Cover
Titel
24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus


Autor(en)
Crary, Jonathan
Erschienen
Anzahl Seiten
108 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hannah Ahlheim, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August Universität Göttingen

„Nichts ist mehr richtig ‚aus‘.“ (S. 18) Inzwischen fallen zwar sogar unsere technischen Geräte regelmäßig in einen „sleep“-Modus. Doch auch der ist letztlich ein aktiver Zustand, aus dem das Ding jederzeit zur Nutzung geweckt werden kann. Ähnlich funktioniere auch das Individuum in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts: auf Abruf immer arbeits- und konsumbereit, weckbar, nutzbar, dabei vereinzelt und seiner „menschlichen Zeit“ beraubt – diesen Eindruck vermittelt der New Yorker Kulturtheoretiker Jonathan Crary in seinem Essayband „24/7“. Crary prophezeit mit dem Ende des Schlafs in der dauerwachen Welt der Gegenwart damit letztlich das Ende einer menschlichen Welt.

Die Grunderzählung, die Crary in vier scharf formulierten Essays entfaltet, ist eine bedrohliche Verlustgeschichte, die in der postmodernen Gesellschaft der letzten drei Jahrzehnte spielt. In dieser kurzen Zeit habe sich der „unerbittliche Rhythmus des Technikkonsums“ entwickelt (S. 42), der die Gesellschaft verändert und das Individuum selbst „finanzialisiert“ habe. Die ständige Sehnsucht nach den Versprechen neuer Produkte, die „endlos, stets unerfüllt“ bleibe (S. 32), lasse keine Zeit mehr, mit diesen Dingen so vertraut zu werden, dass sie „zu einem bloßen Hintergrundelement des persönlichen Lebens“ würden (S. 42). Immer neue „Anwendungsmöglichkeiten und Leistungsmerkmale“ stünden im Vordergrund (ebd.), Inhalte spielten keine Rolle mehr, gemeinsames Erleben werde in der „wuchernden Bedürfnisproduktion der Konsumgesellschaft“ (S. 63) durch Vereinzelung ersetzt.

Entscheidend sei dabei nicht so sehr die Dominanz der Dinge, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese Welt durch ständigen gleichbleibenden Fluss sowie den Verlust von Pausen und Stillstand gekennzeichnet sei. Der Slogan „24/7“ propagiere „eine Zeit ohne Zeit, eine Zeit, die aus allen materiellen oder bestimmbaren Umgrenzungen herausgelöst ist, eine Zeit ohne Abfolge oder Wiederholung“ (S. 31), eine ewig gleiche Welt ohne Alternativen. Die Rhythmen des Lebens, das Auf und Ab der Natur und des Alltags müssten verschwinden in dieser Welt; für die „Schwäche und Unzulänglichkeit menschlicher Zeit, ihre diffusen und verschlungenen Strukturen“ sei in der globalen Rund-um-die-Uhr Gesellschaft kein Platz mehr (ebd.). Die Welt des 21. Jahrhunderts sei damit eine „entzauberte Welt“, eine „mit sich identische Welt, eine Welt mit der denkbar oberflächlichsten Vergangenheit, im Grunde also eine Welt ohne Gespenster“ (S. 23).

Die auf Dauer gestellte Veränderung sieht Crary dabei als genuines Merkmal des entwickelten Kapitalismus. Schon Marx, referiert er, habe die „beständige Kontinuität des Prozesses“ beschrieben (S. 58). Im Finanzkapitalismus werde Wert ohne Pause umgewandelt – in Geld, in Ware, in Tauschwert, in Gebrauchswert und wieder zurück. Doch trotz der zahlreichen Entwicklungen, die sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, sieht Crary am Ende des 20. Jahrhunderts eine neue, die „spätkapitalistische“ Epoche angebrochen. Die vorangegangenen eineinhalb Jahrhunderte der Moderne ließen sich beschreiben als „die hybride und dissonante Erfahrung, gelegentlich in modernisierten Räumen und Rhythmen zu leben, sich aber gleichzeitig in den sozialen oder natürlichen Restbeständen vorkapitalistischer Lebenswelten aufzuhalten“ (S. 58). In dieser Welt hätten sich zwar die von Michel Foucault beschriebenen „Disziplinarinstitutionen“ etabliert, doch daneben habe es auch jede Menge „nicht verwalteten“ Lebens gegeben (S. 60). Eben diese Restbestände, zu denen auch der Schlaf gehöre, seien nun im Dauerlicht von „24/7“ bedroht, die private Sphäre löse sich auf.

Anders als etwa von Gilles Deleuze angenommen, habe die durch das Schließen von Lücken und Freiräumen entstandene „Kontrollgesellschaft“ die „Disziplinarinstitutionen“ jedoch nicht abgelöst, sondern ergänze sie auf perfide Weise. Crary verweist hier auf die konkrete politische Gewalt, die auch durch Schlaf oder im Schlaf ausgeübt werden kann. So nutze das militärische und politische System der USA, das etwa im Rahmen der „Operation Gorgon Stare“ auf die immer wache Leistung technischer Lenkdrohnen setze und in Afghanistan gezielt während der Nacht Angriffe fliege, die „Vulnerabilität“ der schlafenden Gesellschaft. Damit würden die „in Abu Ghraib und Guantánamo entwickelten psychologischen Techniken“ der Folter auf eine breitere Bevölkerung angewendet, resümiert Crary (S. 34).

Sein Band ist eine Anklageschrift, ein Versuch, auch in der dauerwachen Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts noch wachzurütteln. Die Redundanzen des Textes und einige rasche, vielleicht überspitzte Formulierungen sind der Tatsache geschuldet, dass Crary den in der Öffentlichkeit meist lediglich als gesundheitliches Thema behandelten Schlaf überhaupt erst einmal der Sphäre des Privaten entreißen und als gesellschaftlich relevantes, als ökonomisches, als politisches Phänomen vorstellen muss. Und das gelingt ihm: Die gut lesbaren Texte zeigen überzeugend den engen Zusammenhang von scheinbar privatem Leben, von Ökonomie, Medien, Politik und alltäglichen Konsumgewohnheiten. Der Band steht damit in einer Reihe von in den letzten Jahren erschienenen (von Crary allerdings ausnahmslos ignorierten) Arbeiten, die das Schlafen in der modernen Gesellschaft als Gegenstand der Soziologie, der Politikwissenschaften, der Anthropologie und der Geschichte entdeckt haben.1

„24/7“ ist jedoch ein politischer Essay wie auch ein Zeitdokument, das die longue durée mentalitätsgeschichtlicher Phänomene belegt. Gerade in den Begriffen, die Crary wählt, um die Spezifika des frühen 21. Jahrhunderts zu fassen, wird deutlich, dass sein Buch in einer längeren Tradition der Modernekritik steht. Der neue „Rhythmus“ des kapitalistischen Zeitalters wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts heiß diskutiert. Der Traum vom schlaflosen Soldaten und Arbeiter sowie die Angst vor dem Verlust des Schlafes prägten die Schlafdebatten der 1930er- und 1940er-Jahre. Die Warnung vor der gleichmachenden Wirkung neuer Massenmedien ist ebenfalls nicht erst vor kurzem aufgekommen. Auch die Sehnsucht danach, dass doch alles einmal „richtig ‚aus‘“ sein müsse, lässt sich in ähnlicher Form bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert finden.

Diese auffallenden Parallelen zur Geschichte des späten 19. und 20. Jahrhunderts stärken aber letztlich das Argument eines engen Zusammenhangs von Schlaf, Zeitrhythmen und der Entwicklung der modernen, kapitalistischen Gesellschaft. Nachzuhaken und weiterzudenken wäre an anderer Stelle. An wenigen Punkten seines Büchleins verweist Crary darauf, dass der Schlaf bei aller Verwundbarkeit auch eine „Situation“ sei, „die von außen letztlich nicht kontrolliert oder instrumentalisiert werden kann – die den Forderungen der globalen Konsumgesellschaft also entgeht oder widersteht“ (S. 27). Dennoch nimmt Crary die vollkommene Durchdringung der Gesellschaft, das Schließen jeder Lücke für privates und alternatives Leben im frühen 21. Jahrhundert über weite Strecken als gegeben an. Dabei verweisen zahlreiche Friktionen, gewaltsame und soziale Konflikte, Aussteigerphantasien sowie nicht zuletzt die wachsende Angst vor dem Verlust des Schlafs auch auf Gegenbewegungen.

Am Ende macht Crary die Widerspenstigkeit des Schlafs einmal explizit: Er formuliert den Traum von einer „gemeinsamen Welt, deren Schicksal nicht besiegelt ist, einer Welt ohne Milliardäre, deren Zukunft eine andere ist als Barbarei oder das Posthumane, einer Welt, in der Geschichte nicht zum Alptraum oder zur Katastrophe wird“. „Es könnte sein“, formuliert Crary auf der letzten Seite, „dass – an den verschiedensten Orten, in allen möglichen Zuständen – die Vorstellung einer Zukunft ohne Kapitalismus in Gestalt von Träumen im Schlaf beginnt.“ (S. 106f.) Man kann dieses Ende wie Thomas Thiel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als „Traumkitsch“ begreifen, der zur „Flucht aus dem Dilemma“ nicht tauge.2 Crary dagegen würde hier vielleicht ein „Gespenst“ am Werk sehen, das sich scheinbar unproduktiv gegen die Logik der „entzauberten Welt“ stemmt.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Matthew J. Wolf-Meyer, The Slumbering Masses. Sleep, Medicine, and Modern American Life, Minneapolis 2012; Simon J. Williams, The Politics of Sleep. Governing (Un)Consciousness in the Late Modern Age, Basingstoke 2011.
2 Thomas Thiel, Rund um die Uhr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.2014, Literaturbeilage, S. L 22.