhaft, konsequent, unerschütterlich, kämpferisch oder unerschrocken durchziehen die einzelnen Essays. Hart geht der Autor als bekennender Linker mit Verhältnissen in der alten und neuen Bundesrepublik ins Gericht. Demgegenüber fällt seine Kritik an den Zuständen in der DDR vergleichsweise moderat aus. Abgesehen davon ist sein Text in jenen Momenten stark und eindrücklich, wo er Fachkontroversen nachzeichnet, die über die akademische Welt hinaus auf grundsätzliche gesellschaftspolitische Probleme verweisen und nicht nur in wissenschaftshistorischer Hinsicht anregend sind.

Überhaupt ist die Personalauswahl ein echtes Problem, das wegen der apodiktischen Vorbildetikettierung Fragen aufwirft. Ob gerade die versammelten ostdeutschen Gelehrten, ungeachtet ihrer jeweiligen akademischen Meriten, undifferenziert als rebellische Außenseiter in einer Gesellschaft von Mitläufern gelten dürfen, muss angezweifelt werden. Hier fehlen weiterführende Überlegungen zu prinzipieller Unangepasstheit und situationsbedingtem Opportunismus unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Da ist etwa der selbsternannte „linientreue Dissident“3 Jürgen Kuczynski, der in der DDR zwar gelegentlich aneckte, ohne dabei wirklich in existentielle Nöte zu geraten, zumal er mit Erich Honecker einen gewichtigen Freund und Fürsprecher hatte. Da ist ferner Werner Krauss, Mitglied im Parteivorstand der SED – ausgezeichnet mit DDR-Nationalpreis und Vaterländischem Verdienstorden, ebenso wie Georg Knepler. Wieso taugt ein Werner Mittenzwei als Vorbild, nicht aber ein unter Hausarrest gestellter Regimekritiker wie Robert Havemann, der, der Logik des Buches folgend, ein Partisanenprofessor par excellence war?4

Die Willkür der Auslese erklärt sich im Nachwort: Die Protagonisten haben individuelle Spuren in Hermands Leben hinterlassen. Lektüren, Begegnungen und Freundschaften waren ausschlaggebend für die Aufnahme. Doch fehlt dem Verfasser letztlich der Mut zum konsequent Autobiographischen. „Meine Vorbilder“ wäre der ehrlichere, weniger verbindliche, weniger Kritik auf sich ziehende Titel gewesen. Dann hätte Hermand auch seinen eigenen Weg zu und mit den Genannten farbiger, differenzierter, jedenfalls persönlicher erzählen können – jenseits der enervierenden klassenkämpferischen Attitüde. Das aber geschieht ansatzweise nur im Beitrag zu Richard Hamann. Im postheroischen Zeitalter wäre ein solches Vorgehen allemal glaubwürdiger gewesen. Und, durch die Brille des Didaktikers betrachtet, sogar unbedingt wünschenswert.

Bleibt als Fazit: Jost Hermand hat ein schwieriges Buch vorgelegt, an dem man sich nur reiben kann. Es regt an, gleichermaßen über die Notwendigkeit von Vorbildern wie über die Ambivalenzen von Lebenswegen im 20. Jahrhundert nachzudenken. Die gegebenen Antworten und namentlichen Vorschläge sollte man indes nicht unkritisch teilen.

Anmerkungen:
1 Jürgen Habermas, Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer. Der Marburger Ordinarius Wolfgang Abendroth wird am 2. Mai sechzig Jahre alt, in: ZEIT, 29.04.1966, <http://www.zeit.de/1966/18/partisanenprofessor-im-lande-der-mitlaeufer/komplettansicht> (04.03.2015).
2 Vgl. Fritz J. Raddatz, Tagebücher. Jahre 1982–2001, Reinbek 2010, passim.
3 Vgl. Jürgen Kuczynski, Ein linientreuer Dissident. Memoiren 1945–1989, Berlin 1994.
4 Siehe jüngst etwa Alexander Amberger, Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Paderborn 2014.