C. Borck u.a. (Hrsg.): Das psychiatrische Aufschreibesystem

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Titel
Das psychiatrische Aufschreibesystem. Notieren, Ordnen, Schreiben in der Psychiatrie


Herausgeber
Borck, Cornelius; Schäfer, Armin
Erschienen
München 2015: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Patrick Bühler, Pädagogische Hochschule FHNW, Windisch

Friedrich A. Kittlers berühmte Studie, seine 1985 publizierte, damals heftig umstrittene Habilitationsschrift „Aufschreibesysteme“,1 entlehnte ihren Titel bekanntlich Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ (1903): „Das Wort Aufschreibesystem, wie Gott es der paranoischen Erkenntnis seines Senatspräsidenten Schreber offenbarte, kann auch das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichnen, die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.“2 Dass der Fall des Senatspräsidenten selbst, der lange Jahre in psychiatrischen Anstalten zubrachte, eine „Speicherung und Verarbeitung“ erreichte, die weit über das übliche Maß einer Krankenakte hinausging, lag nicht zuletzt an Sigmund Freuds Analyse der „Denkwürdigkeiten“, seinen „Psychoanalytischen Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)“ (1911).3 Der von dem Medizinhistoriker und Medizinphilosophen Cornelius Borck und dem Literaturwissenschaftler Armin Schäfer herausgegebene Band holt nun gewissermaßen das Aufschreibesystem nach Hause, zurück in die Klinik.

Der überzeugende Sammelband dieser beiden ausgewiesenen Kenner der Materie untersucht die psychiatrischen „Techniken und Verfahren des Notierens, Beobachtens, Schreibens und Verarbeitens“.4 Ist die Analyse solcher „Verfahren“ an sich schon lohnenswert, scheint sie für das Studium der Psychiatriegeschichte geradezu unerlässlich, da diese „Techniken“ am Ende des 19. Jahrhunderts zum „implizite[n] Kern der psychiatrischen Methodenlehre“ wurden: „Sie konstruierten psychiatrische Erkenntnisobjekte und strukturierten nicht zuletzt den Alltag der Klinik.“ Die „Verfahren und Techniken“ sollten eigentlich dabei helfen, „die klinische Forschung auf eine sichere Grundlage zu stellen“. Nur war es gerade dieser Versuch, der immer wieder drohte, „die klinischen Einheiten aufzulösen“, wie die beiden Herausgeber in ihrer knappen, konzisen und kenntnisreichen Einleitung hervorheben: „Das psychiatrische Aufschreibesystem war die Keimzelle einer Produktivität, die untergrub, was sie garantieren sollte“, ohne dass dadurch die „Produktivität“ selbst gebremst wurde – im Gegenteil, bis heute ist es die „diagnostisch-methodische[] Absicherung“, die „den Selbstlauf des psychiatrischen Aufschreibesystems“ vorantreibt (S. 7, 17, 18, 22, 25).

Kittler folgend konzentrieren sich die meisten Beiträge auf die Zeit um 1900, als ein neues psychiatrisches Aufschreibesystem ,aufgeschaltet‘ wurde. Zweifelsohne ist der Band für die Psychiatriegeschichte von ganz besonders großem Belang, seine Bedeutung reicht jedoch weit über die Grenzen dieser Disziplin hinaus. Denn im fin de siècle verließ die Psychiatrie sozusagen die Anstalt und es kam – wie nicht zuletzt die gut erforschte Geschichte von Hysterie, Nervosität und Neurasthenie zeigt – zu einer Art allgemeinen Psychopathologisierung der Gesellschaft. Der rasante „Aufstieg von Psychologie und Psychotherapie zu zentralen Wissens- und Praxisformen säkularer Selbsterforschung“ begann.5

An Sophie Ledeburs Untersuchung, die dem psychiatrischen Stenographieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewidmet ist, lässt sich gut eine der grundlegenden Thesen Kittlers und des Bandes studieren, dass nämlich Hermeneutik nichts als ein Effekt von Medien sei. So versprach Stenographieren „Schnelligkeit, Präzision, Unmittelbarkeit, Objektivität“ (S. 30); einige Psychiater drängten sogar auf „phonographische Aufzeichnung[en]“: „Nur diese vermöge[n] komplizierte, stereotype oder vollkommen zusammenhangslose Reden getreu festzuhalten.“ (S. 35) Dieses „Streben nach einem lückenlosen Abbilden“ brachte jedoch vor allem „die Unvollkommenheit der Versuchsanordnung ans Licht“ (S. 43) und führte dazu, dass das Notieren durch einen Stenographen, der auch eine Reinschrift anfertigte, und das Deuten durch einen Psychiater neu auf zwei Personen verteilt wurde. „,Objektiv‘ ermittelte Tatsachen und deren Deutung“ waren jedoch nicht nur deswegen „nicht mehr deckungsgleich“, sondern auch weil durch das akribische Protokollieren selbst ein neues „hermeneutisches Verständnis“ produziert wurde. So führte die unübersichtliche Menge von Protokollen dazu, dass diagnostisches „Filtern“ spätestens nach dem Ersten Weltkrieg „zu einer genuinen Aufgabe“ der psychiatrischen Experten avancierte (S. 49f.)

Auf besonders elegante Weise stellt Volker Hess die zunächst einleuchtende These auf den Kopf, dass es der „Mangel an harten Fakten“ (Laborbefunde etc.) in der Psychiatrie sei, der den psychiatrischen Krankenakten ihre Bedeutung verleihe. Im Gegenteil kommt es Hess zufolge gerade zur ,Geburt der Psychiatrie aus dem Geiste der Akte‘: „Am Anfang aller Psychiatrie“ stünden „Akten und Registratur“, die Akte sei „nicht Folge, sondern epistemologische Voraussetzung psychiatrischen Erzählens“. Dabei nahm die Aktenführung in der Küche ihren Anfang. Um 1800 „war die tägliche Verpflegung der größte Kostentreiber“: „Die penible Auflistung des Verbrauchs“ war die Grundlage für die Bilanz der preußischen Krankenhäuser (S. 56f.). Außerdem trugen Gerichtsstuben als zweites Moment zur Entstehung der psychiatrischen Krankenakte bei, da „die Wahrung der persönlichen Freiheitsrechte“ um 1800 zur Aufgabe des Staates wurde: Der geistige Zustand eines Patienten musste vom Gericht beglaubigt werden. Die „Verankerung“ des „bürgerlichen Freiheitsbegriffs“ ging somit, wie Hess detailliert zeigt, in „die Institutionalisierung der modernen Anstaltspsychiatrie ein“, die „Institutionalisierung der Psychiatrie vollzog sich mit dem Aufbau eines juristischen, bürokratisch organisierten Verfahrens“ (S. 58, 60f.).

Wie Krankenakten als Relais zwischen verschiedenen Disziplinen funktionierten, untersuchen Petra Fuchs und Wolfgang Rose. So erlauben Akten der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation der Charité aus den 1920er-Jahren einen wertvollen Einblick in „die methodische Praxis der wechselseitigen Zusammenarbeit zwischen Psychiater und Heilpädagogen“ (S. 135). Die Beobachtungsstation war vor allem für sogenannte psychopathische Kinder eingerichtet worden, die auch von einer „Erzieherin“ betreut wurden, die umfangreiche „Berichte“ verfasste, die Teil der Krankenakten wurden. Fuchs und Rose zeigen, dass diese pädagogischen Beobachtungen von entscheidender Bedeutung für die Arbeit der Psychiater waren (S. 149). Die „Berichte“, die sich auf pädagogische Einflussmöglichkeiten konzentrierten, führten auch dazu, dass die unter Ärzten dominierende anlagebedingte Vorstellung von Psychopathie einem neuen Modell wich, „das von der unauflösbaren Wechselbeziehung zwischen Anlage und Umwelt ausging und eine Vielzahl therapeutischer Möglichkeiten eröffnete“ (S. 152). Gewissermaßen ging die Psychiatrie also bei der Heilpädagogik in die Schule und lernte, dass auch Kinder, die als psychopathisch galten, durchaus etwas lernen konnten.6

Der Band versammelt darüber hinaus Beiträge zur Funktion von Tabellen und Kurven bei Schock- und Krampftherapien (Max Gawlich), zur ,Verarbeitung‘ eines Patienten „innerhalb eines Zeitraumes von sechs Wochen zu einem Fall von Doppelbewusstsein“ (S. 116, Johannes Kassar), zur – eine andere Art von Doppelbewusstsein – Nähe Emil Kraepelins und Sigmund Freuds bei ihrem Versuch, „eine psychologische Fundierung der Psychiatrie“ zu erreichen (S. 134, Birgit Stammberger), zu Zeitungsausschnitten als „Realitätstest“ in der Psychiatrie (Sonja Mählmann), zu „Graphomanie“ als Symptom von Wahnsinn (Rubert Gaderer), zur Bedeutung von Lebensgeschichten, die Patientinnen und Patienten oft abfassen mussten (Sophia Könemann), zum im psychiatrischen Aufschreibesystem schlecht aufschreibbaren Autismus (Novina Göhlsdorf) und zur Beeinflussung der Klinik durch die „Führung und Verwendung von Patientendossiers“ (S. 246, Marietta Meier). Der rundum empfehlenswerte Band ist nicht nur thematisch von breitem Interesse, sondern auch methodisch. Schließlich verarbeiten nicht nur Kliniken Daten, sondern etwa auch Armeen, Betriebe, Gefängnisse, Verwaltungen – und Schulen.

Anmerkungen:
1 Die Zeitschrift für Medienwissenschaft hat „in memoriam Friedrich Kittler“ die Gutachten veröffentlicht. Zeitschrift für Medienwissenschaft, 6 (2012), 1, S. 114–192, <http://e-text.diaphanes.net/doi/10.4472/zfmw.2012.0007> (14. Juli 2016).
2 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, vierte vollständig überarbeite Neuauflage, München 2003, S. 501.
3 Sigmund Freud, „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)“, in: ders., Gesammelte Werke, 8. Band, London 1955, S. 239–320.
4 Von Cornelius Borck ist gerade eine äußerst lesenswerte „Einführung Medizinphilosophie“ erschienen. Cornelius Borck, Medizinphilosophie zur Einführung, Hamburg 2016. Zu Wahn und Aufschreibesystem vgl. Armin Schäfer, „Literatur im Aufschreibesystem von 1900 ist ein Simularcum von Wahnsinn.“ Anmerkungen zu einer These von Friedrich Kittler, in: Metaphora. Journal for Literary Theory and Media, 1, <http://metaphora.univie.ac.at/volume1-schaefer.pdf> (14. Juli 2016).
5 Maik Tändler / Uffa Jensen, „Psychowissen, Politik und das Selbst. Eine neue Forschungsperspektive auf die Geschichte des Politischen im 20. Jahrhundert“, in: dies. (Hrsg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 9–35, hier S. 17. Vgl. auch die Rezension des Bands von Brigitta Bernet in: H-Soz-Kult, 19.11.2012, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19126> (14. Juli 2016).
6 Die Monographie der Autoren zum Thema ist gerade erschienen: Wolfgang Rose / Petra Fuchs / Thomas Beddies Thomas, Diagnose „Psychopathie“. Die urbane Moderne und das schwierige Kind. Berlin 1918–1933, Wien 2016.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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