S. Günzel u.a. (Hrsg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch

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Titel
Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch


Herausgeber
Günzel, Stephan; Mersch, Dieter
Erschienen
Stuttgart 2014: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
VII, 484 S., 27 Abb.
Preis
€ 64,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Probst, Institut für Politikwissenschaft, Philipps-Universität Marburg

Bilder enthält der Sammelband „Bild.“ auffallend wenige. Sieht man die Anthologien und Nachschlagewerke durch, von denen der Iconic Turn interessanterweise von Anfang an begleitet gewesen ist, dann kann die beinahe anikonische Ausstattung dieses von den Medientheoretikern Stephan Günzel und Dieter Mersch 2014 herausgegebenen, absolut verdienstvollen Handbuches zu dessen Beurteilung durchaus ein weiterführender Anhaltspunkt sein. Inhaltlich und konzeptuell verwandte Publikationen waren teils mit überraschenden Abbildungen versehen.1 Bebilderungen dieser Art sollten vermitteln, das die besondere Bedeutung von Bildforschung immer auch in einer gesteigerten Wachsamkeit für ungewöhnliche oder unkanonische Objekte und Motive liegt; zugleich ist das scheinbar Vertraute wieder und wieder einer Revision zu unterziehen. Über das Bild und die Bilder nicht nur neu oder anders nachzudenken, sondern das Denken und Wissen durch den vertieften analytischen Umgang mit dem Visuellen grundsätzlich zu erweitern, war durch den Gehalt an Bildern in früheren Einführungen in die Bildwissenschaft als der spezifische Geist des Iconic Turn erlebbar. Verblüffungen durch Forschungsgegenstände, die zuvor eines nur semiotischen Zugangs zum Bild wegen übersehen oder durch ein nur ästhetisches Kunst- und Bildverhältnis aller weiteren Beschäftigung damit als unwert empfunden wurden, transportierten auch eine politische Botschaft: durch das geschulte und sensibilisierte Auge ein wirksamer ideenhistorischer Kontrast zu sein – mit dem Effekt, das Denken bei seinen Eigendynamiken im Umgang mit den Phänomenen zu ertappen, eine kritische Distanz zu Theorien, Ideologien oder Paradigmen zu trainieren, scheinbar zwingende Diskurse wieder aufzubrechen und damit letztlich auch die Phänomene und Objekte selbst wieder arbeiten zu lassen.

Folgt man dem neuen Handbuch von Günzel und Mersch, das die seit rund 20 Jahren sich etablierende Bildwissenschaft zu synthetisieren sucht, dann stellt dieser ideologie- und ideenkritische Mehrwert der Bildforschung jedoch nur einen von vielen Diskursen über das Bild dar. „In der Art der Behandlung […], mit der sich im Einzelnen dem Phänomen ‚Bild‘ angenommen wird, offenbaren sich wiederum die jeweiligen Diskursschulen“, heißt es im einleitenden Kapitel über die „Grundlagen“ der Wissenschaften vom Bild (S. 3). Der auffällige Verzicht auf eine Visualisierung der schieren Vielfalt an epistemologisch, wissenschaftsgeschichtlich, kultur- und ideengeschichtlich weiterführenden neuen Forschungsgegenständen, die sich aus der Frage nach dem Bild für die Geistes- und Naturwissenschaften ergeben hat, eine Dokumentation der Rahmenerweiterung, die sich mit der Bildforschung gegenüber der Semiotik oder einer nur ästhetisch orientierten Kunstwissenschaft immer schon verbindet – dieses Fehlen einer solchen Optik macht bereits eine Orientierung des Buches auf die Dokumentation und Rekonstruktion von Diskursen deutlich. Der Band diskutiert „unterschiedliche Bildbegriffe und ihre Etymologien“, „Kernkonzepte und terminologische Grundlagen“, „die Vielfalt der Methoden in der Bildtheorie von der Semiotik und Hermeneutik über die Anthropologie bis zur Dekonstruktion“ und „zentrale Begriffskonstellationen […], die für die gegenwärtigen Bildtheorien ausschlaggebend sind“; zudem werden „Einzeldisziplinen mit Blick auf ihre bildwissenschaftliche Relevanz befragt“ (Vorwort, S. VII). Doch auch in dem ausführlichen Abschnitt über die „Geschichte der Bildmedien“ mit seinen 19 Teilkapiteln kommen Bilder – als dieses Panorama der einander nicht selten widersprechenden Zugänge und Methoden ja letztlich verursachende Quellen – nur äußerst selten vor.

Mit der Frage nach dem Bild verbindet sich zweifellos auch die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit so vieler und so divergenter Diskursschulen. Aus dieser Perspektive allerdings ist die Überlegung, in den die gesamte Religions- und Philosophiegeschichte begleitenden Bildtheorien bestimmte Arten der „Behandlung“ von Bildern zu sehen, merkwürdig undramatisch. Von Bildern geht eine Irritation aus, deren Bewältigung die selbstgestellte Aufgabe des Iconic Turn bei der Konfrontation mit der „Bilderflut“ oder „Überproduktion der Bilder“ (S. VII) in den 1990er-Jahren gewesen ist. In dieser Form wäre dem Versuch der philosophischen, politischen oder gar juristischen Kontrolle über die Macht der Bilder in der Ideengeschichte der Bildwissenschaft bis an seine Anfänge und in allen seinen Erscheinungsweisen nachzugehen – denn gewiss ist der Iconic Turn nicht der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Bild, wie der Klappentext von „Bild.“ es behauptet. Die von Günzel und Mersch gemeinsam mit über 60 weiteren Autorinnen und Autoren geleistete Diskursgeschichte des Bildes in ihren Begründungszusammenhängen und in ihrer Bilderarmut ist auch umzudrehen und die wiederkehrende herausfordernde Verwirrung durch das Sinnenhafte als Beweggrund des nicht zu befriedigenden Diskurses über das Bild aus dem Bild heraus zu verfolgen.

Das intellektuell faszinierende, argumentativ äußerst dichte, methodisch souveräne und gerade deswegen grundsätzliche kritische Betrachtungen erlaubende Handbuch schreibt trotz oder gerade wegen seiner Grundlage, die Macht des Bildes als Macht des oder der Diskurse zu begreifen, eine Leerstelle fort, die schon in Gottfried Boehms kanonisch gewordener Anthologie „Was ist ein Bild?“ von 1994 markant erscheint – die Auslassung des Politischen. Natürlich finden sich in den einzelnen Beiträgen, zum Beispiel in dem sehr lesenswerten Abschnitt über „Materialitäten und Praktiken“ von Marcel Finke (im Kapitel „Grundlagen“), Blicke auf die „Bilderfrage […] als eine politische Frage“ (S. 31). Auch der mediengeschichtliche Block stellt sich in Abschnitten über „Kultbilder, Trugbilder und Bilderverbot“, „Metabilder und Avantgarde“ oder „Fernsehen, Video und Serie“ mit Seitenblicken den politischen Aspekten der Bildgeschichte – auch der wieder und wieder daraus hervorgehenden „Kulturrevolution“ (S. 239). Umso gravierender fällt ins Auge, dass die Abteilung „Bildwissenschaften“ in dem Buch sogar das Verhältnis der Mathematik oder der Musikwissenschaften zum Bild vorstellt, die Politikwissenschaft aber nicht explizit berücksichtigt (und ebensowenig die Geschichtswissenschaft, sondern lediglich die Kunstgeschichte). Rückblickend ist es ein Statement, dass Gottfried Boehm in die von ihm 1994 versammelten Fragen nach dem Bild die ab den 1970er-Jahren durch Martin Warnke oder Reinhart Koselleck betriebene politische Ikonographie nicht aufgenommen hat. 2014 mögen Günzel und Mersch in ihrem Sammelband darauf verzichtet haben, weil die Diskursanalyse das Politische und dessen Geschichtlichkeit immer schon einschließt. Die Spezifik und Dichte des Kreises politischer Bilder würde deren Fokussierung in einem Handbuch zur Bildwissenschaft allerdings dringend erfordern. In diesem Punkt erweist sich besonders deutlich, dass nicht die Bildgeschichte, sondern die Geschichte der Bildtheorien den Herausgebern des Handbuches „Bild.“ die Hand geführt hat.

Dass der sensibelste Teil des Bandes, der Rückblick auf den Iconic Turn und die vergangenen rund 25 Jahre Bildforschung in Deutschland (seit den ersten Veröffentlichungen von Hans Belting, Horst Bredekamp, Gottfried Boehm und W.J.T. Mitchell ab Anfang der 1990er-Jahre), Beat Wyss angetragen wurde, ist ein weiterer deutlicher Hinweis auf die diskursgeschichtliche Ausrichtung des neuen Standardwerkes. Vor allem auf diesen Seiten des Beitrages von Wyss („Die Wende zum Bild: Diskurs und Kritik“) findet der Standpunkt, Bilder nicht für sich genommen als „Corpus Delicti“, sondern nur durch Kontextualisierung „im Prozess der Kommunikation“ (S. 10) erforschen zu können, seinen stärksten Ausdruck. Wyss schließt mit der überscharfen, für Handbücher eigentlich ungeeigneten polemischen Spitze, der „tonangebenden Bildwissenschaft“ eine Tendenz zum „Antirationalismus“ oder „Antiphilosophischen“ (S. 12) nachzusagen und schließlich die historisch schwer zu leugnende „Objektmagie als intellektuellen Kitsch“ (S. 13) zu deklarieren, an Positionen seines im Jahr 2000 formulierten Artikels über „Das indexikalische Bild“ an.2 Dieser Text war seinerzeit wegen der darin systematisch vorgetragenen Unterschätzung der epistemologischen Prämissen des Iconic Turn weitgehend wirkungslos. Wyss ist seiner Haltung durch die Rückkehr zu dieser Intervention von 2000 im jetzigen Überblickswerk treu geblieben.

Unter den zahlreichen, für ihre Expertise und Differenzierungsbereitschaft durchweg im Einzelnen würdigenswerten Beiträgen des Sammelbandes „Bild.“ ist Wyss' Statement aber der einzige Missgriff. Das Ziel einer Geschichte und Überschau der Bilddiskurse ist in dem Handbuch vollendet gelungen. Die Tiefenschärfe der Reflexionen und die Unterscheidung so vieler verschiedener Einzelfragen der Bildtheorie sind beeindruckend. Stephan Günzel und Dieter Mersch haben ein Kompendium vorgelegt, das zur Geschichte und Gegenwart des Denkens über Bilder nahezu umfassend Auskunft gibt. Daher versteht sich der seltsame Punkt im Titel des Bandes „Bild.“ nicht als Schlusspunkt, sondern als Point of no Return: Es ist unmöglich, in Fragen der Bildtheorie hinter die Präzision und das Problembewusstsein dieses Handbuches zurückzugehen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 4. Aufl. 2006; Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt am Main 2005; Horst Bredekamp / Birgit Schneider / Vera Dünkel (Hrsg.), Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008; Matthias Bruhn, Das Bild. Theorie – Geschichte – Praxis, Berlin 2009.
2 Beat Wyss, Jenseits der Fotografie. Das indexalische Bild. Hors-texte, in: Fotogeschichte 76 (2000), S. 3-11.